Zebrafisch-Embryonen durchlaufen charakteristische Entwicklungsstadien, aber selbst Geschwisterembryonen unterscheiden sich in der Geschwindigkeit dieser Stadien. Mithilfe künstlicher Intelligenz können Unterschiede zwischen Embryonen hinsichtlich Entwicklungsgeschwindigkeit, charakteristischer Entwicklungsstufen und struktureller Unterschiede errechnet werden. Copyright: Patrick Müller, Nikan Toulany

KI erkennt Tempo und Stadien der Embryonalentwicklung

Wie kann die Embryonalentwicklung von Tieren in ihrer Geschwindigkeit und ihren unterschiedlichen Stadien zuverlässig und objektiv charakterisiert werden? Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz! Forschende der Universität Konstanz stellen eine automatisierte Methode vor.

Auf dem Weg von der befruchteten Eizelle zum funktionsfähigen Organismus durchlaufen tierische Embryonen eine Reihe charakteristischer Entwicklungsstadien. Dieser biologische Prozess wird zu großen Teilen genetisch gesteuert und folgt bei verschiedenen Tierarten stets einem ähnlichen Muster. Und doch gibt es im Detail Unterschiede – zwischen einzelnen Arten und sogar zwischen den Embryonen ein und derselben Art. So kann zum Beispiel die Geschwindigkeit, mit der einzelne Embryonalstadien durchlaufen werden, variieren. Derartige Unterschiede in der Embryonalentwicklung gelten als wichtiger Motor der Evolution, da sie zu neuen Eigenschaften führen können und dadurch evolutive Anpassungen und Artenvielfalt fördern.

Die Erforschung der Embryonalentwicklung von Tieren ist somit von großer Bedeutung für ein besseres Verständnis evolutiver Mechanismen. Doch wie können Unterschiede in der Embryonalentwicklung, beispielsweise im zeitlichen Ablauf von Entwicklungsstadien, objektiv und effizient erfasst werden? Forschende der Universität Konstanz um den Systembiologen Patrick Müller entwickeln und verwenden hierfür Methoden auf Basis künstlicher Intelligenz (KI). In ihrem aktuellen Artikel in Nature Methods beschreiben sie einen neuartigen Ansatz, der automatisiert die Geschwindigkeit von Entwicklungsprozessen erfasst und ohne menschliche Vorgaben charakteristische Stadien erkennt – standardisiert und über Artgrenzen hinweg.

Jeder Embryo ein bisschen anders

Unser bisheriges Wissen zur Embryonalentwicklung von Tieren und ihren einzelnen Stadien basiert auf Studien, in denen Embryonen verschiedenen Alters unter dem Mikroskop betrachtet und detailliert beschrieben wurden. Dank dieser mühsamen Handarbeit gibt es heute für viele Tierarten Nachschlagewerke mit idealisierten Darstellungen einzelner Embryonalstadien. „Allerdings sehen Embryonen unter dem Mikroskop häufig nicht genau so aus wie auf den Schemazeichnungen. Und auch die Übergänge zwischen einzelnen Stadien sind nicht abrupt, sondern fließend“, erklärt Müller. Die manuelle Zuordnung eines Embryos zu den verschiedenen Entwicklungsstadien ist daher selbst für Expert*innen nicht trivial und unterliegt auch der Subjektivität des Betrachtenden.

Was erschwerend hinzukommt: Nicht immer folgt die Embryonalentwicklung dem erwarteten Zeitplan. „Es gibt verschiedene Faktoren, die den zeitlichen Ablauf der Embryonalentwicklung beeinflussen können, wie beispielsweise die Temperatur“, erläutert Müller. Doch die von ihm und seinen Kollegen entwickelte KI-gestützte Methode bietet Abhilfe. Für ein erstes Anwendungsbeispiel trainierten die Forschenden ihr sogenanntes Twin-Network mit mehr als 3 Millionen Bildern von Zebrafisch-Embryonen, die sich gesund entwickelten. Das resultierende KI-Modell nutzten sie anschließend zur automatisierten Bestimmung des „Entwicklungsalters“ weiterer Zebrafisch-Embryonen.

Objektiv, akkurat und verallgemeinerbar

Die Forschenden konnten nachweisen, dass die KI in der Lage ist, vollautomatisch und ohne menschliche Vorgaben entscheidende Schlüsselereignisse der Zebrafisch-Embryonalentwicklung zu identifizieren und einzelne Entwicklungsstadien zu detektieren. Dies nutzten die Forschenden in ihrer Studie, um Embryonen in ihrem Entwicklungsstand zu vergleichen und die Temperaturabhängigkeit der Embryonalentwicklung von Zebrafischen zu beschreiben. Obwohl die KI mit Bildern sich normal entwickelnder Embryonen trainiert wurde, war sie außerdem in der Lage, Fehlbildungen zu identifizieren, wie sie bei einem gewissen Prozentsatz von Embryonen spontan auftreten oder beispielsweise durch Umweltgifte ausgelöst werden können.

In einem letzten Schritt übertrugen die Forschenden die Methode auf andere Tierarten, wie Stichlinge oder den vom Zebrafisch evolutiv betrachtet weit entfernten Fadenwurm Caenorhabditis elegans. „Liegt das notwendige Bildmaterial vor, kann unsere Twin-Network-basierte Methode genutzt werden, um die Embryonalentwicklung verschiedenster Tierarten zeitlich und in ihren Stadien zu erfassen. Und das auf eine objektive, standardisierte Weise, selbst wenn es zuvor keinerlei Vergleichsdaten für die betrachteten Tierarten gab“, schließt Müller. Die Methode birgt daher großes Potential für die Erforschung der Entwicklung und Evolution bisher nicht charakterisierter Tierarten.

Faktenübersicht:

  • Originalpublikation: N. Toulany, H. Morales-Navarrete, D. Čapek, J. Grathwohl, M. Ünalan & P. Müller (2023) Uncovering developmental time and tempo using deep learning. Nature Methods; doi: 10.1038/s41592-023-02083-8
  • Konstanzer Forschende entwickeln KI-Modell, das ohne menschliche Vorgaben und objektiv charakteristische Stadien und Tempo der Embryonalentwicklung von Tieren erfasst
  • Open Science: Der Twin-Network Open-Source-Code sowie Beispieldaten werden von den Autoren frei auf GitHub bzw. KonDATA zur Verfügung gestellt.
  • Förderung: Europäischer Forschungsrat (ERC), Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Max-Planck-Gesellschaft (MPG), European Molecular Biology Organization (EMBO), Interdisziplinäres Promotionskolleg Medizin (IZKF) der Universität Tübingen, Blue Sky Förderprogramm der Universität Konstanz