Nils Weidmann. Bild: Universität Konstanz
Nils Weidmann. Bild: Universität Konstanz

Ist das Internet für Diktatoren nützlich oder gefährlich?

Wissenschaftler der Universitäten Konstanz und Uppsala stellen fest, dass bessere Internetverfügbarkeit in Autokratien Protest reduzieren kann; einmal entstandene Protestbewegungen werden aber durch digitale Kommunikation verstärkt.

Protestbewegungen der Gegenwart, vom Arabischen Frühling über „Fridays for Future“ bis zu den aktuellen Protesten in Hong Kong, sind nahezu unvorstellbar ohne moderne digitale Technologien. Diese Bewegungen organisieren sich selbst auf digitalem Weg, mobilisieren so Unterstützer und verbreiten ihre Nachrichten. In der heutigen Welt sind digitale Hilfsmittel wie sichere Instant Messaging-Apps, Online-Foren und Chatrooms ein essentieller Bestandteil des Erfolgs einer Protestbewegung. Gleichzeitig schränken autokratische Systeme wie China die Nutzung des Internets massiv ein. Vieles weist darauf hin, dass auch diese Strategie erfolgreich ist: Die Unterdrückung und Kontrolle der Informationsverbreitung sowie die Identifizierung von Gruppen möglicherweise „gefährlicher“ Personen liefert definitiv Resultate.

Zweifelsohne hat der Aufstieg der Informationstechnologie tiefgreifende Auswirkungen auf autokratische Regime und soziale Bewegungen. Trotz vieler Fallstudien gibt es bislang jedoch nur relativ wenige vergleichende Arbeiten, die das komplexe Zusammenspiel zwischen autokratischen Regimen, Oppositionsbewegungen und digitaler Technologie untersuchen. Prof. Dr. Nils Weidmann vom Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz und Dr. Espen Geelmuyden Rød von der Universität Uppsala (Schweden) haben kürzlich ihr Buch „The Internet and Political Protest in Autocracies“ veröffentlicht, das einen umfassenderen Ansatz verwendet. Auf die einfache Frage: „Ist das Internet für Diktatoren nützlich oder gefährlich?“ gibt das Buch eine komplexe Antwort.

„Bis vor wenigen Jahren gab es im Grunde zwei Lager in der Wissenschaft: für die einen war das Internet ein mächtiges Befreiungswerkzeug, andere hielten es dagegen für eine Unterdrückungstechnologie. Über diese zu einfache Unterscheidung wollten wir hinausgehen. Das Internet kann Auswirkungen in beide Richtungen haben: es kann autokratische Regime unterstützen, aber auch Protestbewegungen katalysieren“, erklärt Nils Weidmann. „Diese Effekte können wir nur beobachten, wenn wir genauer hinsehen, als das in den meisten Studien bisher getan wurde. Anstatt unsere Analyse auf Länderebene durchzuführen, sind wir eine Ebene tiefer gegangen. Statt in Ländern haben wir auf der Ebene von Städten untersucht, wie die Internetanbindung die Häufigkeit und Dauer von Protesten beeinflusst“, fügt Espen Geelmuyden Rød hinzu. „Wichtig waren uns auch andere Aspekte: Wie schnell und wie weit breitet sich Protest von Stadt zu Stadt aus? Wie reagieren autokratische Regierungen, und wie beeinflussen diese Reaktionen das Wiederauftreten von Protesten? Es gab unheimlich viele Verbindungen zu untersuchen“, resümiert Rød die Arbeit der letzten fünf Jahre.

Die Autoren sammelten nicht nur neue Daten über politische Proteste in Autokratien, sie entwickelten auch eine neue Methode zur Abschätzung der Internetanbindung auf der Ebene einzelner Städte. Ihre „Mass Mobilization in Autocracies“-Datenbank steht nun der Wissenschaft frei zur Verfügung, und landete bereits beim 2019 Lijphart/Przeworski/Verba Dataset Award der Sektion Vergleichende Politikwissenschaft der American Political Science Association auf dem zweiten Platz.

Mit der Modernisierung der Gesellschaften verbreitet sich auch die Internettechnologie – aber im Gegensatz zu Demokratien wird die Ausbreitung der Technologie in autokratischen Regimen großenteils staatlich kontrolliert. So haben autokratische Regierungen viele hilfreiche neue Mittel zur Verfügung, die sie für verstärkte Überwachung und mehr Zensur nutzen. Deshalb stellten Weidmann und Rød fest, dass eine höhere Internetdurchdringung langfristig das Auftreten von Protesten reduziert. Sobald jedoch eine politische Mobilisierung beginnt, kann sie sich über schwer zu kontrollierende Onlinekanäle schnell verbreiten. Wenn es also trotz der Repressionsmaßnahmen zu Protesten kommt, dann gewinnen sie in hochdigitalisierten Gesellschaften viel schneller an Fahrt und verbreiten sich weiter.

„Insgesamt kann man sagen, dass die Einführung und Ausbreitung von digitalen Technologien für autokratische Gesellschaften ein zweischneidiges Schwert ist“, fasst Nils Weidmann seine und Røds Ergebnisse zusammen. „Das Internet wird in vielen Autokratien eindeutig als Repressionswerkzeug eingesetzt. Es kann aber unter den passenden Umständen auch zum Befreiungswerkzeug werden.“

Fakten:

  • Publikation: Nils B. Weidmann, Espen Geelmuyden Rød (2019): The Internet and Political Protest in Autocracies (Oxford Studies in Digital Politics). Oxford University Press. 224 Seiten, ISBN: 9780190918316. Webseite: global.oup.com/academic/product/the-internet-and-political-protest-in-autocracies-9780190918316
  • Prof. Dr. Nils Weidmann ist Politikwissenschaftler am Fachbereich Politik und Verwaltungswissenschaft, Universität Konstanz. Er leitet die Forschungsgruppe „Communication, Networks and Contention“und ist Principal Investigator sowie Co-Sprecher des Exzellenzclusters „Die politische Dimension von Ungleichheit“.
  • Espen Geelmuyden Rød ist Nachwuchswissenschaftler am Fachbereich für Friedens- und Konfliktforschung /Peace and Conflict Research der Universität Uppsala, und Principal Investigator des Projekts „Protest, Democratization, and Escalation to Large-scale Political Violence”, das durch den Schwedischen Research Council gefördert wird.
  • Die Buchpräsentation wird am 3. Dezember 2019 an der Universität Konstanz stattfinden (Details werden noch bekanntgegeben).
  • Das Buch entstand im Rahmen des Sofja Kovalevskaja Preis-Projekts „The Web as a Curse or Blessing?” (Das Internet: Fluch oder Segen?) (2012-2017), das Nils Weidmann leitete und das von der Alexander von Humboldt Stiftung gefördert wurde.