Verleihung des Elise Richter-Preises an Anne Kraume (Mitte), mit der Vorsitzenden des Romanistikverbands, Carolin Patzelt (links), und der Rektorin der Universität Leipzig, Eva Inés Obergfell (rechts). Copyright: Karen Struve

Literarisch den Boden für Unabhängigkeit bereiten

Elise Richter-Preis für Anne Kraume: Der Deutsche Romanistenverband (DRV) zeichnet die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin für ihre Habilitationsschrift „Literatur und Unabhängigkeit. Transatlantische Verflechtungen bei fray Servando Teresa de Mier (1763-1827)“ aus.

Anne Kraume, Professorin für Romanische Literaturen an der Universität Konstanz, erhielt den diesjährigen Elise Richter-Preis des Deutschen Romanistenverbands (DRV). Die Jury lobt, dass die Literaturwissenschaftlerin mit ihrem Werk Neuland betrete, indem sie den von ihr untersuchten Schriftsteller vor dem Hintergrund des transatlantischen Kulturaustauschs einordnet. „Dabei liefert sie ein ausgesprochen beeindruckendes Beispiel für die euro-amerikanistische Verflechtungsgeschichte von Gattungen“, so die Juror*innen.

„Ich freue mich sehr über den Elise Richter-Preis und die damit verbundene Anerkennung meiner Arbeit; und das besonders, weil die literarischen Austauschbeziehungen zwischen Europa und Lateinamerika ein Thema sind, dem auch in unserer globalisierten Gegenwart besondere Bedeutung zukommt – und mit dem ich mich deshalb auch in Zukunft weiter beschäftigen möchte“, erklärt Kraume.

Der mit 2000 Euro dotierte Preis wurde anlässlich der Eröffnungsveranstaltung des 38. Deutschen Romanistentages an der Universität Leipzig am 24. September 2023 überreicht. Das Buch „Literatur und Unabhängigkeit“ ist am 2. Oktober 2023 in der Reihe Latin American Literatures in the World beim Verlag De Gruyter erschienen.

Literarische Strategien und politische Ziele
Literaturwissenschaftlerin Kraume schreibt in ihrer Habilitation eine transatlantische Kulturgeschichte der Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert: Am Beispiel des aus der damaligen spanischen Kolonie Neuspanien (dem heutigen Mexiko) stammenden Dominikanermönchs fray Servando Teresa de Mier (1763-1827) zeigt sie, wie lateinamerikanische Schriftsteller in ihren Werken die politische und die literarische Unabhängigkeit ihrer Herkunftsländer vorbereitet haben. So entfachte fray Servando im Jahr 1794 einen nicht nur theologischen, sondern auch politischen Skandal, indem er in einer Predigt zwar indirekt, doch seiner Zuhörerschaft – darunter dem Vizekönig von Neuspanien – durchaus verständlich die Legitimität der spanischen Kolonialherrschaft anzweifelte. Zu zehn Jahren Haft in einem spanischen Kloster verbannt, der er mehrfach durch Flucht zu entkommen suchte, veröffentlichte er 1813 in London sein erstes großes Werk: eine geschichtswissenschaftliche Abhandlung über die zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erreichte Unabhängigkeit der Kolonie Neuspanien von Spanien. Die bewegte Zeit seines Exils in Europa wurde nach seiner Rückkehr in sein Heimatland zum Stoff eines zweiten Werkes, nämlich einer zwischen 1817 und 1820 verfassten Autobiographie. In ihrer Studie untersucht Kraume die literarischen Strategien, die er in diesen beiden Werken einsetzt, um sein politisches Anliegen, die Unabhängigkeit der Kolonie von Spanien, plausibel zu machen.

„In dem Fall von fray Servando ist besonders auffällig, dass er kanonische Gattungen wie die Historiographie – also Geschichtsschreibung – und die Autobiographie verändert, indem er sie an seine eigenen Zwecke anpasst und auf diese Weise gewissermaßen unterwandert“, führt Kraume aus. „Literarische Gattungen kann man insofern auch als kulturell eingebettete Infrastrukturen begreifen, die dazu dienen, bestimmte Inhalte formal abzusichern und einer breiten Leserschaft zu vermitteln“, fährt die Wissenschaftlerin fort, die auch an dem aktuellen Konstanzer Forschungsschwerpunkt zu Infrastrukturen beteiligt ist. „Diese Infrastrukturen haben, wie im Fall von fray Servando, häufig ein großes Transformationspotential – und das in einem doppelten Sinne: Sie werden einerseits beständig selbst verändert, dies geschieht andererseits aber auch mit dem Ziel, einen politischen und kulturellen Umbruch oder Wandel herbeizuführen.“

Die Literaturwissenschaftlerin interpretiert den Autor in mehrfachem Sinne als eine Grenzgängerfigur: Zeitpolitisch stehe er an der Schwelle zwischen Kolonialzeit und Unabhängigkeit; zudem bewege er sich zeitlebens über geografische Grenzen zwischen Lateinamerika und Europa hinweg und schließlich überschreite er eben auch Gattungsgrenzen, indem er kanonische Formen weiterentwickle. Ihrer Interpretation nach hat fray Servando mit seinem Werk deshalb nicht nur die politische Unabhängigkeit von der spanischen Krone vorbereitet, sondern gleichzeitig die literarische Unabhängigkeit Lateinamerikas von europäischen Vorbildern umgesetzt.

Über den Preis:
Der Preis des Deutschen Romanistenverbands (DRV) ist nach der Wiener Romanistin Elise Richter (1865–1943) benannt, der ersten Frau, die an der Universität Wien habilitiert wurde (1905). Sie wurde als Jüdin vom nationalsozialistischen Regime verfolgt und 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Der Förderpreis wird alle zwei Jahre für herausragende Promotionen und Habilitationen verliehen, 2023 zum dreizehnten Mal.

Fakten:

  • Anne Kraume, Professorin für Romanische Literaturen an der Universität Konstanz, erhielt den Elise Richter-Preis des Deutschen Romanistenverbands (DRV) für ihre Habilitationsschrift „Literatur und Unabhängigkeit. Transatlantische Verflechtungen bei fray Servando Teresa de Mier (1763–1827)“.
  • Der mit 2000 Euro dotierte Preis wurde anlässlich des Deutschen Romanistentages an der Universität Leipzig am 24. September 2023 überreicht.
  • Das Buch „Literatur und Unabhängigkeit“ von Anne Kraume ist am 2. Oktober beim Verlag De Gruyter erschienen.