Perspektivwandel in der Faschismusforschung

Presseinformation Nr. 83 vom 25. Mai 2012

Neues Fachjournal „Fascism“ dokumentiert aktuelle Faschismusforschung in ihrer Breite

Ein Perspektivwandel in der Faschismusforschung Europas zeichnet sich in der aktuellen Geschichtswissenschaft ab. Prof. Dr. Sven Reichardt, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz, skizziert eine neue Welle der Faschismusforschung, die seit dem Ende des Kalten Krieges einen Aufwind zunächst in den USA und England, im Verlauf der vergangenen zehn Jahre aber auch in Westeuropa erlebte: „Faschismus wird nicht länger als reiner Ausdruck der bedrohten Ordnung sozialhistorischer Verhältnisse oder als Ausdruck der Krise des Kapitalismus verstanden“, erklärt Reichardt. Stattdessen rücken die symbolische Selbstrepräsentation der faschistischen Regime sowie deren internationale Verflechtungen stärker in den Fokus der Wissenschaftler. Das neue Fachjournal „Fascism. Journal of Comparative Fascist Studies“ des Niederländischen Instituts für die Erforschung des Holocausts (NIOD), das im April 2012 in seiner ersten Ausgabe erschienen ist und von dem Konstanzer Historiker Sven Reichardt mit herausgegeben wird, dokumentiert die aktuelle Faschismusforschung in ihrer Breite. Das Online-Journal ist als Open Access-Zeitschrift unter www.brill.nl/publications/journals/fascism frei verfügbar und liegt auch in einer Print-Ausgabe vor.

Die aktuelle Faschismusforschung nimmt insbesondere die Selbstaussagen der faschistischen Regime ernster, als es die sozialwissenschaftlich geprägte Faschismusforschung bis in die 1980er Jahre hinein tat. Die symbolische Selbstrepräsentation und gesellschaftliche Rezeption der Regime – inklusive der kulturgeschichtlichen und diskursiven Grundlagen dieser Selbstsicht – werden als Schlüssel zur Definition des Faschismus und seiner Entwicklungen verstanden. Auf diese Weise gelingt den Forschern ein neuer Blick auf die spezifisch populistisch-nationalistischen Aspekte des Faschismus und auf die Interaktion zwischen Regime und Bevölkerung.

Sven Reichardt macht insbesondere den Begriff der „Gouvernementalität“, den steuernden Machtprozess zwischen Regierung und Individuen, für die neue Faschismusforschung stark. Er erforscht die Rolle der partizipativen Gewalt im europäischen Faschismus, das heißt, die Mechanismen, mit denen die Bürger der faschistischen Rassenstaaten zur Teilhabe an der staatlichen Gewalt gebracht wurden: Beispiele sind kleine Profite durch Denunziation oder Plünderung, die der Staat systemtreuen "Volksgenossen" in Aussicht stellte. In einem Zusammenspiel aus Konsens und Gewalt gelang es den faschistischen Regimen, sich eine Popularität zu sichern und darin ihrer Gewaltherrschaft ein Fundament zu geben.

Die neue Forschungsperspektive ist jedoch keineswegs auf eine reine Innenansicht der Regime gelegt, sondern bezieht einen Ländervergleich der faschistischen Raubimperien und ihres Siedlerkolonialismus in die Betrachtung mit ein. Neben dem systematischen Vergleich von faschistischen Regimen rücken insbesondere die Verflechtungen und Transferprozesse zwischen ihnen in den Mittelpunkt der Forschung.

Sven Reichardt ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz. Der Historiker hatte seit 2003 die Juniorprofessur für Deutsche Zeitgeschichte an der Universität Konstanz inne und gehört damit zu den ersten Wissenschaftlern, die in Deutschland eine Juniorprofessur durchliefen und erfolgreich auf eine Lebenszeitprofessur berufen wurden. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte des europäischen Faschismus sowie die Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Sven Reichardt ist Mitherausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Zeitschriften, darunter „Geschichte und Gesellschaft“ und "Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus".