Storch fliegt auf eine Gruppe von Weißstörchen im Feld zu. Foto: Christian Ziegler. Copyright: MaxCine, Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell
Storch fliegt auf eine Gruppe von Weißstörchen im Feld zu. Foto: Christian Ziegler. Copyright: MaxCine, Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell

Störche im Aufwind

Wissenschaftler können vorhersagen, welche Störche im Herbst nach Afrika ziehen und welche in Europa bleiben

Für den kleinen Louis ist es der bislang aufregendste Tag seines Lebens: Sechs oder sieben Wochen zuvor hat der Jungstorch auf einer Birke in Radolfzell am Bodensee das Licht der Welt erblickt. Bis zu diesem Tag im Juni 2014 kennt er lediglich seine Eltern und seine drei Geschwister. Nun aber tauchen plötzlich noch nie gesehene Wesen am Horst auf und bringen winzige Sender an den vier kleinen Weißstörchen an. Es sind Andrea Flack und Dr. Wolfgang Fiedler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie und der Universität Konstanz. Von Louis und anderen Jungstörchen werden die Wissenschaftler in den kommenden Jahren anhand der Senderdaten lernen, dass Störche auf ihren Reisen in den Süden Artgenossen folgen, die besonders gut Thermiken ausnutzen und dadurch mit weniger Flügelschlägen auskommen. Die effizienteren Flieger reisen bis nach Westafrika, während die übrigen in Südeuropa überwintern. Wer wohin fliegen wird, werden die Forscher dann schon zehn Minuten nach dem Abflug aus ihren Daten herauslesen können. Die gesammelten Daten zeigen erstmals auf, wie Flugleistung, Sozialverhalten und globale Reiseroute der Störche miteinander verknüpft sind. Diese Erkenntnisse wurden durch die Kooperation von Wissenschaftlern aus der Abteilung Tierwanderungen und Immunökologie des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell und dem Forschungsbereich „Collective Behaviour“ der Universität Konstanz gewonnen und in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science veröffentlicht.

Seit Tagen sind Andrea Flack und Wolfgang Fiedler am Westufer des Bodensees zu Storchennestern unterwegs. Die Drehleiter der Feuerwehr hebt sie zu den Wohnstuben der Vögel in luftiger Höhe, damit sie den noch nicht ganz flügge gewordenen Tieren kleine Sender auf den Rücken schnallen können. Damit wollen sie Louis und 60 weitere Jungstörche auf ihren Flügen begleiten. Die weniger als 60 Gramm wiegenden Messgeräte zeichnen dabei die GPS-Koordinaten der Tiere auf. Außerdem messen die Sender die Beschleunigung der Tiere im Raum. So können die Forscher erkennen, ob und wie sich die Vögel bewegen.

Für Louis und seine Geschwister ist die harmlose Prozedur nach wenigen Minuten vorüber. Vollauf damit beschäftigt, ihre Flugkünste zu perfektionieren, ist die merkwürdige Begegnung mit den Wissenschaftlern wahrscheinlich schon bald wieder vergessen. Für die Forscher geht die Arbeit jetzt erst richtig los, denn sie müssen von nun ab große Datenmengen sammeln und auswerten. In den ersten Tagen der Flugreise in den Süden zeichnen die Sender zwei bis fünf Minuten lang jede Sekunde die GPS-Koordinaten der Tiere auf – und das alle 15 Minuten. Nach dieser ersten Reisephase verschicken die Geräte Information aus Orts- und Bewegungsdaten - die jetzt nur alle fünf Minuten aufgezeichnet werden - über das örtliche Mobilfunknetz, vergleichbar mit einer SMS.

Die Daten fließen automatisch in die online-Datenbank Movebank ein – eine von Forschern um Prof. Dr. Martin Wikelski entwickelte, frei nutzbare online-Plattform, mit der Wissenschaftler überall auf der Erde Tierwanderungen dokumentieren können. Da die Störche rund um den Bodensee bis nach Westafrika zum Überwintern fliegen, wären bei solchen Datenmengen die Mobilfunkkosten enorm. Deshalb fährt Andrea Flack den Vögeln mit dem Auto bis nach Barcelona hinterher und ruft mit einer Basisstation einmal täglich die Daten ab. In Afrika zeichnen die Sender ihre Daten in größeren Abständen auf, was die anfallende Datenmenge verringert.

Ein Handy für die Störche

Auch Louis hat an dem Apriltag vor vier Jahren sein „Handy“ bekommen. Am 17. August bricht er dann als erster seiner Geschwister in den Süden auf. Er schließt sich einer Gruppe von 27 Artgenossen an. Nach fünf Flugtagen sind noch 17 von ihnen zusammen.

Zunächst fliegt Louis entlang der Alpen an Bern vorbei Richtung Genfer See und überquert südlich von Lyon die Rhone. Am Abend des 23. August erreicht er Montpellier an der französischen Mittelmeerküste und fliegt am nächsten Tag die Küste entlang Richtung Spanien. Er überquert die Pyrenäen und verbringt einige Wochen auf einer Mülldeponie hundert Kilometer nordwestlich von Barcelona. Dann fliegt er in die Umgebung von Madrid und verbringt dort auf einer Deponie den Winter. Er bleibt bis zum Frühjahr 2016 in Spanien und fliegt erst im März Februar 2016 zurück nach Deutschland.

Auf der Suche nach Thermik

Noch nie haben Menschen den Gruppenflug der Störche so minutiös verfolgt wie den von Louis und seinen Altersgenossen. Die Ergebnisse der ersten fünf Tage von Louis Reise haben die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Ornithologie und der Universität Konstanz nun veröffentlicht. Die Daten der tausend Kilometer langen Etappe zeigen erstmals, wie die Flugleistung eines Vogels, sein Sozialverhalten und seine globale Reiseroute miteinander verknüpft sind.

Durch eine ausgeklügelte Analyse der GPS-Daten haben die Wissenschaftler herausgefunden, dass es in den Reisegruppen der Störche Leitvögel gibt. Diese leiten die Gruppe zu Regionen mit günstiger Thermik, wo die Vögel von der aufsteigenden Warmluft förmlich in die Höhe gesogen werden. So können sie von aktivem Flug in den Segelflug übergehen und dabei viel Energie sparen.

Effiziente Flieger fliegen voraus

Eine detaillierte Auswertung der hoch aufgelösten GPS-Daten zeigt, dass die Flugbahnen der Leitvögel unregelmäßiger sind. „Sie sind die, die die Thermikgebiete ausfindig machen und die geeignetsten Regionen innerhalb der Thermik suchen. Deshalb müssen sie ihre Bahnen immer wieder anpassen“, erklärt Máté Nagy, der die Daten der Sender analysiert hat. Die nachfolgenden Tiere profitieren dann von den Erfahrungen der Leitvögel und können sich in regelmäßigeren Bahnen nach oben schrauben. „Folgetiere sind etwas langsamer und verlieren schneller an Höhe. Um nicht den Anschluss an die Gruppe zu verlieren, müssen sie mehr mit den Flügeln schlagen und den Aufwind früher verlassen.“

Von den Flugfähigkeiten hängt aber nicht nur die Position innerhalb der Gruppe ab. Wie lange ein Storch im Segelflug dahingleiten kann, bestimmt offenbar auch, wo er den Winter verbringen wird. Tiere, die viel mit den Flügeln schlagen, fliegen weniger weit als die, die Thermik besser ausnutzen können. Louis zum Beispiel ist ein eher mittelmäßiger Flieger und hat sich bislang nicht zum Leitvogel gemausert. Für ihn ist es offenbar günstiger, im Süden Spaniens zu überwintern – zumal er auf den dortigen Müllhalden ausreichend Nahrung finden kann.

Ganz anders Redrunner. Auch ihn haben die Forscher aus Radolfzell und Konstanz im Frühjahr 2014 mit einem Sender ausgestattet und seitdem verfolgt. Er kommt mit weniger Flügelschlägen aus und gehört so zu den Führungstieren seiner Gruppe. Sein Überwinterungsgebiet liegt in West- und Nordafrika. Während Louis auf seiner Reise 2014 über 1.000 Kilometer zurücklegt, kommt Redrunner auf fast 4.000 Kilometer. „Die Flugeigenschaften sind für die Position innerhalb der Gruppe von so zentraler Bedeutung, dass wir schon wenige Minuten nach dem Abflug eines Vogels im Herbst vorhersagen können, ob er in Europa überwintern oder nach Westafrika weiterfliegen wird“, erklärt Andrea Flack.

Erstmals haben Menschen also das Gruppenverhalten der Störche auf ihrer Reise quer durch Europa bis nach Afrika so detailliert beobachten können. Die dabei gesammelten Daten sind ein Beleg dafür, dass Störche in sozial strukturierten Gruppen fliegen, die von den Flugfähigkeiten der Gruppenmitglieder maßgeblich bestimmt werden. „Der Weg und das Ziel eines Storchs hängen also unter anderem auch davon ab, wie effizient er fliegen kann“, so Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie und Honorarprofessor an der Universität Konstanz.

Louis und Redrunner haben ihre Reise seitdem jedes Jahr wiederholt – zwar nicht immer mit exakt demselben Ziel, aber Louis ist Spanien und Redrunner Afrika treu geblieben. Dieses Jahr ist Louis am 9. März in Deutschland eingetroffen. Seitdem lebt er in Neudingen in der Nähe von Donaueschingen und hat mit einer Partnerin auf dem dortigen Rathaus ein Nest gebaut. Auch Redrunner ist vor einigen Wochen aus Afrika zurückgekehrt. Er lebt zurzeit im Städtchen Münzenberg zwischen Frankfurt und Gießen.

Als Vierjährige haben beide die gefährlichste Phase in ihrem Leben überstanden, denn 75 Prozent der Jungvögel sterben im ersten Lebensjahr. Nun haben sie die Pubertät hinter sich und könnten in diesem Jahr das erste Mal brüten. Wenn die beiden Störche weiterhin erfolgreich allen Gefahren aus dem Weg gehen, haben sie gute Chancen auf ein langes Leben und können sich in 30 Jahren immer noch auf ihre lange Reise machen.

Sollten die beiden dann tatsächlich noch unterwegs sein, werden die Forscher ihnen nicht mehr mit dem Auto hinterherfahren müssen: Ab August wird die von Martin Wikelski initiierte Icarus-Initiative an den Start gehen. Dann werden die Sender ihre Daten über die Internationale Weltraumstation ISS an Wissenschaftler überall auf der Welt schicken. Forscher können dann Tiere rund um die Uhr in Echtzeit verfolgen.

Hintergrund zum Storchenzug:

Weißstörche (Ciconia ciconia) leben im Sommer auf der Iberischen Halbinsel, in Mittel- und Osteuropa bis zum Ural. Außerdem gibt es Populationen in der Türkei, dem Kaukasus sowie in Zentralasien.

Die sogenannten Oststörche Europas fliegen im Herbst über den Bosporus, das Jordan-Tal und die Sinai-Halbinsel nach Afrika. Ihre Überwinterungsgebiete liegen in Ost- oder Südafrika. Für die 10.000 Kilometer lange Strecke benötigen sie ein bis anderthalb Monate.

Die Weststörche fliegen bei Gibraltar über das Mittelmeer und verbringen den Winter in Westafrika zwischen dem Senegal und dem Tschadsee. Diese Vögel kehren im Frühjahr eher in ihre Brutgebiete zurück als die Oststörche. Die Grenze zwischen Ost- und Westziehern verläuft grob von der Elbe bis Oberbayern. Nur wenig Vögel wählen die mittlere Route über Italien nach Tunesien.

Originalveröffentlichung:

From local collective behavior to global migratory patterns in white storks
Andrea Flack, Máté Nagy, Wolfgang Fiedler, Iain D. Couzin, Martin Wikelski
Science; doi/10.1126/science.aap7781

Faktenübersicht:

  • Wissenschaftler des gemeinsamen Forschungsbereichs „Collective Behaviour“ des Max-Planck-Instituts für Ornithologie und der Universität Konstanz können vorhersagen, welche Störche im Herbst nach Afrika ziehen und welche in Europa bleiben.
  • Die Erkenntnisse der Wissenschaftler wurden in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science veröffentlicht.
  • GPS-Koordinaten der Tiere werden aufgezeichnet.
  • Gesammelte Daten zeigen erstmals auf, wie Flugleistung, Sozialverhalten und globale Reiseroute der Störche miteinander verknüpft sind.

Hinweis an die Redaktionen:
Ein Foto und Videos können im Folgenden heruntergeladen werden:

Photo
Storch fliegt auf eine Gruppe von Weißstörchen im Feld zu.
Foto: Christian Ziegler. Copyright: MaxCine, Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell

Video 1
GPS-Datenvisualisierung von 27 Störchen, die elegant im thermischen Aufwind aufsteigen. Die Flugroute jedes Vogels ist farbcodiert, basierend auf der gesamten Schlagaktivität des Vogels von blau (niedrig) bis rot (hoch).
Animation: Renaud Bastien und Máté Nagy. Copyright: Renaud Bastien und Máté Nagy, Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell

Video 2
Migrationsrouten der Störche in den ersten vier Wochen ihrer Migration. Die GPS-Tracks sind farbcodiert, basierend auf der gesamten Flügelschlagaktivität von blau (niedrig) bis rot (hoch); gemessen während der hochauflösenden Datenerfassungsperiode (die ersten zirka 1.000 Kilometer).
Animation von Máté Nagy. Copyright Máté Nagy, Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell