Aufstieg zum Familienmitglied
Presseinformation Nr. 92 vom 5. Juni 2012
„Im Gespräch“ mit Prof. Dr. Clemens Wischermann über das Forum „Tier und Geschichte“
Durch seinen Kater Leo inspiriert hat Prof. Dr. Clemens Wischermann an der Universität Konstanz das „Forum Tier und Geschichte“ ins Leben gerufen. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen von den Universitäten Wien und Zürich wurde damit die Basis geschaffen für die Erforschung der Geschichte der Beziehungen zwischen Mensch und Tier. Der Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte äußert sich in der aktuellen Ausgabe von „Im Gespräch“ über das Forum.
„Das Forum ist offen für alles Lebendige, nur die Abgrenzung zu den Pflanzen haben wir vorgenommen. Also werden Haustiere, Nutztiere in der Landwirtschaft, Tiere im Zoo und Zirkus, exotische Tiere und viele andere zum Thema“, gibt Clemens Wischermann einen Überblick. Grundsätzlich gebe es keinen Anfangspunkt, allerdings seien die meisten beteiligten Forscherinnen und Forscher in der Neuzeit tätig. „Schlusspunkt ist immer unsere jeweilige Gegenwart, denn von daher kommen die wichtigsten Anstöße“, sagt der Wissenschaftler. Unsere Gesellschaft habe sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten rasant in ihrem Verhältnis zum Tier verändert. Die feineren Unterschiede, die dabei zwischen den Klassen, Milieus, Religionen etc. bestünden, müssten aber erst noch herausgearbeitet werden.
Wischermann geht davon aus, dass Haustiere in den vergangenen 100 bis 150 Jahren den Menschen im Alltag immer näher gekommen sind. Diese Annahme begründet er damit, dass „einige Tiere, vor allem Katzen und Hunde, in dieser Zeit bis in den engsten Wohn- und Familienkreis vor allem der urbanen bürgerlichen Mittelschichten aufgenommen worden sind.“ Der Wissenschaftler weiter: „Ich nenne das den Aufstieg von Tieren zu Familienmitgliedern. Das kann an Quellen wie zum Beispiel Autobiographien oder Fotografien untersucht werden.“
Ist es für Prof. Dr. Wischermann ein Widerspruch, dass auf der einen Seite Haustiere dem Menschen persönlich immer näher gekommen sind, sie aber auf der anderen Seite abseits von Dörfern und Städten in Massen gehalten werden? „Das ist die typische Ambivalenz zwischen der Emotionalisierung der Beziehung zu manchen Tieren als quasi Familienmitglieder und auf der anderen Seite der massenhaften Haltung und Tötung in möglichst anonymisierten, nicht sichtbaren Formen zur Ernährung einer wachsenden und an Fleisch als Wohlstandindikator interessierten Bevölkerung. Wer weiß schon in Konstanz, wo der nächste Schlachthof ist“, fragt Wischermann. Dieser innere Widerspruch werde heute von immer mehr jüngeren Menschen als unerträglich empfunden, was eine neue Suche nach Lösungen zur Folge habe – beispielsweise in einer der kaum mehr überschaubaren Gründungen in der Animal-Rights-Bewegung oder in einer vegetarisch oder veganisch ausgerichteten Lebensführung.