Horizon 2020: EU-Förderung zur Entwicklung tierversuchsfreier Methoden

Die Konstanzer Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Marcel Leist und das ansässige „Zentrum für Alternativen zum Tierversuch in Europa“ (CAAT-Europe) starten mit den zwei neuen Horizon 2020 Projekten RISK-HUNT3R und TOX-Free, um Tierversuche für chemische Risiko- und Sicherheitsbeurteilungen zu ersetzen

In den letzten Jahrzehnten wurden sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft zunehmend Stimmen laut, die einen Paradigmenwechsel in Richtung chemischer Sicherheits- und Risikobewertung ohne den Einsatz von Tierversuchen fordern. Zusätzlich zu den ethischen Bedenken hinsichtlich der Verwendung von Tierversuchen für diese Zwecke besteht die grundlegende Notwendigkeit, alle potenziellen gesundheitlichen Auswirkungen von Chemikalien, die speziell für den Menschen relevant sind, zu berücksichtigen.

„Darüber hinaus wird die begrenzte Effizienz von Tierversuchen (geringer Durchsatz, hohe Kosten und unzureichende Laborkapazitäten) nicht in der Lage sein, mit der schieren Anzahl an Chemikalien Schritt zu halten, die einer Sicherheitsbewertung bedürfen, um den geforderten Schutz der europäischen Bürger zu gewährleisten“, schildert Prof. Dr. Marcel Leist, Co-Direktor von CAAT-Europe und Professor für In-vitro-Toxikologie und Biomedizin an der Universität Konstanz.

Die Universität Konstanz ist maßgeblich an zwei neuen Projekten beteiligt – RISK-HUNT3R und TOX-Free –, die im Rahmen des EU-Programms für Forschung und Innovation „Horizon 2020“ gefördert werden. Übergeordnetes Ziel der beiden Projekte ist die Entwicklung von tierversuchsfreien Strategien und Werkzeugen für die chemische Risiko- und Sicherheitsbeurteilung zum Schutz der Gesundheit der Bürger*innen. Die Gesamtfördersumme der Projekte durch die EU beträgt 27 Mio. Euro.

Projekt RISK-HUNT3R
Das erste der beiden Projekte, RISK-HUNT3R, hat im Juni 2021 begonnen. In seinen fünf Jahren Laufzeit wird RISK-HUNT3R die Praxistauglichkeit einer tierversuchsfreien „Risikobewertung der nächsten Generation“ (engl.: „Next Generation Risk Assessment“; NGRA) untersuchen. Das Projekt vereint hierzu 37 Partner – darunter akademische Forschende, Regulierungsbehörden und Sicherheitswissenschaftler*innen aus wichtigen Industriesektoren – und erhält von der EU ein Gesamtbudget von 23 Mio. Euro für das Vorhaben.

Das Konsortium arbeitet an einem methodischen Rahmen zur Risikobeurteilung, in dem in-vitro („im Reagenzglas“) stattfindende Gefährdungsbeurteilungen, auf tierversuchsfreien alternativen Ansätzen (NAM) beruhende toxikologische Tests und menschliche Expositionsszenarien – also Fakten, Annahmen und Schlussfolgerungen darüber, wie die Exposition stattfindet – zusammengeführt werden. Integrative computergestützte („in-silico“) Verfahren und finale Entscheidungsfindung basierend auf der gewichteten Beweiskraft der gebündelten Informationen sollen die Risikobewertung der nächsten Generation auf den Erfolgsweg bringen.

„Wir werden verschiedene innovative Testsysteme und modernste in-silico Modelle zur Gefahrenerkennung unter einem Dach bündeln und mit der systematischen Bewertung von Expositionsszenarien des Menschen verknüpfen“, fasst Prof. Dr. Marcel Leist den Ansatz zusammen.

Universität Konstanz spielt entscheidende Rolle
Die Arbeitsgruppe von Prof. Leist und das CAAT-Europe werden dabei eine Schlüsselrolle in dem Konsortium einnehmen: Sie koordinieren zum einen die Entwicklung zielgerichteter Tests mithilfe fortschrittlicher Modellsysteme, zum anderen jedoch auch die Verbreitung der Projektergebnisse sowie Schulungsaktivitäten zu dem Themenkomplex.

Das oberste Ziel des RISK-HUNT3R-Projekts, die Bürger*innen durch tierversuchsfreie Methoden besser vor gefährlichen Chemikalien zu schützen und gleichzeitig die Entwicklung sicherer und nachhaltiger Alternativen zu ermöglichen, steht im Einklang mit dem Ziel des „Green Deal“ der Europäischen Kommission für eine schadstofffreie Umwelt und den Zielen des zweiten neuen Horizon 2020 Projekts unter Beteiligung der Gruppe von Prof. Marcel Leist und des CAAT-Europe, TOX-Free.

Projekt TOX-Free
Insbesondere die schädlichen Auswirkungen auf unser Herzkreislauf- und Nervensystem, die durch Schadstoffe wie zum Beispiel manche Pestizide und Industriechemikalien verursacht werden können, sind mit bisher verfügbaren Testansätzen schwer zu beurteilen. Gründe hierfür liegen unter anderem in der niedrigen Empfindlichkeit bestehender Verfahren, fehlender Relevanz der Modellsysteme für den Menschen und einer geringen Eignung der Methoden für nicht-invasive Langzeitaufzeichnungen.

Die vier Projektpartner des Projekts TOX-Free stellen sich diesem Problem in einem wegbereitenden Vorhaben und mit einem Förderbudget der EU von insgesamt 3 Mio Euro. Dabei sollen neuartige Ansätze aus Physik, Materialwissenschaft, Ingenieurwesen, Biologie und industriellen Prozessen zusammenführt werden. „Wir entwickeln in diesem Projekt eine revolutionäre und vollständig nicht-invasive Technologie zur Aufzeichnung von elektrischen Signalen bei menschlichen neuronalen und kardialen Zellen in-vitro“, berichtet Leist.

Der VICE-Biosensor
Die neue Technologie, der sogenannte VICE-Biosensor, wird eine hohe räumliche Auflösung mit der parallelen Aufzeichnung der elektrischen Signale von tausenden Neuronen oder Herzmuskelzellen kombinieren und so die Bewertung und Quantifizierung von kleinsten Störungen durch Giftstoffe aus den Bereichen Medikamente, Pestizide und Industriechemikalien ermöglichen. Mit seiner gebündelten Expertise wird das Konsortium den VICE-Biosensor kontinuierlich weiterentwickeln, mit innovativen Funktionalitäten ausstatten und in toxikologischen und pharmakologischen Experimenten eingehend testen. „Dies wird nicht nur zu einem revolutionären Ansatz zur Funktionsüberwachung von Herz- und Gehirnzellen führen, sondern auch die direkte Anwendbarkeit auf relevante Fragestellungen in den Sicherheitswissenschaften und der Pharmakologie gewährleisten“, erklärt Dr. Giorgia Pallocca, stellvertretende Direktorin und Koordinatorin des CAAT-Europe.

Die Forschenden der Universität Konstanz werden dabei ihre Expertise in den Bereichen der bio-molekularen Chemie von Membran-Ionenkanälen und der neuronalen Zellmodelle, die die Toxizität im menschlichen Körper genau nachbilden können, einbringen. Insbesondere wird die Gruppe von Prof. Leist unter Verwendung von 2D- bis 3D-Zellmodellen die Möglichkeiten der VICE-Biosensor-Technologie, dynamische neuronale Prozesse auszulesen und abzubilden, untersuchen und maßgeschneiderte akute und chronische Neurotoxizitätstests unter Verwendung der Technologie entwickeln.

Innovation und Nachhaltigkeit
Beide Projekte, RISK-HUNT3R und TOX-Free, werden als wichtiges Handlungsfeld außerdem die kommerzielle Nutzung der validierten Sicherheitsbewertungsansätze vorantreiben und so die Nachhaltigkeit der Projektergebnisse sicherstellen und die Innovationsfähigkeit der beteiligten Industriezweige stärken. „Eine entscheidende Erwartung ist, dass unsere Methoden eine breite Anwendung in mehreren regulatorischen Kontexten, über verschiedene Industriezweige hinweg, und beim Schutz verschiedener Bevölkerungsgruppen in allen Lebensphasen – einschließlich der am meisten gefährdeten Personen, wie Kindern, schwangeren Frauen und älteren Menschen – finden werden“, schließt Pallocca.

Faktenübersicht:

  • Die Konstanzer Arbeitsgruppe von Prof. Marcel Leist und das ansässige „Zentrum für Alternativen zum Tierversuch in Europa“ (CAAT-Europe) starten mit zwei neuen Horizon 2020 Projekten – RISK-HUNT3R und TOX-Free.
  • Übergeordnetes Ziel: Entwicklung von tierversuchsfreien Strategien und Werkzeugen für die chemische Risiko- und Sicherheitsbeurteilung zum Schutz der Gesundheit der Bürger.
  • Gesamtfördersumme der Projekte durch die EU: 27 Mio. Euro.
  • RISK-HUNT3R: Bündelung verschiedener innovativer Testsysteme und modernster In-silico-Modelle zur Gefahrenidentifizierung und deren Verknüpfung mit der systematischen Bewertung von Expositionsszenarien des Menschen (offizielle Pressemitteilung zum Projekt auf Englisch)
  • TOX-Free: Entwickelung einer vollständig nicht-invasiven Technologie zur Aufzeichnung von elektrischen Signalen bei menschlichen neuronalen und kardialen Zellen in-vitro