Mikroskopaufnahme des Oberflächenschmelzens von Gläsern anhand eines Kolloid-Systems. Hochbewegliche Teilchen (rot) markieren den Schmelzprozess an der Oberfläche. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich diese hochdynamischen Bereiche sehr weit in das Material ausdehnen und damit dessen Eigenschaften beeinflussen. Bild: AG Bechinger, Universität Konstanz

Oberflächenschmelzen von Gläsern

Konstanzer Physiker machen eine überraschende Entdeckung, als sie Oberflächenschmelzen bei Gläsern nachweisen

Im Jahr 1842 machte der britische Forscher Michael Faraday zufällig eine erstaunliche Beobachtung: Auf der Oberfläche von Eis bildet sich eine hauchdünne Wasserschicht, obwohl es deutlich kälter als Null Grad ist. Die Temperatur liegt also unterhalb des Schmelzpunkts von Eis, dennoch ist die Eis-Oberfläche geschmolzen. Diese flüssige Schicht auf Eiskristallen ist auch der Grund, warum Schneebälle zusammenkleben.

Erst rund 140 Jahre später, im Jahr 1985, konnte dieses „Oberflächenschmelzen“ („surface melting“) unter Laborbedingungen wissenschaftlich bestätigt werden. Oberflächenschmelzen ist inzwischen bei einer Vielzahl von kristallinen Materialien nachgewiesen und wissenschaftlich gut verstanden: Bereits mehrere Grad unterhalb des eigentlichen Schmelzpunkts findet man auf deren Oberfläche eine nur wenige Nanometer dünne, flüssige Schicht auf dem ansonsten festen Material. Da die Oberflächeneigenschaften von Festkörpern z. B. in Form von Katalysatoren, Sensoren oder Elektroden von Batterien eine wichtige Rolle spielen, ist Oberflächenschmelzen sowohl wissenschaftlich als auch in Hinblick auf technische Anwendungen von hohem Interesse.

Zur Klarstellung: Der Prozess des Oberflächenschmelzens hat nichts mit dem Effekt zu tun, wenn man etwa einen Eiswürfel aus dem Gefrierfach herausnimmt und der Umgebungstemperatur aussetzt. Zwar schmilzt der Eiswürfel ebenfalls zuerst an der Oberfläche, dies liegt allerdings daran, dass diese deutlich wärmer als sein Inneres ist.

Oberflächenschmelzen in Gläsern nachgewiesen
Bei Kristallen mit periodisch angeordneten Atomen lässt sich die dünne Flüssigkeitsschicht an der Oberfläche durch sogenannte Streuexperimente nachweisen, da Flüssigkeiten auf atomarer Ebene keine regelmäßige Anordnung haben und sich deshalb von dem Festkörper leicht unterscheiden lassen. Dieser Ansatz funktioniert allerdings nicht bei Gläsern (d.h. ungeordneten, amorphen Materialien), da hier kein Unterschied in der atomaren Ordnung zwischen Festkörper und Flüssigkeit existiert.

Um den Prozess des Oberflächenschmelzens in amorphen Materialien dennoch nachzuweisen, hat Clemens Bechinger, Physikprofessor an der Universität Konstanz, zusammen mit seiner Mitarbeiterin Li Tian zunächst ein ungeordnetes Material aus mikroskopischen Glaskügelchen, sogenannten Kolloiden, hergestellt. Im Vergleich zu Atomen lassen sich diese Teilchen unter einem Mikroskop direkt beobachten.

Den Prozess des Oberflächenschmelzens konnten sie in dem kolloidalen Glas dadurch nachweisen, dass sich die Teilchen nahe der Oberfläche deutlich schneller als im darunterliegenden Festkörper bewegen. Diese Beobachtung ist zunächst nicht ganz unerwartet, da die Teilchendichte an der Oberfläche geringer als im darunterliegenden Material ist. Damit haben oberflächennahe Teilchen mehr Platz, um sich aneinander vorbeizubewegen, und sind dadurch schneller. 

Eine überraschende Entdeckung
Überrascht waren Clemens Bechinger und Li Tian allerdings von der Tatsache, dass selbst weit unterhalb der Oberfläche, wo die Teilchendichte ihren Sättigungswert erreicht, die Teilchenbeweglichkeit immer noch deutlich größer ist als tief im Inneren des Festkörpers. Die Mikroskopaufnahmen zeigen, dass diese bislang unbekannte Schicht bis zu 30 Teilchendurchmesser dick ist und sich von der Oberfläche schlierenförmig in die tieferen Regionen des Festkörpers fortsetzt. „Durch die Anwesenheit der Oberfläche wird das Material in seinem Verhalten deutlich verändert und kombiniert flüssige als auch festkörperartige Eigenschaften“, so Bechinger.

Als Konsequenz daraus sollten die Eigenschaften dünner, ungeordneter Filme sehr stark von deren Dicke abhängen. Genau diese Eigenschaft wird derzeit bereits für viele technische Anwendungen ausgenützt, z.B. bei dünnen Ionenleitern in Batterien, die gegenüber dickeren Filmen eine deutlich höhere Ionenleitfähigkeit aufweisen. Mit den nun gewonnenen Erkenntnissen lässt sich dieses Verhalten nun erstmals quantitativ verstehen und damit für technische Anwendungen optimieren.

Faktenübersicht:

  • Originalpublikation: Tian, L., Bechinger, C. Surface melting of a colloidal glass. Nat Commun 13, 6605 (2022).
    DOI: 10.1038/s41467-022-34317-2
    Link: https://www.nature.com/articles/s41467-022-34317-2
  • Prof. Dr. Clemens Bechinger ist Professor für Kolloidale Systeme an der Universität Konstanz. In seiner Forschung interessiert er sich unter anderem für Phasenübergänge in kolloidalen Systemen sowie für Nicht-Gleichgewichtszustände auf Teilchenebene. Clemens Bechinger ist Principal Investigator am Exzellenzcluster „Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour”
  • Li Tian ist Doktorandin in der Arbeitsgruppe von Clemens Bechinger. Sie erforscht die Anordnung von anisotropen kolloidalen Partikeln mit kritischen Casimir-Kräften.