Objekte

Wir stellen Schätze des Museums vor.


Der ‚Trostbrief‘ an die Angehörigen von Elisabeth Bär

von Raphaela Breisch

Während der Aktion T4 fielen tausende Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen der sogenannten ‚Euthanasie‘ zum Opfer. Die systematische Ermordung dieser Personen ging mit einer enormen Bürokratisierung einher. Dies betraf nicht nur die physische Auslöschung der Opfer, sondern auch die Auslöschung von Spuren und Informationen, die auf die tatsächlichen Todesumstände hingewiesen hätten. Von Anfang an handelte es sich um eine ‚Geheime Reichssache‘ – den führenden Köpfen der ‚Euthanasie‘ war somit immer bewusst, dass die Aktion keineswegs auf eine geschlossene Zustimmung aus der Bevölkerung treffen würde und mit Widerstand zu rechnen war. Deshalb entwickelten sie eine komplexe Tötungsbürokratie, welche die Vorgänge der Aktion T4 verschleiern sollte. In den Tötungsanstalten wurden Sonderstandesämter und sogenannte ‚Trostbrief-Abteilungen‘ geschaffen, welche Sterbeurkunden mit gefälschten Todesursachen sowie standardisierte ‚Trostbriefe‘ ausstellten und an die Angehörigen verschickten.1 Zudem erfolgte ein Aktenaustausch mit anderen Anstalten, wie Hartheim bei Linz oder Pirna-Sonnenstein. Sterbeurkunde und ‚Trostbrief‘ wurden dann von einer anderen Anstalt beurkundet und versandt, um die Nachverfolgung zu erschweren.2 Neben den Sonderstandesämtern wurde im Frühjahr 1940 auch die sogenannte ‚Absteck-Abteilung‘ eingeführt.3 Diese sollten verhindern, dass zu viele Sterbedokumente in einem Ort gleichzeitig ankamen.4 Die Geburts- oder Wohnorte der Ermordeten wurden auf einer Karte abgesteckt, damit die Todesdaten angepasst werden konnten und keine ‚Trostbriefe‘ gleichen Wortlauts an ein und denselben Ort versendet wurden.5

Bei dem hier vorliegenden Schreiben handelt es sich um einen ‚Trostbrief‘ an die Angehörigen von Elisabeth Bär, die am 02.10.1940 nach Grafeneck ‚verlegt‘ und am selben Tag dort ermordet wurde. Diese ‚Trostbriefe‘ folgten einem festen Schema; lediglich der Name, das Sterbedatum und die Todesursache mussten ausgetauscht werden. Trotzdem wurde versucht, die Briefe zum Zwecke der Tarnung individuell abzuändern.6

Der ‚Trostbrief‘ an die Angehörigen von Elisabeth Bär und die dazugehörige Sterbeurkunde kamen aus der Landesanstalt Hartheim bei Linz. Heute steht jedoch fest, dass sich Elisabeth Bär dort nie befunden hatte, sondern dass ein Aktenaustausch zwischen den Tötungsanstalten Grafeneck und Hartheim stattgefunden haben muss. Elisabeth Bär wurde am 02.10.1940 in Grafeneck ermordet – genau zwei Wochen vor dem angeblichen Sterbedatum im ‚Trostbrief‘. Die tatsächlichen Todesorte können heute anhand von Transportlisten nachvollzogen werden. Am 02.10.1940 wurde Elisabeth Bär von der Anstalt Liebenau nach ‚unbekannt‘ verlegt.7 Der Tag der ‚Verlegung‘ wird heute als eigentliches Todesdatum ermittelt, da die Patient*innen noch am selben Tag in Grafeneck ermordet wurden.8

Der Brief wird mit einer knappen Erklärung der angeblichen Todesumstände eingeleitet. Elisabeth Bär sei „infolge einer Lungenentzündung mit nachfolgender Kreislaufschwäche gestorben“ – wie scheinbar viele andere Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung. Es handelt sich dabei um eine häufig gewählte gefälschte Todesursache, da sie allgemein als ‚glaubhaft‘ galt.9 Denn damit der plötzliche Tod keine Aufmerksamkeit erregte, sollte eine möglichst ‚plausible‘ und ‚unverfängliche‘ Todesursache gewählt werden.10 Dafür hatten die Tötungsärzte eine Kurzgutachtensammlung zur Hand, die eigens für die Verschleierung der Morde erstellt worden war.11 Darin fanden sich Beschreibungen von 61 Krankheiten, die als Todesursache in Frage kamen; der Tötungsarzt musste nur noch eine ‚passende‘ auswählen.12 ‚Personalisiert‘ wurde die Auswahl anhand einer kurzer Untersuchung vor der Vergasung sowie eines Blicks in die Patientenakten, welche mit dem Transport der Patient*innen zur Tötungsanstalt gebracht werden mussten.13 Auf diese Weise sollte den Angehörigen eine wahrscheinliche Todesursache vorgelegt werden können. Trotzdem sind Fälle bekannt, in denen eine unmögliche Krankheit eingetragen wurde. Zum Beispiel der Tod durch einen Blinddarmdurchbruch bei einem Mann, der keinen Blinddarm mehr hatte.14

Der zweite Abschnitt des Schemabriefs sollte der ‚Beruhigung‘ der Angehörigen dienen.15 Dort finden sich beispielsweise ‚tröstende‘ Worte dieser Art:

Alle unsere ärztlichen Bemühungen waren leider vergebens. Er ist sanft und schmerzlos entschlafen. Bei der geistigen, unheilbaren Erkrankung Ihres Sohnes ist der Tod Erlösung für ihn und seine Umwelt.16

Bei ihrer schweren unheilbaren Erkrankung bedeutete das Leben für die Verstorbene eine Qual. So müssen Sie ihren Tod als Erlösung auffassen.17

Überraschenderweise wird im Schreiben an die Verwandten von Elisabeth Bär darauf verzichtet. Dies ist äußerst ungewöhnlich, da sich die Briefe normalerweise nur in formaler und nicht in inhaltlicher Hinsicht unterscheiden.18 Diesen Abschnitt empfanden Verwandte, die bereits über die Vorgänge der Aktion T4 Bescheid wussten, als besonders höhnisch, wie durch einen Protestbrief des Landesbischofs Wurm von 1940 überliefert ist.19

Den Angehörigen von Elisabeth Bär bleiben die ‚tröstenden‘ Worte erspart. Sie werden stattdessen direkt auf die Seuchengefahr hingewiesen, welche die sofortige Einäscherung des Leichnams erfordert habe. Elisabeth Bär habe sich in der Durchgangsanstalt Hartheim befunden, damit festgestellt werden könne, ob sie ‚Bazillenträgerin‘ sei. Schließlich seien ‚derartige Kranke‘ häufig Bazillenträger, sodass die Seuchengefahr so groß sei, dass die Einwilligung der Angehörigen nicht eingeholt werden müsse. Mit diesem Abschnitt sollte eine ‚glaubhafte‘ Erklärung für die sofortige Einäscherung der Ermordeten gegeben werden.

Eine Begründung für den fehlenden Nachlass folgt im Anschluss. Dieser sei bei der notwendigen Desinfektion so stark beschädigt worden, dass es sich nur noch um „Altmaterial“ handele, dessen Versand sich nicht mehr gelohnt hätte. Er wäre deshalb der NSV – der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt – übergeben worden. In anderen Fällen bekamen die Angehörigen die Möglichkeit, den Nachlass innerhalb von zwei Wochen mit einer Erbberechtigung zu verlangen, jedoch nicht ohne vorher auf den angeblich starken Wertverlust aufgrund der Desinfektion hingewiesen zu werden.

Der letzte Abschnitt behandelt den Umgang mit den sterblichen Überresten. Auf Wunsch könne die Urne mit der Asche kostenlos an einen gewünschten Friedhof übersendet werden. Dazu müssten sich die Angehörigen innerhalb von zwei Wochen melden. Heute ist bekannt, dass nicht die Asche der eigentlichen Person beigesetzt wurde, sondern ‚irgendwelche‘ Asche.20 Da sich Elisabeth Bär nie in Hartheim befunden haben kann, war es natürlich nicht möglich, ihre Asche von dort zu versenden. Zudem war der Verbrennungsofen dauerhaft in Betrieb; die Asche der Opfer wurde folglich nicht separiert und eine genaue Identifizierung der Überreste wurde dadurch unmöglich.21 Die Angehörigen von Elisabeth Bär forderten die Urne an und setzten sie auf dem Tettnanger Friedhof bei, jedoch ist davon auszugehen, dass die Urne die Überreste verschiedener Opfer aus Hartheim enthält – jedoch keine von Elisabeth Bär.22

Unterzeichnet wurden die Trostbriefe und Sterbeurkunden anhand von Decknamen. Im Falle der Elisabeth Bär wurde die Sterbeurkunde vom Standesbeamten ‚Reichl‘ unterschrieben. Es handelt sich dabei um den Decknamen des SS-Mannes Franz Reichleitner, einer der führenden Personen in der Tötungsanstalt Hartheim.23 Die Unterschrift auf dem ‚Trostbrief‘ konnte bisher keiner Person zugeordnet werden.24

Eine Reaktion der Angehörigen von Elisabeth Bär ist nicht überliefert. Dies ist nicht verwunderlich, da Reaktionen auf die ‚Trostbriefe‘ heute nur noch vereinzelt nachvollziehbar sind.25 Eine Büroangestellte aus Hartheim berichtete Folgendes: „Manche schimpften, manche dankten dafür, die meisten antworteten überhaupt nicht.“26 Die Gedanken der stumm Gebliebenen können heute leider nicht mehr nachvollzogen werden. Viele Briefe, die bis heute erhalten sind, zeugen jedoch vom Wissen der Bevölkerung.27 Manche äußern klare Kritik oder zumindest Zweifel, während andere Resignation oder Hinnahme ausdrücken.28

Somit waren die Verschleierungsversuche der ‚Euthanasie‘-Behörden nur bedingt erfolgreich. Trotz penibler Errichtung falscher Organisationen und Behörden und einem minutiösen bürokratischen Aufwand konnte die systematische Ermordung nicht geheim gehalten werden. Anstalten und Angehörige wollten über den Verbleib der Patient*innen Bescheid wissen. Zu offensichtlich war der organisierte Abtransport und immer wieder unterliefen den Behörden bürokratische Fehler, welche Angehörige stutzig gemacht haben mussten. Auch im ‚Trostbrief‘ von Elisabeth Bär findet sich ein Hinweis über die nachlässige Arbeit der Behörden. Der Brief ist an die Mutter gerichtet – diese war jedoch bereits 1914 verstorben.29

Literaturverzeichnis

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Friedel, Josef H.: Gegen das Vergessen. 1 Dokumente zum Euthanasiegeschehen. Meckenbeuren: Kulturkreis Meckenbeuren 2009 (=Materialien zur Ortsgeschichte Meckenbeuren, Bd. 7).

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Kaul, Friedrich Karl: Die Psychiatrie im Strudel der „Euthanasie“. Ein Bericht über die erste industriemäßig durchgeführte Mordaktion des Naziregimes. Frankfurt/Main: Europ. Verl.-Anst 1979.

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Kohl, Walter: Die Pyramiden von Hartheim: „Euthanasie“ in Oberösterreich 1940 bis 1945. Grünbach: Buchverlag Franz Steinmaßl, Edition Geschichte der Heimat 1997.

Morlok, Karl: Wo bringt ihr uns hin? Geheime Reichssache Grafeneck. Stuttgart: Quell-Verlag 1985.

Rotzoll, Maike (Hg.): Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart ; [ … Tagung im September 2006 im Internationalen Wissenschaftsforum in Heidelberg. Paderborn: Schöningh 2010.

Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ›lebensunwerten Lebens‹, 1890–1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987 (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 75).

Stadtarchiv Tettnang: „Familienregister“.

Stadtarchiv Tettnang: „Handschriftlicher Nachweis über Inschrift der Urne Elisabeth Bärs“.

Stöckle, Thomas: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland. Tübingen: Silberburg-Verlag 2002.

Stöckle, Thomas: „Die Reaktionen der Angehörigen und der Bevölkerung auf die >>Aktion T4<<“, in: Rotzoll, Maike (Hg.): Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart ; [ … Tagung im September 2006 im Internationalen Wissenschaftsforum in Heidelberg. Paderborn: Schöningh 2010, S. 118-124.

1 Vgl.: Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland. Tübingen: Silberburg-Verlag 2002, S. 120.

2 Vgl.: Ebd., S. 125.

3 Vgl.: Ebd., S. 126-127.

4 Vgl.: Ebd.

5 Vgl.: Josef H. Friedel (Hg.): Gegen das Vergessen. Die NS-Verbrechen der Euthanasie an Menschen der Stiftung Liebenau. Meckenbeuren: Kulturkreis Meckenbeuren e.V., Arbeitskreis Heimatgeschichte 2008, S. 33.

6 Vgl.: Ernst Klee: »Euthanasie« im Dritten Reich. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 20102, S. 148.

7 Vgl.: Archiv Liebenau: „Ordner A/5“.

8 Vgl.: Stöckle, Grafeneck 1940, S. 112.

9 Vgl.: Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin: Berlin Verlag 1997, S. 176.

10 Vgl.: Friedrich Karl Kaul: Die Psychiatrie im Strudel der „Euthanasie“. Ein Bericht über die erste industriemäßig durchgeführte Mordaktion des Naziregimes. Frankfurt/Main: Europ. Verl.-Anst 1979, S. 87.

11 Vgl.: Ebd.

12 Vgl.: Ebd., S. 87-89.

13 Vgl.: Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ›lebensunwerten Lebens‹, 1890–1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 206.

14 Vgl.: Stöckle, Grafeneck 1940, S. 128.

15 Vgl.: Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid, S. 181.

16 Stöckle, Grafeneck 1940, S. 124.

17 Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid, S. 181.

18 Vgl.: Ebd., S. 180.

19 Vgl.: Karl Morlok: Wo bringt ihr uns hin? Geheime Reichssache Grafeneck. Stuttgart: Quell-Verlag 1985, S. 86.

20 Vgl.: Stöckle, Grafeneck 1940, S. 130.

21 Vgl.: Klee, »Euthanasie« im Dritten Reich, S. 147.

22 Vgl.: Stadtarchiv Tettnang: „Handschriftlicher Nachweis über Inschrift der Urne Elisabeth Bärs“.

23 Vgl.: Walter Kohl: Die Pyramiden von Hartheim: „Euthanasie“ in Oberösterreich 1940 bis 1945. Grünbach: Buchverlag Franz Steinmaßl, Edition Geschichte der Heimat 1997, S. 110.

24 Vgl.: Archiv Amtsgericht Tettnang: „Bestand Vormundschaftsgericht, Aktenbund 499“.

25 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung vgl.: Thomas Stöckle: „Die Reaktionen der Angehörigen und der Bevölkerung auf die >>Aktion T4<<“, in: Maike Rotzoll (Hg.): Die nationalsozialistische "Euthanasie"-Aktion "T4" und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart ; [ … Tagung im September 2006 im Internationalen Wissenschaftsforum in Heidelberg. Paderborn: Schöningh 2010, S. 118-124.

26 Zitiert nach: Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid, S. 184.

27 Verschiedene Briefe sind überliefert in: Josef H. Friedel: Gegen das Vergessen. 1 Dokumente zum Euthanasiegeschehen. Meckenbeuren: Kulturkreis Meckenbeuren 2009.

28 Vgl.: Ebd.

29 Vgl.: Stadtarchiv Tettnang: „Familienregister“.

Schulklasse um 1900 (Fotografie)

von Madeleine Chevalier

Auf dem 1978 abgegebenen Bild aus dem Inventar Frick mit der Nummer M103 sieht man eine Gruppe von Schülern mit ihrer Lehrerin (ganz links in der vierten Reihe von unten) brav aufgereiht stehen. Die Fotografie wird von einem Rahmen aus dunklem, gealtertem Holz eingefasst. Mit ihm misst das Bild 27,5 mal 30 cm und ohne ihn 13,5 mal 20 cm.

Aufgenommen wurde das Bild Schätzungen zufolge zwischen 1895 und 1905. Eine Zeit in der es gut um Deutschland steht. Genauer gesagt um das “Deutsche Kaiserreich“, welches zwischen 1888 und 1918 unter der Macht Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußens regiert wird. Die Bevölkerungsdichte steigt innerhalb von zwanzig Jahren (1890-1910) von 49,241 Millionen auf 64,568 Millionen an im Reichsgebiet1. Auch in Tettnang stiegen die Zahlen und aus den 1880 noch 2038- werden schnell 2651 Bewohner im Jahr 1910. Durch den Hopfenanbau und die Anbindung an das Bahnnetz 1895 gewinnt Tettnang rasch an wirtschaftlicher Stärke2. Daher schickt man seine Kinder nun (1900) zur Schule, um eine vernünftige Ausbildung zu erlangen.

Das Torschloss und das Tor, vor welchen die Kinder hier stehen, werden zeitweise als Unterrichtsräume eingerichtet. Zwischen 1570 und 1783 stellte die zweistöckige Schule in der Schulstraße Nr. 10 das Hauptgebäude da. Diese wird jedoch mit dem Anstieg an Schülern zu klein. Bereits im Jahr 1783, als die allgemeine Schulpflicht durch Kaiser Joseph II. eingeführt wird3, beginnt eine aufkommende Bildungsbegierde4. Geschichtlich betrachtet befinden wir uns mitten in der Aufklärung. Diese ist bekannt dafür die Bildung des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. So wird das heutige Stadtmuseum im Tor und Torschloss seit 1783 bis zur Eröffnung eines Museums als Bildungsstätte genutzt. Um 1900 schicken Eltern fast selbstverständlich ihre Kinder zur Schule, welche oft täglich einen sehr weiten Weg beschreiten müssen. Besonders für Mädchen ist dieser Pfad steinig, denn ihre Bildung wird noch als unnütz und überflüssig abgetan. Jedoch in wohlhabenderen Gegenden, wie unter anderem in Tettnang, gewährt man Mädchen eine Grundausbildung bis etwa zu ihrem zwölften Lebensjahr5. Dies erklärt, weshalb von den 81 Kindern ganze 38 Mädchen sind. Ein eher untypischer Anblick für eine Fotografie jener Zeit.

Falls jemand von Ihnen sich an diese Fotografie erinnert oder mehr Informationen kennt, melde sich bitte bei dem Stadtmuseum Tettnang.

1

Vgl. Bevölkerungsentwicklung. Bevölkerungszahl in Millionen, 1871 bis 2019, in: Bundeszentrale für politische Bildung (10.08.2020). URL: www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61532/bevoelkerungsentwicklung (09.09.2020).

2

Vgl. Kaiser, Annegret: Historische Ortsanalyse Tettnang, in: Regierungspräsidium Stuttgart, Referat Denkmalpflege(31.03.2018), URL: virtuell.afww.uni- konstanz.de/pluginfile.php/37827/mod_resource/content/1/Annegret%20Kaiser%20Historische%20Ortsanalyse%20Tettnang.pdf (20.09.2020).

3

Vgl. Torschloss, in: Stadt Tettnang (unbekannt). URL: www.tettnang.de/de/besuchen/sehenswuerdigkeiten/stadtrundgang/torschloss/ (22.09.2020).

4

Vgl. Erstes Tettnanger Schulhaus, in: Stadt Tettnang (unbekannt). URL: f2635201.td-fn.net/tt/tourismus- freizeit/sehenswuerdigkeiten-und-museumsrundgang/historischer-stadtrundgang/Schulhaus.php (22.09.2020).

5 Vgl. Pfiffl, Rudolf, Anton Herget: Geschichte der Erziehung und des Unterrichts. Wien. Österreichischer Bundesverlag 31930.


Tettnang 1694 - Zeichnung von 1698

von Sandra Budwillat

Eines der im Stadtmuseum Tettnang erhaltenen Stücke ist eine schwarz-weiße Zeichnung der Stadt Tettnang aus dem 17. Jahrhundert. Inklusive ihres silbernen Rahmens misst sie 31 x 19,5 cm1. Die Ansicht auf Tettnang trägt die in altdeutscher Schrift geschriebene Unterschrift „Tettnang im Jahr 1694“. Trotz dieser Inschrift soll die Zeichnung etwa 1698 entstanden sein, da diese keine aus sich selbst herausgehende Arbeit ist, sondern lediglich als Ausschnittszeichnung aus einem Ölgemälde von Johann Georg Glückher hervorgeht. Dieses zwischen 1694 und 1698 entstandene Gemälde diente damals der Kapuzinerkirche in Langenargen als Hochaltarblatt. Heute hängt dessen Original im Rathaus Tettnangs2. Die Zeichnung gibt die wenigen Gebäude Tettnangs auf dessen hügeligen Geländes zu erkennen, welches sich hinter einem weiten Feld und einem rechts liegenden Hang voller Bäume erstreckt. Ganz links ist hier die Ruine der Burg Tettnang zu erkennen, welche 1633 im Zuge des dreißigjährigen Krieges durch die Schweden zerstört wurde3. Interessant hierbei ist es, dass dies die einzige zeitgenössische Darstellung der Burg Tettnang ist, da deren Existenz sonst allein durch schriftliche Quellen belegt wurde. Umgeben ist die Burg von ihrem Burggraben, der heute im Bereich des Ehrenhofes oder der Schlossstraße zu verorten wäre4. Das in der Zeichnung mittig zu verortende, große Gebäude, ist das Alte Schloss. Dieses wurde von den Montforter Grafen später aufgrund deren Bedürfnisses nach Prunk und Ansehen, durch das Neue Schloss ersetzt. Heute dient das Alte Schloss Tettnang als Rathaus. Umgeben ist dieses von weiteren, kleineren Gebäuden, die durch die häufigen Zerstörungen, die Tettnang im Laufe der Geschichte erleiden musste, nicht mehr erhalten sind. Links neben der Kirche ist vermutlich das Torschloss der Stadt zu erkennen, welches heute zum Stadtmuseum umfunktioniert wurde5. Die Kirche selbst, soll wohl die Galluskirche darstellen, welche heute jedoch anstatt der spitzen Kirchturmspitze eine Zwiebelhaube trägt6. Regiert wurde Tettnang zu dieser Zeit von Graf Anton III.7, welcher ganz im Stil der Montforter zu dessen hoher Verschuldung und letztendlich dem finanziellen Ruin der Stadt beitrug.

Abbildung 1:Tettnang im Jahr 1694, 1698, Zeichnung,31 x 19.5 cm, Tettnang, Stadtmuseum (abgebildet in: Burmeister, Karl Heinz: Geschichte der Stadt Tettnang, Konstanz 1997).

Abbildung 2:Hochaltarblatt der Kapuzinerkirche, 1698, Öl auf Leinwand, Tettnang, Rathaus (Foto von Florian Schneider, Stadtarchivar)

Abbildung 3: Hochaltarblatt der Kapuzinerkirche, 1698, Öl auf Leinwand, Tettnang, Rathaus (Foto von Florian Schneider, Stadtarchivar)

1 Datenbank Stadtmuseum Tettnang, Objekt M18.

2 Vgl. Burmeister, Karl Heinz: Geschichte der Stadt Tettnang, Konstanz 1997, S. 105.

3 Vgl. Kaiser, Annegret: Historische Ortsanalyse Tettnang, Stuttgart 2018, S. 6.

4 Schneider, Florian: persönliche Kommunikation.

5 Ebd.: persönliche Kommunikation.

6 Ebd.: persönliche Kommunikation.

7 Vgl. Burmeister, Karl Heinz: Geschichte der Stadt Tettnang, Konstanz 1997, S. 101.


Terracotta-Statuette des Kunstprojektes Grafeneck 10.654 von Jochen Meyder

von Pia Emmrich


Die aus Terracotta geformte Statuette ist knapp 20 Zentimeter hoch und wurde auf einem kleinen hölzernen Sockel montiert. Der aufrecht stehende Körper der männlichen Figur ist nackt, das Geschlecht ebenso wie Hände und Füße lediglich angedeutet. Die Arme sind eng am Körper gehalten und münden in den Ansätzen von Händen auf den Oberschenkeln der Figur. Die Beine selbst liegen ebenfalls eng und lückenlos aneinander – der gesamte frontal ausgerichtete Körper wirkt so wie eine kompakte Einheit. Das Gesicht der männlichen Figur ist den Betrachtenden ebenso frontal zugewandt und weist in seiner Modellierung von Augen, Nase, Ohren und Mund individuelle Züge auf. Die raue Oberfläche der Terracotta, deren Materialität sich durch das unglasierte Brennen des Tons auszeichnet, weist im Bereich des Torsos im Zentrum der Figur Farbvariationen und eine größere helle Stelle auf. Durch die natürlich-unbearbeitet wirkende und raue Oberfläche der Statuette scheint der männlichen Figur ein ebenfalls ‚roher‘ und unverstellter Charakter verliehen zu werden. Sie bietet so durch ihre offene Gestaltung eine Projektionsfläche für die Betrachtenden und ermöglicht eine empathische Identifikation mit der durch die Figur repräsentierten Person.1

Diese Terracotta-Statuette ist eine von 10.654 Figuren, welche der aus Münsingen-Dottingen stammende und damit in unmittelbarer Nähe zu Grafeneck beheimatete Künstler Jochen Meyder im Rahmen seines Kunstprojekts Grafeneck 10.654 jeweils einzeln gefertigt und individuell modelliert hat.2 Sie steht stellvertretend für eine der 10.654 Personen, die 1940 im Rahmen der sogenannten ‚Euthanasie‘-Morde der Aktion T4 in Grafeneck den Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Auf dem Gelände des dortigen Schlosses Grafeneck, der ersten von insgesamt sechs Tötungsanstalten im Gebiet des Deutschen Reiches, wurden vom 18. Januar bis zum 13. Dezember 1940 die Menschen in einer hierfür errichteten Gaskammer systematisch ermordet. Die Opfer kamen in den ‚Grauen Bussen‘ der GeKraT, der Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft, aus Heil- und Pflegeeinrichtungen aus ganz Süddeutschland nach Grafeneck – Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen jeden Geschlechts und Alters.

Dieses grausame Verbrechen und die unvorstellbar große Zahl der Opfer – knapp 11.000 Ermordungen in 11 Monaten – möchte Jochen Meyder mithilfe seines künstlerischen Projekts zugänglich und begreifbar machen. Seine eigenen Recherchen zu den Geschehnissen in Grafeneck machten ihm wiederholt deutlich, dass es in Bezug auf die Opfer nicht um eine abstrakte Zahl gehen darf, denn hinter dieser anonymen Masse der ermordeten Menschen stehen 10.654 individuelle Leben und Einzelschicksale.3 Daher entschloss sich Meyder, jede seiner 10.654 Figuren nach der Verwendung einer Halbform anschließend einzeln fertig zu modellieren und jeder ein eigenes Gesicht zu verleihen. Damit soll den Personen, für welche die Figuren eine stellvertretende Position einnehmen, in deren Individualität ebenfalls ein Stück ihrer Identität zurückgegeben werden können.4 Das Material des gebrannten Tons, aus welchem die Statuetten geschaffen wurden, rekurriert dabei ebenso auf das Schicksal der Opfer, denn „auch die Figuren gehen durch das Feuer“5. Meyder charakterisiert den Zustand der Opfer zudem als „anonyme[s] Asche-Dasein“6, welches die Terracotta-Statuetten widerspiegeln und gleichzeitig auflösen sollen.

Die Ausstellung Grafeneck 10.654 und ihre Protagonist*innen können im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Grafeneck besichtigt werden. Die Figuren liegen dort aufgebahrt und lose übereinandergeschichtet in Metallregalen vor der Glaswand im Eingangsbereich. Der Ausstellungsraum wurde durch die Installation zunächst verdunkelt – der Blick ins Freie für die Besuchenden versperrt. Meyder bezweckte hiermit eine physische Erfahrbarkeit der Menge der Opfer und eine Vermittlung des Bedrückenden des Geschehenen für die Besucher*innen. 7 Die Besuchenden sind außerdem dazu eingeladen, eine Figur in die Hand und aus dem Regal zu nehmen, um so ein Einzelschicksal aus der Masse der Opfer herauszulösen.8 Gleichzeitig wird dieses im (Be-)Greifen der Statuette adressierbar und schafft die Möglichkeit einer empathischen Reflexion. Weiterhin ist auch die Mitnahme einer Figur ausdrücklich erwünscht, da Meyder nicht nur jedem Opfer eine individualisierte Figur widmen und die repräsentierten Personen so aus ihrer Anonymität befreien, sondern selbigen ebenfalls eine Stimme schenken und einen Ort vermitteln möchte. Meyder erhofft sich, dass viele Besucher*innen einer Figur ein neues Zuhause schenken und damit zur Mahnung und Erinnerung an die Geschehnisse beitragen.9 Dazu werden im Dokumentationszentrum außerdem kleine Sockel für eine leichtere Präsentation der Statuetten angeboten, welche von Bewohner*innen des heutigen Samariterstifts Grafeneck aus Abfallholz von Schreinereien im Umkreis gefertigt und mit einem Stift versehen wurden, „damit die Figuren wieder auferstehen können“10. Die Terracotta-Statuetten sind als Geschenk des Künstlers mit der Hoffnung verbunden, dass die Besucher*innen sich in einer Art Patenschaft für die Figur gegen die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen einsetzen.11 Je mehr Figuren und deren Geschichten ihren Weg in die Welt finden und somit auch ihre Botschaft eines friedlichen Zusammenlebens aller Menschen in ihrer Diversität in die Welt tragen können, umso mehr Licht kann schließlich auch in den Ausstellungsraum zurückkehren – „der Blick wird wieder frei“12.

Zuletzt soll erwähnt werden, dass die ‚Euthanasie‘-Morde der Aktion T4 ebenfalls einen schmerzlichen Teil der Tettnanger Stadtgeschichte bilden, denn auch aus Tettnang und Umgebung stammende oder dort wohnhafte Menschen wurden Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen. Diese Personen lebten zuvor unter anderem in den damaligen Heil- und Pflegeanstalten wie der Staatlichen Heil- und Pflegeanstalt Weissenau, der katholischen Heil- und Pflegeanstalt Liebenau oder der evangelischen Heil- und Pflegeanstalt Pfingstweide und kamen über Zwischenanstalten wie die Heil- und Pflegeanstalten Schussenried oder Zwiefalten nach Grafeneck. Im Rahmen des Projekts Schuld und Schulden. Neugestaltung des Tettnanger Stadtmuseums sollen auch die Geschichten und Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus in Tettnang in den Blick genommen werden. Die Terracotta-Statuette des Kunstprojekts von Jochen Meyder steht in diesem Kontext folglich nicht nur für eines der in Grafeneck ermordeten Opfer der Aktion T4, sondern könnte ebenfalls als symbolischer Stellvertreter der aus Tettnang stammenden Opfer der unmenschlichen ‚Euthanasie‘-Verbrechen und deren individueller Biographien einen Platz im Tettnanger Stadtmuseum finden.

1

Vgl. Jutta Fischer: „Grafenecker Brief Nr.11/2016. Kunstprojekt „Grafeneck 10654“ von Jochen Meyder“, unter: jochenmeyder.wordpress.com/2017/02/11/beitrag-jutta-fischer-kunsthistorikerin/ [20.12.2020].

2

Vgl. hier und im folgenden Absatz Jochen Meyder; Gedenkstätte Grafeneck: „Kunstprojekt Grafeneck 10.654. Gedenken. Mahnung. Hoffnung von Jochen Meyder“, unter: www.gedenkstaette-grafeneck.de/startseite/gedenkstaette/kunstprojekt+grafeneck+10_654.html [20.12.2020].

3

Vgl. Jochen Meyder: „Grafeneck – Gedanken von Jochen Meyder“, PDF unter: www.wir-sind-mittendrin.de/10654.htm [20.12.2020], S. 1.

4 Vgl. ebd., S. 1-2.

5 Ebd., S. 5.

6

Jochen Meyder: „„Grafeneck 10654“ als diffundierendes Mahnmal“, unter: jochenmeyder.wordpress.com/2017/07/27/ [20.12.2020].

7 Vgl. Meyder, „Grafeneck – Gedanken von Jochen Meyder“, S. 2.

8 Vgl. hier und im Folgenden Meyder; Gedenkstätte Grafeneck, „Kunstprojekt Grafeneck 10.654“.

9 Vgl. Meyder, „„Grafeneck 10654“ als diffundierendes Mahnmal“.

10

Gedenkstätte Grafeneck Dokumentationszentrum: „Einladung Kunst-Projekt Jochen Meyder »Grafeneck 10654«“, PDF unter: www.wir-sind-mittendrin.de/10654.htm [20.12.2020].

11 Vgl. Meyder, „„Grafeneck 10654“ als diffundierendes Mahnmal“.

12 Ebd.

Hölzerne Zigarrenpresse (20. Jh.)

von Stella Sundheimer


Die hölzerne Zigarrenpresse der Firma Hart & Hertel trägt die Aufschrift D. R. G. M. – Hart & Hertel – No 30928 – Schwetzingen bei Mannheim – 31. Sie hat 20 Rillen, in denen Zigarren gepresst werden können. Sie wurde zur Herstellung von Zigarren mit Tabak aus Tettnang verwendet. Heutzutage wird dort jedoch kein Tabak mehr angebaut. Nach wie vor gibt es in in Deutschland Regionen mit Tabakpflanzen, vor allem im rheinland-pfälzisch/baden-württembergischen Grenzgebiet, da der Südwesten relativ günstige natürliche Standortbedingungen bietet. Angesichts der hohen Produktionskosten im Vergleich zu den Hauptanbauländern – die Volksrepublik China, Brasilien und Indien – gehen die Zahlen der deutschen Tabakbetriebe allerdings deutlich zurück.
Um die Funktion dieser Presse bei der Zigarrenherstellung zu verstehen, ist es wichtig, die einzelnen Produktionsschritte vom Aussähen der Tabakpflanze bis zum fertigen Produkt zu betrachten.
Zunächst müssen die Samen, die extrem klein sind – ein Gramm Tabak-Saatgut besteht aus circa 10.000–12.000 Körnern –, sechs bis acht Wochen unter sehr geschützten Bedingungen zu Setzlingen herangezogen werden. Dann werden sie auf freie Felder umgepflanzt und, sobald eine bestimmte Höhe erreicht ist, „geköpft“. Das bedeutet, dass die Blüten abgeschnitten werden, um den Blättern keine wertvollen Nähr- und Aromastoffe zu entziehen. Insgesamt braucht die Tabakpflanze in etwa vier Monate vom Umsetzen der Pflänzlinge bis zur Ernte. Dabei ist sie auf eine warme Temperatur von mindestens 15°C, ausreichende Bewässerung und auf Pflanzenschutzmittel gegen Pilzbefall und ähnliches angewiesen. Die Ernte erfolgt in drei Schritten: Zuerst werden die sogenannten Volado-Blätter vom unteren Teil der Pflanze gepflückt. Sie bekommen am wenigsten Sonnenlicht und werden deshalb bei der Zigarrenherstellung hauptsächlich für die Einlage verwendet. Im zweiten Schritt werden die Blätter vom mittleren Pflanzenteil – die Seco-Blätter – geerntet, die eine mittlere Stärke haben. Zuletzt werden die obersten Blätter – Ligero genannt – gepflückt. Sie sind die kräftigsten und intensivsten, da sie der Sonne am stärksten ausgesetzt waren. Auch heute noch erfolgt die Ernte größtenteils per Hand.
Anschließend werden die Blätter getrocknet und fermentiert, was je nach Sorte, gewünschter Weiterverarbeitung und Art der Trocknung zwischen vier Wochen und einem Jahr dauern kann. Wenn dieser Vorgang abgeschlossen ist, werden sie in die Fabrik oder die Lagerhäuser geschickt, in denen sie noch mehrere Jahre reifen können. Die Zusammenstellung des „Blend“, also der exakten Menge der verschiedenen Blätter, bestimmt den Geschmack und die Stärke der Zigarre, die nun im nächsten Schritt von Hand in zwei bis drei Umblätter gerollt wird. Um die „Puppe“ in Form zu bringen, wird sie nun in die dafür vorgesehene Mulde gelegt und gepresst. Die Erfindung einer solchen Presse hat die Herstellung von Zigarren deutlich vereinfacht, da die gleichmäßige und glatte Form gewährleistet wird.
Bevor im letzten Arbeitsschritt die Zigarre in das besonders schöne und speziell angebaute Deckblatt eingerollt und der Kopf mit einem speziellen Zigarrenleim festgeklebt wird, muss der überstehende Tabak abgeschnitten werden. Je nach Qualität werden die fertigen Zigarren direkt verpackt und verkauft oder noch einige Jahre gelagert, um den Geschmack zu verfeinern.
Das Tabakmesser im Stadtmuseum ist allerdings nicht für Zigarren gedacht, sondern zum Zurechtschneiden des Tabaks für das Rauchen in der Pfeife. Hier wurde das Metallrohr mit Tabakblättern gefüllt, mit dem Holzstab nach vorne geschoben und anschließend durch eine Hin-und-her-Bewegung des Messers in kleine Blattstückchen geschnitten.

Quellen:

www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/20100105


www.cigarworld.de/zigarrenlexikon/tabak-anbauen


www.noblego.de/lexikon/zigarren-selber-machen/


www.noblego.de/lexikon/zigarren-rollen/


www.cigarworld.de/pfeifentabak/pfeifentabak


youtube.com/watch


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Das Aquarell ‚Hund auf blauem Kissen‘ (datiert auf 1911)

von Clara Kapherr


Dieses Aquarellbild, mit der Bezeichnung ‚Hund auf blauen Kissen‘, wirkt auf den ersten Blick eher unscheinbar, was es vermutlich dem pompös wirkenden Rahmen zu verdanken hat. Doch genau dieses Gemälde hat es in sich.

Auf bis heute unbekannte Weise fand es seinen Weg in das Gegenstandsammelsurium des Stadtmuseum Tettnang und wirft in vielerlei Hinsicht Rätsel auf.

Auf der Vorderseite ist es signiert mit dem anonymen Kürzel ‚A K II‘. Auf der Gemälderückseite steht mit unbekannter Handschrift folgendes geschrieben:

Aquarell (Original).

In Signierung A K = Albert Kappis.

1911

geb. Wildberg bei Nagold 1836

+ 1914 in Stuttgart‘.

Dieser Handschrift folgend, wird das Gemälde auf das Entstehungsjahr 1911 datiert, sowie dem Maler Albert Kappis (1836-1914)1 zugeschrieben, derzeit das einzige Gemälde im Stadtarchiv Tettnang, das diesem Maler zugeordnet wird. Doch von wem stammt diese Handschrift auf der Gemälderückseite?

Nach aktuellem Forschungsstand des Stadtmuseums stammt diese weder aus dem Museum noch von Kappis selbst. Wer der Absender dieser Handschrift war, ist damit bis heute unbekannt geblieben. Könnte sie vom Vorbesitzer stammen? Einzig die der Handschrift entnehmbare Information als behaupteter wahrheitsgetreuer Inhalt über das Gemälde reicht als Beweis für die tatsächliche Originalität und Zuschreibung zu einem Künstler nicht aus und wirft damit unmittelbar die Möglichkeit einer Fälschung in den Raum,- übrigens ein Thema, das so alt ist wie die Kunst selbst. Doch woher kommen die Zweifel um die genannte Zuschreibung?

Schaut man in die Vita des im Jahr 1836 in Wildberg im Schwarzwald geborene Maler und Grafiker Albert Kappis, so scheint dieses Aquarell nämlich so gar nicht in dessen Oeuvre zu passen. Kappis, einer der bedeutendsten schwäbischen (Landschafts-)Maler des 19. Jahrhunderts, hob den schwäbischen Impressionismus mit aus der Taufe, ein zu seiner Zeit komplett neuer Malstil, der sich an die seit dem frühen 19.Jahrhundert praktizierende moderne impressionistische Freiluftmalerei der frz. Barbizonmaler anlehnt. ‚Schwäbisch‘ deshalb, da Albert Kappis sowohl in seiner Kunst als auch in seiner Aufenthaltszeit dem ‚Schwabenländle‘, besonders der Bodenseeregion zu Lebzeiten treu war. Hier fand er Lieblingsmotive für seine Bilder, wie z.B. Seemotive mit Ufer, Fischerboote mit Fischern oder Bauern bei der Ausfahrt, Segelboote oder sich spiegelnde Wolkenformationen auf der Wasseroberfläche. Aber auch die Schwäbische Alb und Umgebung nahm er in vielen seinen Bildern auf. Dabei legte er besonderen Wert auf das spontane Einfangen eines wahrgenommenen Moments, bei dem er immer auf eine harmonische Einheit zwischen Natur, Tier und Mensch bedacht war. Natürlichkeit schien sein Credo zu sein, was im unmittelbaren Vergleich mit dem künstlich wirkenden Aquarell-Hund bei dem ein oder anderen erste offensichtliche Zweifel über eine Zuschreibung sähen wird…

Zum vorliegenden Gemälde:

Das recht kleine Aquarellbild besitzt mit Rahmen eine Höhe von 16,5 cm, ohne Rahmen misst es eine Höhe von 11 cm. Die Breite mit Rahmen beträgt: 19,5 cm und ohne Rahmen: 14 cm.

Zusehen ist ein bildmittig auf einem großen blauen Kissen drapierter aufrecht sitzender Hund, welcher seiner Mimik zu entnehmen, höchst angespannt eine Biene in Augenschein nimmt, die vom Betrachter aus rechts vor dessen linken Ohr herumschwirrt. Ein roter einseitig zurückgebundener gemalter Vorhang im Hintergrund rahmt diese innere Bildszene ein, welche wiederum durch eine schwarze Halbkugelförmige Linienführung, die zudem in die Bildmitte pfeilspitzig nach unten verläuft, vom ‚äußeren Bild‘ separiert wird und damit der Effekt eines ‚Bild im Bild‘ entsteht. Das ‚äußere Bild‘ ziert dabei allerlei florale Ornamente, sowie einen Singvogel, der auf der rechten Bildseite auf einem Vogelbeerenstrauch sitzt und mit Hund und Biene eine kompositionelle, korrespondierende sowie möglicherweise auch eine symbolische Einheit bildet.

Was die Malweise betrifft so wurden alle abgebildeten Details mit skizzenhaft wirkender schwarzer Pinselführung vorgemalt und mit Aquarellfarbe bunt coloriert.

Dem Betrachter mag an dieser Stelle die Assoziation einer Buchillustration kommen, denn ein gewisser ‚Kitsch‘ lässt sich hier nicht leugnen.

Was hat dieses ‚Hunde-Aquarell‘ mit Tettnang zu tun? Dass die Stadt Tettnang nachweislich schon seit ca. 1409 einen Hund als Motiv im Siegel- und Wappen enthält, ist spätestens seit der 1997 veröffentlichten umfangreichen ‚Geschichte der Stadt Tettnang‘ von Karl Heinz Burmeister bekannt2. Vergleicht man allerding diverse Abbildungen dieses Hundemotivs mit dem ‚Aquarell-Hund‘, so scheint es kaum Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Hunde-Typen zu geben. Die ‚Tettnanger Bracke‘ ist zurückzuführen auf die jahrhundertealte Vorliebe der Grafen Montfort für die Jagd und zeichnet sich vordergründig aus durch folgende Merkmale: schwarz, in springender Position, weit aufgerissene Augen und Maul, bei dem man in manchen Varianten das Gebiss sieht, sowie die rote hervorstechende Zunge. Dabei trägt diese in fast allen Varianten ein Halsband mit Ringschlaufe. Das auffallende rote Halsband mit den 6 goldenen Glöckchen sowie der Terrier- Ähnlichkeit,-u.a. einer unter den Jagdhunden aufgeführte Hunderasse, könnte den Aquarell-Hund als eine mögliche Jagdbracke identifizieren, lässt man alle übrigen offensichtlichen Unterschiede wie z.B. die liegende Position oder die florale Umgebung sowie das Fehlen einer hervorstechenden roten Zunge außen vor.

Was also hat der Betrachter hier vor sich? Für eine Kappis-Fälschung hätte sich hier wohl eher ein anderes Motiv gelohnt. Zudem enthält das Aquarell auch kein ligiertes Monogramm, u.a. ein Kappis´sches Erkennungszeichen. Auch der Stil scheint keine impressionistischen Züge aufzuweisen. War es womöglich eine Auftragsarbeit für einen Liebhaber der alten klassizistischen Schule?

Man kann somit davon ausgehen, dass es sich sehr wahrscheinlich um ein Original handelt, doch welcher andere Künstler der zur selben Zeit wie Kappis in der hiesigen Gegend lebte, hatte die gleichen Kürzel ‚A K‘?

Sowohl dieser Aquarell- als auch der Tettnanger Hund scheinen also ein Geheimnis zu hüten. Vielleicht wird es bald gelüftet?

1 Vgl.: hierzu folgende umfangreiche Lektüre über den Maler Albert Kappis, die u.a. vom Kunsthaus Bühler in Stuttgart bereitgestellt wird:

ALBERT KAPPIS (1836-1914). WERKVERZEICHNIS DER GEMÄLDE, Hrsg. von: Bühler, Andreas /Zimmermann, Kurt und Kunsthaus Bühler GmbH, Stuttgart 2014,

AUSST. KAT.: Albert Kappis (1836-1914). Wegbereiter des Impressionismus in Schwaben. Stuttgart/Hausen o.V. (Kunsthaus Bühler/Kunststiftung Hohenkarpfen) 1999,

AUSST. KAT.: Albert Kappis (1836-1914). Retrospektiv-Ausstellung 8.9. – 31. 10. 2014, Stuttgart/Hausen o.V. (Kunsthaus Bühler/Kunststiftung Hohenkarpfen) 2014,

AUSST. KAT.: Albert Kappis (1836-1914). Ausstellung 17.2.- 28.3.2020, Stuttgart/Hausen o.V. (Kunsthaus Bühler/Kunststiftung Hohenkarpfen) 2020,

BÜHLER, Andreas: Albert Kappis (1836 - 1914) malt seine schwäbische Heimat. In: Schwäbische Heimat, 1999,

BÜHLER, Hans-Peter: AKappis, Kunsthaus Bühler, Veröffentlichung zum 70jährigen Jubiläum des Kunsthaus Bühler Stuttgart 1975.

2 Vgl.: „Siegel und Wappen der Stadt vor 1409“ in: Burmeister, Karl Heinz: Geschichte der Stadt Tettnang, Konstanz 1997, S. 34-35.


Albert Kümmel-Schnur

Von der Erbfeindschaft in ein gemeinsames Europa

"Das Auffallendste an Denkmälern ist nämlich, dass man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler", schrieb der österreichische Schriftsteller Robert Musil im Jahr 1935. Gegenüber dem Rathaus, gleich vor der St.-Georgs-Kapelle in Tettnang steht so ein auffallend unauffälliges Objekt.

Auf einem quadratisch von hängenden Ketten umgrenzten Feld erhebt sich über einem antikisierenden Sockel ein von einem Adler gekrönter Obelisk. Er trägt vier umkränzte Kreuze, auf der Frontseite den Spruch "Aus Dankbarkeit gewidmet den Gefallenen i. Kriege 1870-71". Der an ein römisches Grabmal gemahnende Sockel trägt die Nachnamen der Gefallenen und die Orte ihres Todes. Vor Paris etwa wurde der Bauernsohn Roman Lanz am 14. Dezember durch einen Schuss in die Brust tödlich verwundet. In Neuvilliers vor Paris erinnert ein französisches Denkmal an dieselbe Schlacht. Auf dem ebenfalls obeliskenförmigen, ebenfalls mit Trauerkränzen und Kreuzen versehenen Denkmal stehen keine Namen, sondern "A la memoire de mobiles du 71ieme Regt tue a l'ennemi".

Zwei Orte, zwei Mahnmale, die an einen "prägende[n], aber fast vergessene[n] Krieg" erinnern, an eine Zeit, als Deutschland und Frankreich sich als 'Erbfeinde' gegenüberstanden und Otto von Bismarck ein einzelnes, manipulativ um gebräuchliche Höflichkeitsfloskeln und Ehrbekundungen gekürztes Telegramm genügte, um einen blutigen Konflikt zu entfachen mit dem Zweck, das in kleine Fürstentümer zersplitterte Deutschland zu einem Reich zu vereinen.

Was macht man nun, wenn ein solches Ereignis aus der Vergessenheit geholt und aus einer auffallenden Unauffälligkeit plötzlich wieder eine unübersehbare Auffälligkeit wird? Wenn man etwa eine französische Reisegruppe vor dem Rathaus empfängt und dann gleich in Erklärungsnot gerät, wenn diese fragt, warum denn noch immer dieser unseligen Erbfeindschaft und ihrer blutigen Folgen gedacht wird.


Dann kann man zum Beispiel auf Roman Lanz verweisen, dessen Fotografie im Stadtmuseum aufbewahrt wird. Er wurde nur 22 Jahre alt und ist in Frankreich beerdigt. Ob er glaubte, dass die Franzosen, auf die er schoss und die ihn erschossen, seine Feinde waren? Kannte er Franzosen? War es ihm wichtig, dass der Flickenteppich der Macht sich zu einem wandfüllenden Goblin vereinigte? Wollte er sich dem Vaterlande opfern oder wäre es ihm doch eigentlich viel lieber gewesen, einen Hof zu führen, eine Familie zu gründen, Kinder großzuziehen? Und wie sieht es mit den Franzosen auf der anderen Seite aus? Hassten die die deutschen Soldaten, auf die zu schießen, man ihnen befahl? Schon die Denkmale in Frankreich und in Deutschland ähneln einander zum Verwechseln. Und sie unterscheiden sich deutlich von propagandistisch-schrillen Siegesfeiern, für die etwa die kanonengeschmückte Siegessäule in Berlin steht.

Wie wäre es also, man nutzte die Möglichkeiten der modernen Digitaltechnik und machte aus den Mahnmälern eines trennenden nationalistischen Krieges einen gemeinsamen europäischen Raum des Innehaltens, Gedenkens und Trauerns? Wie wäre es, man machte aus dem Denkmal keinen Mühlstein um den Hals der Vergangenheit, um diese sicher zu versenken, sondern einen virtuellen Raum, in dem die Vergangenheit deshalb vergangen sein darf, weil man sich ihrer bewusst erinnert? Ein postkartengroßes Schild schon mit einem quadratischen QR-Code versehen, könnte einen solchen Raum öffnen.


Albert Kümmel-Schnur

Der Zahn der Zeit

Zwei Überreste von Mammuts bewahrt das Tettnanger Stadtmuseum auf: einen, im Jahr 1952 in einer Kiesgrube gefundenen Beckenknochen und das Stück eines Stoßzahns, das ziemlich genau vierzig Jahre später beim Umbau der Musikschule ans Tageslicht kam. Dieses 'Ans-Licht-kommen' ist das, was dem Mammut seinen Namen gab. 'Mammut' bedeutet in der jakutischen bzw. tungusischen Sprache der Chanten, eines sibirischen Volksstamms, soviel wie "unter der Erde lebend"[1]. Fossilienfunde sind bereits seit dem 17. Jahrhundert belegt. Die Chanten glauben, dass der Mammut eine Kreatur war, die, einem Maulwurf gleich, unter der Erde lebte und sterben müsse, sobald sie an die Oberfläche käme.[2] Das Mammut ist also das museale Tier par excellence. Wie die Vergangenheit lebt es im Verborgenen, und wenn es sichtbar wird, so nur eben als immer schon vergangen. Man könnte also sagen, es sei eine Allegorie der Geschichte oder zumindest der Substanz, aus der Geschichte gemacht ist. Sollte die Zeit einen Zahn haben, dann müsste es der Stoßzahn eines Mammuts sein.

Ein schönes Beispiel ist der Auftritt des Tettnanger Mammutbeckenknochens in einem Super-8-Film, den Alinde Krumm (Drehbuch) und Hans-Joachim Rümelin (Kamera, Montage) anlässlich der 1100-Jahr-Feier Tettnangs 1982 drehten.[3] In weißer Jacke und Hut, stets einen großen schwarzen Regenschirm über der Schulter, führt eine ältere Dame, Annie Marschner, durch die Stadt. Vor die Tür des Heimatmuseums - so nennt der Film das heutige Stadtmuseum - tritt sie als Träumende: "Nachdem Annie eingeschlafen ist, beginnt sie zu träumen. Sie will ins Heimatmuseum." Wir sehen sie vor der schweren Holztür, die damals noch den Eingang zum Museum bildete, stehen, hören dann vier Schläge der Turmuhr und aus dem Off die mahnende Stimme, Annie sei zu spät: "Punkt vier Uhr schließt Herr Doktor Frick das Museum zu, um sich an seine Bücher über die Montfortfrage zu setzen." Und richtig, im Halbdunkel des Museums sehen wir Alex Frick, Zahnarzt und Heimatforscher, in einem großen Buch blättern. Mit Annie, allerdings nicht wie diese "stundenlang", müssen wir auf Herrn Frick warten. "Endlich sieht sie Herrn Doktor Frick kommen. Jaaaa - was bringt er denn da mit?" "Hier sehen Sie einen Beckenknochen von einem Mammut, der über zehntausend Jahre alt ist. Er wurde vor Jahren in der großen Kiesgrube am Manzenberg gefunden." Vor einer Mauer stehend, den Beckenknochen mit den Händen hin- und herdrehend, erläutert Alex Frick diesen Fund aus der "großen Kiesgrube am Manzenberg". Schnitt. Wir blicken durch den Rahmen einer runden Schablone auf das Bild eines Mammuts, das durch eine Schneelandschaft läuft: "Als die letzte Eiszeit zuende ging und sich der große Rheingletscher aus Oberschwaben zurückzog, wagte sich ein Mammut noch auf's Eis, rutschte aus und fiel durch eine Gletscherspalte ausgerechnet in Brielmaiers Kiesgrube." Schöner ließe sich kaum darstellen, was prähistorische Funde für Stadt- und Heimatmuseen bedeuten: sie bilden einen Tunnel oder eine Rutschbahn in die tiefste Vergangenheit, die umstandslos vergegenwärtigt wird. Oberschwaben gab es damals nicht, kein eiszeitlicher Gletscher zog sich aus Oberschwaben zurück. Doch diese Überlagerung von modernem Begriff und eiszeitlichem Fund scheint eben 'die Heimat' zu sein, die man musealisiert auf Ewigkeit stellen will. Prähistorische Funde verkörpern Kontinuität durch eine schier unvorstellbare historische Tiefe hindurch, sie sind gewissermaßen der Garant dessen, was man 'Heimat' nennt und als 'Heimat' festschreiben möchte. Angesichts der 10000 Jahre, die das Mammut brauchte, um aus der Gletscherspalte direkt in Brielmaiers Kiesgrube zu rutschen, sind die Ereignisse der Zeitgeschichte, ihre Erschütterungen, ihre Fragwürdigkeit, ihre Traumata Schall und Rauch. "Liebe vergeht, Acker besteht", wie es eine Bauern zugeschriebene Lebensweisheit will. Heimat - das ist der Boden, auf dem man lebt und mit dem man sich verbunden fühlt.

So gesehen, ist es nicht verwunderlich, dass buchstäblich alle Heimat-, Stadt- und Regionalmuseen prähistorische Artefakte aufbewahren. Meist weiß man wenig über diese Artefakte, kaum mehr als ihren Fundort. Doch genau das genügt. Genau das macht sie zum Garanten der Stabilität einer Identität, die bestenfalls erfunden oder, wie im Falle der ans Holztor des Montfortmuseums klopfenden Annie Marschner, erträumt ist.

[1]

www.dwds.de/wb/Mammut

[2]

www.gbif.org/species/113397938

[3]

Dieser Film ist inzwischen digitalisiert auf Youtube verfügbar: www.youtube.com/watch


Stockflinte (2. Hälfte 19. Jh)

von Natascha Reddemann

Die Stockflinte mit der Nummer M171 stammt vermutlich aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie hat eine Gesamtlänge von 67,5 cm und eine Breite von 12,5 cm, die Höhe beträgt 2,4 cm. Das Material besteht aus Stahl wobei es sich scheinbar um zwei verschiedene Sorten handelt. Der Griff ist Silber und vermutlich poliert, der Lauf ist etwas dunkler.

Der Lauf hat eine Gesamtlänge von 56 cm und eine Achtkantform, der Griff nimmt diese Kanten an seinem Ende auf und schließt mit einer achteckigen Verschlusskappe ab. Lauf und Griff sind miteinander verschraubt, Als Zielvorrichtungen befinden sich auf dem Lauf das Korn, auf dem Griff die Kimme. Eine weitere Zielvorrichtung, Zum Beispiel ein Fernrohr war nicht vorgesehen.

Der Lauf ist mit floralem Blumenmuster graviert, es könnte sich dabei um Abbildungen von Weizen handeln. Das Gewehr besitzt zwei Hebel, wenn der vordere Hebel anliegt ist die Waffe entspannt, gespannt wird sie durch das Ziehen dieses Hebels. Dadurch wird der Schlagbolzen zurückgehalten, durch Ziehen des hinteren Hebels wird der Schlagbolzen freigegeben. Dieser ist jedoch im Griffinneren unbrauchbar gemacht. Der Lauf hat einen Durchmesser von 14 mm an der Mündung und 15 mm am Patronenlager. Die Patronen, welche fü die Waffe verwendet wurden, sind nicht mehr erkennbar.

Geladen wurde die Waffe durch das abschrauben des Griffstückes und das Einführen der Patrone in das Patronenlager des Laufes. Dementsprechend handelt es sich um eine einschüssige Waffe. Der vordere Spann Hebel ist leicht abgebrochen was die Funktionsweise jedoch nicht beeinträchtigt. Die Waffe tr ̈agt keine Kaliber-Bezeichnung und keinen Hersteller Namen.

Stockflinten wurden im 19. Jahrhundert hauptsächlich von Wilderern benutzt. Da das Aussehen der Waffen einem Spazierstock ähnelte, lies man sie als Waffe durch den zuständigen Förster oder Jäger nur schwer erkennen. Auch die Größe der Waffe lässt darauf schließen, dass sie nicht wirklich als getarnter Spazierstock verwendet wurde.

Des Weiteren wurden diese Waffen gerne für Attentate benutzt, da man sich mit dieser unauffällig der Zielperson nähern konnte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das Tragen von Stockflinten in der Öffentlichkeit verboten.


Mutter Maria mit Jesus als Kleinkind (Sebastian Lütz, 1884)

von Max Sohm

Mutter Maria und das Jesuskind

Das Werk ‚Mutter Maria und Jesus als Kleinkind‘ wurde im 19. Jahrhundert gefertigt und umfasst inklusive Rahmen die Größe von 39,5 cm Höhe auf 30,5 Breite. Ohne den silber-goldenen Rahmen ist das Ölgemälde nur 35 cm hoch und 26 cm breit. Auf der Rückseite ist sich der Stempel „Seb.Lütz.px“ eingedrückt wie auch „##“ und das Datum 5. Mai 1884 welches auf die Entstehung verweist. Eine Widmung ist ebenfalls beigefügt welche besagt: „Meinem Kinde Maria Horn von deiner Mutter Paula Horn. Geb. Graf.“ Das Ölgemälde präsentiert uns Mutter Maria und das Jesuskind. Es ist an sich ist symmetrisch aufgebaut, mit dem Fokus zum Thron im Zentrum. Auf einem antiken Holzthron sitzend, befindet sich die in rot und blau gewandte Jungfrau Maria mit weißem Schleier. Frontal auf der linken Seite ihres Schoßes steht das Jesuskind, spärlich bekleidet mit seiner Hand geformt zum Segengestus. Mutter Marias Kopf ist leicht geneigt, sie, wie auch das Jesuskind, tragen beide feine vergeistlichte Gesichtszüge. Über ihren Köpfen schwebt ein leicht erkennbarer Heiligenschein. Der abgebildete Hintergrund ist dunkelbraun und gleicht einem einfachen reduzierten Raum. Das Werk hat zwei größere Macken und Dellen und weitere Abnutzungs-erscheinungen wie Kratzer.

Kommentar von Pfarrer Rudolf Hagmann, der St. Gallus Kirche Tettnang zu dem präsentierten Werk aus dem Interview für das Stadtmuseum Tettnang am 24.06.2020.

Pfarrer Hagmann: „Also, als Erstes fällt mir natürlich die Handhaltung von Jesus auf. Man muss genau hingucken und auch den Blick aufnehmen: Er schaut den Betrachter an während die Madonna eher ein bisschen zur Seite schaut, in irgendeine Ferne. Sie schaut auch sehr nachdenklich und meditativ. So wird sie auch oft auf Marienbilder dargestellt. Dieser kleine Jesusknabe, steht da schon sehr souverän da und diese Handhaltung bedeutet ‚Segen‘. Er ist derjenige der die Menschen nicht nur anschaut, sondern der die Menschen mit der Hand auch segnet. Das gehört eigentlich zusammen: Segen und angeschaut werden. Deswegen heißt es ja der alter aaronitische Segen: „Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten“. Segen bedeutet angeschaut werden und das wird hier in diesem Jesusbild, in dieser Jesusposition dargestellt. Man könnte sich eigentlich mal die Frage stellen: Wer ist eigentlich das Wichtigste oder die wichtigste Person auf diesem Bild? Und obwohl Maria rein proportional die viel größere Person ist, ist sie trotzdem der Hintergrund. Im Zentrum steht das Kind und das ist seit der byzantinischen Darstellung eigentlich ein ganz beliebtes Motiv für die Abbildung von Maria und dem Kind. Maria wird eigentlich dargestellt als Sitz, als Thron. Als Sitz der Weisheit wird sie zum Beispiel in der Tradition auch bezeichnet. Sie ist nicht die Hauptperson, sie ist im Grunde genommen nur der Rahmen in dem das eigentliche Entscheidende, nämlich das Kind oder der Jesus, zum Vorschein kommt. Es ist interessant in dem Bild, ‚Sitz der Weisheit‘, dass im Hintergrund der Thronsessel abgebildet ist. Maria ist die Thronende, aber Maria ist nicht die thronende Königin, sondern sie ist wie der Thronsessel selber, der Thron für das Kind.“

Interviewer: „Wir jetzt als Betrachter, die ja in direkter Weise vom Jesuskind angesprochen werden mit dem Segengestuts, trifft das jetzt in die Thematik das, wenn wir nun dem Bild entgegentreten, das wir einen Segen erfahren? Findet irgendeine sakrale oder religiöse Erfahrung im Betrachten statt?“
 

Pfarrer Hagmann: „Das kommt auf den Betrachter an. Ich kann fragen was sind das für Farben, ich kann sagen wie ist die Maltechnik. Es gibt ganz unterschiedliche Betrachtungsperspektiven oder ich kann eben auch in einen Dialog mit dem Dargestellten gehen. Das ist eigentlich auch der Sinn von Kunst, dass wir nicht nur auf der Materialebene hängen bleiben, sondern dass wir auch in eine Beziehung kommen. Dann passiert sowas wie „Schauen und Angeschaut werden“ und „Berühren und Berührt werden“. Das ist eigentlich auch der tiefere Sinn jeglicher Kunst und ist auch der tiefere Sinn hier von diesem Madonnenbild.“

Tettnang zum Entstehungszeitpunkt

Im 19. Jahrhundert begann die württembergische Herrschaft in Tettnang. Durch den Pariser Vertrag vom 18. Mai 1810 gehörte Tettnang nicht mehr länger zum Freistaat Bayern. Dieser Übergang hatte zu Folge, dass sich erstmal auch Bürger evangelischer Konfession in Tettnang ansiedelten. Bis zum Jahre 1900 wuchs die Anzahl der evangelischen Bürger Tettnangs bereits um 5%, was genau 155 Personen entsprach. In den Jahren 1854 bis 1859 diente Pfarrer Leube als der erste evangelische Stadtpfarrer Tettnangs. Die Verhältnisse der katholischen Kirche im Zeitraum des frühen 19. Jahrhunderts wirkten auch zu Gunsten Tettnangs, da das Landkapital Ailigen-Teuringen verschwand und durch das Landkapital Tettnang ersetzt wurde. Nach der friedlichen bürgerlichen Revolution 1848 und dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, gewann Tettnang bis 1890 einen Bevölkerungszuwachs von 43,5%. In dem Diskurs der Industrialisierung erbaute Tettnang 1886 das Oberamtskrankenhaus und führte 1895 den elektrischen Strom ein.1

Mutmaßlich beauftragte Paula Horn, geborene Graf, um das Jahr 1884 den Künstler Sebastin Lütz, um ein Madonnenbild zu erstellen. Dieses Werk ist der Widmung nach vermutlich für ihre Tochter Maria Horn entstanden. Ob dieses Werk letztlich als Stiftung für eine katholischen oder evangelische Kirche galt ist jedoch unklar. Die Darstellung der Maria mit dem Jesuskind in einem Thronsessel, der einem sich öffnenden Portal gleicht, erinnert an übliche Stiftungen von Marienbildern. Einbezogen in das Werk wurde meistens noch des Stifters Schutzpatron und Schutzpatronin, was hier jedoch nicht dem Fall entspricht.2 Im Entstehungsjahr des hier gezeigten Werkes waren der evangelische Pfarrer Friedrichs Hochstetter und der katholische Pfarrer Sebastian Morent von Albrichs/ Eisenharz tätig. Die ebenfalls im Museum ausgestellte Fotografie Haus Kirchstrasse 2, zeigt ein Haus aus dem 20. Jahrhundert, welches über viele Jahre im Besitz einer Familie Horn war.3 Eine mögliche Verbindung der Familie und den Auftraggebern lässt sich vermuten, jedoch ebenfalls nicht bestätigen. Die Nachnamen ‚Horn‘ und ‚Graf‘, welche der Widmung entnommen sind, haben in der Bodenseeregion ein häufiges Vorkommen. Sie weisen zwar Namensvetter in Tettnang und der Umgebung auf, jedoch wurde auch nach Recherchen keine Verbindung bestätigt oder widerlegt werden. Die Spuren scheinen durch die Umschläge des frühen 20. Jahrhunderts verwischt worden zu sein. Des Künstlers Sebastin Lütz sind keine weiteren Informationen gegeben. Es finden sich keine anderen Werke in der Tettnanger Sammlung und weder noch weitere Informationen im Stadtarchiv. Es lässt sich erschließen das Sebastin Lütz vermutlich ein lokaler Künstler war, der sich sein Zubrot mit den Aufträgen von Gemälden verdiente. Nach dem Stand 2020 befindet sich kein Bürger mit dem Nachnamen ‚Lütz‘ in Tettnang.

Das präsentierte Werk

Maria wurde der biblischen Erzählung nach mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen. Aus diesem Grund können auch keine Reliquien von ihr existieren. Zur Verehrung der Maria wurden vor allem viele Bildnisse kreiert. Darstellungen von Maria sind, nach denen von Jesus, die am häufigsten in der religiösen Kunst des Ostens und Westens wiedergegebenen Abbildungen. In den Werken findet man meist, wie auch bei diesem Gemälde, das Mutter-Kind Sujet. Marienbilder werden oft als ‚Ikonen‘ bezeichnet, jedoch ist nicht jedes christliche Bild eine Ikone: Der Begriff Ikone bedeutet Abbild, im Bereich der Ostkirche sogar ‚heiliges Bild‘.4 Über die Epochen und Jahrhunderte fanden sich viele verschiedene Mariendarstellungen: von Vergleichen zu Eva im Mittelalter, als zuneigungsvolle Mutter in der Gotik, als junge Bürgerfrau in der italienischen Frührenaissance oder als schöne Frau wie auch hoheitsvolle Herrscherin im Barock. Das präsentierte Werk ist traditionell typisiert, da es mit der Darstellung der thronenden Madonna klar auf die Romantik rückzuführen ist. In dieser Epoche wurde sie überwiegend feierlich und streng auf einem Thron mit dem Jesuskind dargestellt.5 Das präsentierte Werk deutet darauf mit seinem nicht bildsematisch gerechtfertigten Bogen hin das das der Rahmen nicht der originale ist. Die Farbwahl von Marias Gewand in Rot und Blau sind die zwei Farben, die meist in der Darstellung Marias auftauchen.6 Das kann neben religiösen Bedeutungen damit zu tun haben, dass Purpurtöne wie Purpur und Ultramarinem in früheren Kunstepochen einen hohen Wert bedeuteten.7

Das abgebildete Jesuskind ist mit einem Schleier um die Hüfte umhüllt dargestellt. Theologisch ist die Präsentation des Intimbereichs des Jesuskindes in der Bildgeschichte überwiegend zentral.  Zuvor nur bekannt in Streckwindel, wird das Geschlechtsorgan des Jesuskinds deutlich in den Fokus gesetzt, um ihn von den geschlechtslosen Engeln zu unterscheiden. Dazu noch wird der Phallus bewusst präsentiert um die die Doppelnatur Christi als ganz Mensch und Gott zu illustrieren.8

Maria als Gottesmutter zählt repräsentativ für das Christentum. Die europäische Kultur ist zutiefst vom christlichen Glauben geprägt. Andachtsbilder der Maria sind über den ganzen Globus verstreut. Es werden Märtyrer und Heilige rund um die Welt verehrt, wie auch zum Beispiel hier in Tettnang. Das Gemälde von der Mutter Maria und dem Jesuskind repräsentiert viel mehr, als man auf den ersten Blick sehen kann. Es präsentiert nicht nur einen Glauben, sondern auch eine historische wie auch kunstgeschichtliche Abhandlung, die sich vielfältig über mehrere Jahre erstreckt.

Quellen

1 aus Burmeister, Karl Heinz: „Geschichte der Stadt Tettnang.“ Konstanz, UVK, 1997,

  S. 205-261.

2 Vgl. von Maria, Marienbild aus Kirschbaum, Engelbert: „Lexikon der Christlichen

  Ikonographie. Bd. 3.“ Freiburg, Herder, 1971.

3 Werk M127: „Haus Kirchstrasse 2 Viele Jahre im Besitz der Familie Horn.“ Stadtmuseum

  Tettnang, Jahreszahl und Fotograf unbekannt.

4 „Ikone“, bereitgestellt durch das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache,

  https://wwww.dwds.de/wb/Ikone, abgerufen am 20.08.2020.

5 Vgl. von Maria, Marienbild aus Kirschbaum, Engelbert: „Lexikon der Christlichen

  Ikonographie. Bd. 3. “ Freiburg, Herder, 1971.

6 Ebd.

7 Vgl. von Baxandall, Michael. „Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im

   Italien des 15. Jahrhunderts.“ aus dem Engl. v. Hans-Günter Holl, Frankfurt a.M., Syndikat,

   1987, Auszüge aus Kapitel 2: „Der Blick der Zeit“, S. 105-134.

8 Vgl. von Steinberg, Leo: “The Sexuality of Christ in Renaissance Art and Modern   

  Oblivion.” New York, Pantheon Books, 1983.


Das Turmuhrwerk des alten Rathausgebäude (­ca. 1600)

von Clara Kapherr


Dieses im wortwörtlichen Sinne tatsächlich ‚schwerste‘ Objekt, was das Stadtmuseum aktuell zu bieten hat, fand seinen Weg im Jahr 2003 nach Tettnang. Es handelt sich um keine geringere als die jahrelang seit 1904 verschollene alte Rathausuhr, welche seit ca. 1600 am Turm des noch älteren Rathausgebäudes in der Montfortsraße 10 angebracht war. Durch einen Brand ist letztere im Jahr 2006 tragischerweise abgebrannt, der Turm mit den außen angebrachten gläsernen Zifferblättern, die an allen vier Seiten gut erkennbar dran montiert waren, allerdings aktuell noch als verschollen gilt, hatte glücklicherweise unbeschadet überlebt. Ebenso dieses alte Turmuhrenwerk, welches von dem Sigmarszeller Turmuhren Spezialisten Markus BurmeisterSiehe hierzu auch: Webseite von Markus Burmeister: www.turmuhren-burmeister.de

1 im Jahr 2003 als die besagte Uhr identifiziert, gereinigt, repariert und zusammengesetzt wurde2.

Zu sehen ist ein großes, viereckiges eisernes schwarzes Gestell, das eine komplexe Uhrenmechanik mit allen zusätzlichen Komponenten zeigt. An diesem Gestell sind drei eiserne Rädchen montiert, an welchen jeweils gleichmäßig verteilt ein schwerer Stein hängt: Es handelt sich um die Gewichte, welche zu früheren Zeiten von einem Turmwächter täglich hochgekurbelt wurden, um das mechanische Uhrwerk am Laufen zu lassen. Fachmännisch formuliert handelt es sich hierbei um eine Räderuhr mit Gewichtsantrieb3, die jede volle

Stunde mit automatischen Glockenschlägen ankündigte. Das Alter der Uhr wird vom Turmuhren-Spezialisten Burmeister auf ca. 1600 geschätzt. Dabei ist die Turmuhr nicht als Ganzes, sondern über die Jahrhunderte stückweise erweitert worden, weshalb auch kein eindeutiger Hersteller zu identifizieren ist, da hier mehrere Meister am Werk waren. Geschätzte Hundert Jahre später, also um ca. 1700 kam zum ersten bestehenden Uhrwerk ein zweites mit Zeiger und Viertelstunden-Schlag dazu.

Dieses geschichtsträchtige Uhrenwerk ist selten geworden, denn ab Beginn der Elektrizität wurden viele öffentlichen mechanisch betriebenen Uhrwerke in den Städten ausgetauscht, so auch sehr wahrscheinlich diese hier im Jahr 1904. Bis dahin war in dem zur Turmuhr gehörende Gebäude das Rathaus ansässig, welches sogar noch älter als die Uhr und dem mit ihr zusammen angebrachte Turm war: Laut Annegret Kaisers historischer Ortsanalyse Tettnangs wurde dieses alte Rathausgebäude schon im Jahr 1476 urkundlich erfasst4.

Mit Verweis auf die bürgerlichen Tätigkeiten, die mit einem Rathaus verbunden waren, kann diese Uhr damit als eindeutige Bürgeruhr identifiziert werden, die somit nicht auf einen gräflichen Auftrag zurückgeht, sondern damals von den Zünften finanziert wurde.

Sie gab den Bürgerinnen und Bürger von Tettnang Tagesstruktur und zeigte durch ihr Läuten verschiedene Zeiten an:

Die Turmuhrglocken läuteten u.a. beim früh morgendlichen Öffnen und abendlichen Schließen des Stadttors: Diese Tätigkeit haben Wächter gemacht, was außerdem zu mittelalterlichen Zeiten so üblich war, dass man abends die Städte gegen nächtliche Feinde zusperrte. Auch läutete sie die Marktzeiten ein, denn es war in Tettnang genau geregelt, zu welchen Zeiten verkauft werden durfte. So läuteten die Turmuhrglocken den Beginn und das Ende des Tettnanger Wochenmarktes ein. Auch bei Stadtversammlungen und Ratssitzen hörte man die Glocken der Turmuhr, welche damit den bürgerlichen Alltag der Stadt zu einem Großteil geregelt hatte.

Das sogenannte ‚Uhrputzerfest‘ ist vielleicht einigen TettnangerInnen noch ein Begriff. Das besagte Fest wurde alljährlich für die Bürgerinnen und Bürger organisiert und war mit einem bestimmten Zweck verknüpft: Die Turmuhr musste mindestens einmal pro Jahr gereinigt und neu eingeölt werden. Diese Prozedur wurde in der Regel mit Schweineschmalz oder Buckäckeröl durchgeführt, womit man das gesamte Eisengestell einfettete. Da es allerdings zu diesen Zeiten noch kein Lösemittel gab, musste die Uhr jährlich vom ranzig gewordenen Fett gereinigt werden. Dafür wurden die Einzelteile der Uhr in Holzkohlefeuer gelegt und vom alten Schmierfett befreit bzw. ‚frei gebrannt‘. Und da man diese Prozedur mit Feuer nicht in der Nähe der Brandanfälligen Gebäude machen konnte, hat man das z.B. auf dem Marktplatz oder weiter außerhalb der Stadt gemacht.

Es scheint somit nicht übertrieben, wenn der alten Rathausuhr eine herausragende Wichtigkeit zugesprochen wird, die diese für die Stadt Tettnang gehabt hat und es rechtfertigt somit die Erwähnung eines sich als ‚wahr‘ erwiesenen Gerüchts, dass die Tettnanger heute noch ‚hochschauen‘, wenn sie Glockenläuten hören...

1

Siehe hierzu auch: Webseite von Markus Burmeister: www.turmuhren-burmeister.de

2 Vgl.: Hoffmann, Gisbert: Turmuhrwerk vom ehemaligen Rathaus aufgetaucht: Förderkreis beteiligt sich am Ankauf, FH-Kurier- Artikel Nr. 22, 2003

3

Vgl.: Artikel zu ‚Turmuhr‘, auf: de.wikipedia.org/wiki/Turmuhr, URL: 13.06.2020, 14:51 Uhr.

4 Vgl.: Kaiser, Annegret: Historische Ortsanalyse Tettnang, Regierungspräsidium Stuttgart, Referat Denkmalpflege 2018, S. 12.

Schrank der Bäckerinnung (1925)


Albert Kümmel-Schnur

Geldströme, Feuersbrünste und ein Schrank

Am 7. Juni 1925 um "1/2 9 Uhr" lud die Freie Bäckerinnung Tettnang zur Weihe ihrer neuen Zunftfahne ein. Ein Programmzettel und ein aus diesem Anlass vor dem Tor des Rathauses gemachtes Foto, auf dem sich die Bäckermeister mit Fahnen und barocker Zunftstange aufgestellt haben - beides erhalten in der Privatsammlung Reck -, erinnern an das Ereignis. Zur Aufbewahrung der neuen Fahne hatten die Bäcker offenbar einen Schrank schreinern lassen, der sich heute im Stadtmuseum befindet.

Der Schrank ist weiß lackiert. Die Türen zieren von außen das dreilappige rote Montforter Wappen und der schwarze Tettnanger Hund, beide jeweils im Zentrum eines Kranzes aus himmelblauen Strahlen, deren Mittelpunkte sie darstellen. In der den Schrank nach oben abaschließenden Verblendung sieht man mittig das bemalte Relief einer Brezel, gerahmt von Wörtern in goldenen Lettern: "Bäcker-Zunft" links, "Tettnang" rechts von der Brezel. Die Buchstaben kommen etwas unbeholfen, ungleichmässig heraus, insbesondere das 'K' in "Bäcker" wirkt wie eine Binnenmajuskel. An den Rändern findet man, von roten und blauen Blumen sowie Kornähren umrahmt die Jahreszahlen "1730" und "1923".

Öffnet man den Schrank, so liest man mittig, früher wohl hinter der oder den darin aufgehängten Fahnen liegend, eine Liste der 35 Bäckermeister, die im Jahr 1925 zur Zunft gehörten. Überschrieben ist diese Liste mit einer Fürbitte an die Heilige Agatha als eine der Patroninnen der Bäcker - die andere, die Heilige Elisabeth ist auf der barocken Zunftstange als Vollskulptur abgebildet. Agatha und Elisabeth stehen für unterschiedliche Aspekte des Bäckerhandwerks: Agatha ist die Hüterin des Ofenfeuers - der Legende nach hat ihr Schleier ein Jahr nach ihrem Märtyrertod den Vulkan Ätna am Ausbruch gehindert. Elisabeth wiederum verschenkte Brot an die Armen - sie steht für die nährende Aufgabe der Bäcker.

Der Schrank nennt neben dem Jahr seiner Herstellung zwei weitere Daten: die Hyperinflation 1922-23 und den Ersten Weltkrieg 1914-18. Wiederum ähren- und blumenumrankt sind den Jahreszahlen je drei kurze Texte zugeordnet. "Vor der Wiederkehr der Inflation bewahr' uns guter Gott" und "Gar hart die Zeit, viel Kummer kam u. Sorg u. Not". Diese beiden Sätze, je unter den zugehörigen Jahreszahlen platziert, sind noch einfach deutbar. Der Schrank ist wohl als ganzer eine Art Votivgabe, also ein symbolisches Opfer, der Gottheit zum Dank entrichtet für gewährten Schutz. Das zumindest legt das Inflationsgebet nahe. Der Weltkrieg wird als harte, kummervolle Zeit beschrieben. Dem entronnenen Schicksal der Geldentwertung entspricht als Pendant das erlittene Schicksal der Kriegszeit. Nun fügen sich je zwei weitere Sinnsprüche an: auf der Inflationsseite liest man "Kalt und weich macht den Bäcker reich" - mit dieser Bäckerweisheit bleiben wir im semantischen Feld der Ökonomie. Es bezieht sich auf das Backen mit Sauerteig:

"Je kälter das Ausgangsprodukt ist, desto mehr kann sich der Teig erwärmen und dabei Gärgase ent­wickeln, je weicher der Teig ist, desto besser können sich die Gärgase ausdehnen und jene Hohlräume ausbilden, die das Brot flaumig und locker machen."1

Der bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Handwerkszünften gebräuchliche Spruch "Kunst und Gewerke des Volkes Stärke" erweitert das handwerkliche Erfolgsrezept der Bäcker in eine politische Lehre, die das Handwerk gewissermaßen als Sauerteig des Volkes erscheinen lässt. Setzt man voraus, dass auch in einem Schrank die Leserichtung von links nach rechts gilt, dann folgt der Weltkriegstext dem Inflationstext: er gibt das Durchhalten harter Zeiten als Bedingung - dem göttlichen Gnadenwirken, das während der Inflationszeit gespürt wird, steht die göttliche Prüfung gegenüber, die bestanden werden will - vielleicht auch, um sich das Recht auf Gnade überhaupt erst zu erwirken. Denn nur demjenigen, der sich "regt", ist "Segen" gewiß - allen anderen, denen, die "ausgelernt haben", winkt nichts als der Tod. Will man, wie ich vorschlagen möchte, die semantische Logik des Schranks ähnlich derjenigen von Pendants in der Kunst betrachten - er ist ja aufgebaut wie ein Flügelaltar mit Haupttafel und Seitenflügeln -, dann entspricht der Stärke des Volkes auf der linken die Androhung des Grabes für diejenigen, die der Todsünde des Müssiggangs, der acedia, anheim fallen, auf der rechten Seite. Das bedeutete aber, dass die linke Seite als Bezugshorizont ein Kollektivsubjekt - das Volk - angibt, das dann auch auf der rechten Seite gemeint sein muss, denn keiner konnte kurz nach dem Ersten Weltkrieg ernstlich behaupten, dieser hätte nicht zahlreiche individuelle Leben gekostet. Wohl aber konnte man auch die Kriegstoten als Opfer "auf dem Altar des Vaterlands", wie eine beliebte Phrase hieß, verstehen. Es geht also auch auf dem rechten Türblatt nicht um individuelle, sondern kollektive Disziplin und nicht um Einzel-, sondern um das gesellschaftliche oder auch politische Schicksal.

Agatha ist in jedem Fall die richtige Adresse im Jenseits: buchstäblich besänftigte ihr Schleier - metonymisch also jene Jungfernschaft, deren sorgfältiger Schutz sie das Leben kostete (dieses Narrativ finden wir bei vielen frühen christlichen Heiligen) - das Überströmen heissen Gesteins. Genauso kann man also sie anrufen beim Wunsch auf Schutz vor dem Überfließen des pekuniären Vulkans, der Inflation also. Und die Hekatomben des Ersten Weltkrieges stellen ja ebenfalls ein Überströmen dar, ein Vergießen von Unmengen menschlichen Blutes. Hier steht man aber gewissermaßen auf der anderen Seite - man selbst ist das Überströmen als aktiver Part - und damit wieder eng bei Agatha, die den Märtyrertod erleidet. Der posthume Schutz vor'm Vulkanausbruch konnte ja nur durch die Bewahrung des schützenden Häutchens unter Aufgabe des eigenen Lebens erkämpft werden.

1So beschreibt's der Text "Sauerteigbrot" von Magister Walter Persché in der unnachahmlich österreichischen "Der Welt der Frauen" (https://www.welt-der-frauen.at/sauerteigbrot/)


50 Pfennig Tettnanger Notgeld (1918)



von Albert Kümmel-Schnur

Dieser Notgeldschein wurde am 1. Dezember 1918 ausgegeben. Er wurde  "durch den Tettnanger Kunstmaler und Radierer Karl Otto Speth (1890-1925) in München"1 gestaltet; "hergestellt wuirde das Notgeld von der KunstdruckereiJ. Adolf Schwarz in Lindenberg"2

Nebenstehend ist der konkurrierende, aber nicht verwirklichte Entwurf eines 50-Pfennig-Scheins durch Oskar Bleicher. Sehr deutlich ist bereits auf den ersten Blick die stilistische Differenz der beiden Scheine. Der Entwurf Bleichers ist streng, ornamental. Typographische Elemente, der Tettnanger Hund und das Wappen der Grafen Montfort bestimmen die Gestaltung. Wie die andere Seite des Scheins hätte aussehen können - falls eine zweite Seite überhaupt gestaltet und nicht einfarbig gelassen werden sollte - wissen wir nicht. Für einen Vergleich sind deshalb nur die den Wert des Scheins notierenden und die ausgebenden Stellen nennenden Seiten relevant. Für den Schein Bleichers ist die autorisierende Stelle eindeutig die "Stadtgemeinde Tettnang", die ihre Legitimation wiederum aus den historischen Bezügen auf die Bürgergemeinde - springender Hund mit Halsband - und das Grafengeschlecht der Montforts, das die Stadt gegründet hatte - die dreilappige, mit drei Hängeringen versehene rote Kirchefahne.3

Karl Otto Speths realisierter Entwurf verteilt die Legitimation auf zusätzliche Schultern: der springende Hund findet sich zwischen den sehr aufwändig gestalteten Wappen der Montforter auf der einen und dem Königreich Württemberg, das es zum Zeitpunkt der Ausgabe des Notgeldscheins gar nicht mehr gibt, auf der anderen Seite. Aus dieser Perspektive ist es fast ironisch zu nennen, dass Ausgabedatum und der Hinweis "Bis auf Widerruf" unter dem Württemberger Wappen steht - am 6. November 1918, also kaum drei Wochen früher, war die Württemberger Regierung zurückgetreten. Ob Tettnang mit diesem Bezug eine politische Aussage machen wollte, ist ungewiss - zumal der Stadtanzeiger mit Bezug auf die bildhafte Vorderseite des Scheins bemerkte, man wolle sich wohl den neuen Zeiten durch die rote Fahne andienlich machen. Es sei noch auf eine Kleinigkeit hingewiesen, nämlich die ungeschickte Aufteilung des Textes, der den Schein auf der hinteren Seiten nach unten abeschließt: das letzte Wörtchen, das Hilfsverb "wird", muss in eine zusätzliche Zeile gequetscht werden. Diese Ungeschicktheit der Gestaltung lässt plötzlich das Provisorische, Improvisierte dieses Zahlungsmittels deutlich werden. Es unterminiert den hohlen Pomp der Bedeutsamkeit, der nicht nur durch das übertriebene Wappendekor, sondern auch das manieristische "i", das das "ü" in "gültig" und "Gültigkeit" ersetzt, die Gestaltung prägt.

Die Vorderseite des Speth'schen Notgeldscheins ist aufwändig gestaltet. Sie vertritt auch einen anderen Anspruch als die Rückseite. Die Rückseite erhält ihren Wert durch die Unterschrift des "Stadtschultheiss" - eine Position, die der des Bürgermeisters entspricht, ein Name allerdings, der auf eine andere Rolle anspielt. Während der Begriff "Bürger-Meister" die Vorsteherschaft vor der Bürgerschaft betont, sind der Amtsbezeichnung "Schult-Heiss" die Schulden eingesenkt: "bezeichnet einen in vielen westgermanischen Rechtsordnungen vorgesehenen Beamten, der Schuld heischt: Er hatte im Auftrag seines Herrn (Landesherrn, Stadtherrn, Grundherrn) die Mitglieder einer Gemeinde zur Leistung ihrer Schuldigkeit anzuhalten, also Abgaben einzuziehen oder für das Beachten anderer Verpflichtungen Sorge zu tragen."4 Im Falle der Unterschrift fungiert er als Bürge dafür, dass dem Nennwert dieses Papierscheins ein tatsächlicher Wert entspricht: er ist als Vertreter der Stadt der Garant für die Rückzahlbarkeit der auf diesem Schein genannten Schulden. Auf der Vorderseite entspricht der Unterschrift des Schultheiß' die unter dem zentralen, achteckig gerahmten Bild des Nennwertes (50 rote Pfennige vor dem Hintergrund einer Hopfenpflanze, also des wichtigsten Exportgutes der Stadt Tettnangs - eines realen Wertes) platzierte Signatur des Künstlers, versteckt im Gras unter dem kopfstehenden Stadtnamen. Die Doppelnatur dieses Notgeldscheins kommt durch seine doppelte Signatur gut zum Ausdruck: der Schultheiß bürgt für den Geld-, der Künstler für den Kunstwert. Gleichzeitig macht der Künstler sehr deutlich, wo er den wahren Wert des Scheines erblickt. Die Rückseite enthält die Amtszeichen weitgehend vergangener Herrlichkeit und Macht. Die Vorderseite hingegen zeigt mit Hopfen und Apfelernte die Realwirtschaft Tettnangs.

Bleibt noch der Ritter mit der roten Fahne zu erläutern. Diese Figur ist ambivalent. Klein, kaum sichtbar trägt der Geharnischte das Montforter Wappen in der Fahne, rot auf rotem Grund. Groß und klar sichtbar hingegen ist der Tettnanger Hund auf dem schützenden Schild zu erkennen, auf das der Ritter sich stützt. Das Montforter Wappen steht etwa auf gleicher Höhe wie das Neue Schloss, auf das die Fahne wie ein Theatervorhang den Blick freigibt. Daneben Sonnenblumen im Gelb des Helmbusches und im Rot der Fahne. Wehrhaftigkeit soll dieser Ritter wohl symbolisieren - allerdings verfügt er bei übergroßer Eisenwappnung über keine Waffe. Das ist keiner, der angreifen kann - allein die übergroße (und wohl dementsprechend schwere) Fahne würde das verhindern. Und wie er in den ebenso spitzen wie nach unten gebogenen überlangen Eisenschuhen laufen sollte, das bleibt sein Geheimnis. Oder das des Künstlers. Es sei denn ... Es sei denn, dass es dem Künstler genau auf diese Aussage ankam: dass man das Bild tatsächlich nicht in der Synchronie seiner Elemente, sondern diachron als Entwicklung von einer, zum gegenwärtigen Zeitpunkt (1918!) nur noch theatral, dysfunktional sich darstellenden kriegerischen Vergangenheit, die es zu überwinden gilt, zu einer friedlichen, landwirtschaftlichen Gegenwart, für die die fröhliche Bäuerin und das ihr zugewandte Mädchen stünden, lesen muss.

So gesehen wäre die rote Fahne dann vielleicht doch kein unglücklich gewähltes, sondern ganz bewusst platziertes Bildzeichen. Wer weiß?

Und wer weiß schon, ob, so gesehen, nicht auch der typografische 'Ausrutscher' auf der Rückseite als eine gestalterische 'Entwertung' des Schuldscheins zu deuten ist? Ein Notgeldschein also, der wie ein politisches Flugblatt gelesen werden könnte.

1Karl Heinz Burmeister: Geschichte der Stadt Tettnang, Konstanz 1997, S.266.

2Ebd. S. 266.

3

www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Montfort,_Grafen_von

4

Wikipediakollektiv (deutsch): "Schultheiß", in: de.wikipedia.org/wiki/Schulthei%C3%9F


Franz Xaver IV von Montfort als Alchemist (unbekannter Maler, ca. 1740)


von Albert Kümmel-Schnur

Dieses Gemälde im Stadtmuseum zeigt den letzten regierenden Tettnanger Grafen Franz Xaver als Alchemisten. Es ist besonders geeignet, unser Ausstellungsprojekt „Schuld und Schulden“ vorzustellen. Von den Habsburgern als Hauptgläubigern finanziell systematisch in die Ecke gedrängt, blieb Franz Xaver nur der verzweifelte und vergebliche Versuch, selbst Gold herzustellen, um damit seine Grafschaft Tettnang vielleicht noch zu retten. Die Option seiner Vorgänger, nämlich durch Verunreinigung von Metallen immer wertlosere Münzen zu prägen und den Markt inflationär zu fluten, stand ihm nicht mehr offen. Ganz im Gegenteil: Überschuldet musste er aus weniger als nichts etwas machen.

Aus heutiger Sicht wirken die Methoden der Alchemisten sehr befremdlich: Sie schworen auf das Kindspech, den ersten, schwarzen klebrigen Stuhl von Neugeborenen, als wesentlichen Bestandteil der Herstellung von Gold. Ob das je jemandem gelang, ist nicht überliefert.
Im roten Rock mit Perücke und weit geöffnetem Rüschenhemd sehen wir Graf Franz Xaver vor einem pyramidenartigen Ofen stehen. Wie einen Zeigestock führt er mit der rechten Hand ein Instrument an einem langen Stiel ans Feuer, das goldmünzenartig gleißt und glost. Es macht den Eindruck, als wolle er etwas ins Feuer gießen und in ihm erhitzen oder aber herausholen – die Richtung bleibt unklar. Die linke Hand führt der Graf zum vor dem Ofen liegenden Blasebalg. Beide Hände sehen dennoch nicht so aus, als wollten sie tätig werden. Vielmehr handelt es sich eher um feingliedrige Zeigegesten, eine Art Demonst- ration, wie man sie aus wissenschaftlichen und technischen Diagrammen der Zeit kennt. Hinter Franz Xaver stehen zwei große Glasgefäße mit spitz nach unten zulaufenden Ausgüssen, die auch Fratzen oder merkwürdige Vögel mit langen Schnä- beln darstellen könnten, auf Flammen. Was darin erhitzt wird, können wir nicht erkennen – wie ohnehin die Szenerie recht unbestimmt wirkt. Runde Bögen deuten ein Kellergewölbe an. Von Umbra über Siena nach Zinnober bewegen sich die dominie- renden Rottöne. Der Rock des Grafen, von blauen Aufschlägen akzentuiert, stellt das koloristische Gravitationszentrum des Gemäldes dar – eng verbunden den Flammen rechts und links von ihm. Mischt man Siena mit Zinnober und Weiß erhält man die Hautfarbe des Grafen: Die gesamte Szene ist aus demselben Farbmaterial geformt – ist es zu viel gesagt, wenn man in die- ser Gestaltung einen Kommentar auf den Grafen, dem gerade gehörig etwas anbrennt, sieht? Unsicher blickt der Graf uns mit fliehendem Kinn, geröteten Wangen, weit geöffneten Augen und einer tiefen senkrechten Stirnfalte an. Auch die Gestik wirkt zaghaft: Hier spielt einer, der selbst nicht mehr an einen Sieg glaubt, seinen allerletzten Trumpf aus.
Eine realistische Deutung des Dargestellten schließt sich übrigens aus: Im Versteigerungsprotokoll des Inventars des Schlos- ses von 1780 findet sich kein Hinweis auf ein Alchemistenlabor.

Montforter Richtschwert (Datierung unbekannt)



von Albert Kümmel-Schnur

Saudi-Arabien ...

... hat im Jahr 2015 acht Scharfrichterstellen ausgeschrieben.1 Qualifizierte Kräfte für öffentliche Enthauptungen mittels Schwert zu finden, scheint nicht ganz leicht. Begeistert hätte das Königshaus in Riad auf die Tettnanger Scharfrichter zurückgegriffen. Diese standen rund um den Bodensee im Ruf, hervorragende Arbeit zu leisten - und die mittelalterliche Job Description verlangte noch einiges mehr von Henkern als das öffentliche Entfernen von Köpfen und anderen Körperteilen. Insbesondere die Folter, die sogenannte 'peinliche Befragung' zählte zu den Tätigkeiten eines Scharfrichters im Mittelalter: niemand durfte ohne Geständnis verurteilt werden. Folglich fand man Wege, Geständnisse, wo sie nicht freiwillig gegeben wurden, zu erzwingen. Dabei nutzten den Verurteilten spätere Dementi dessen, was sie unter großen Schmerzen von sich gegeben hatten, nichts. Der "erfahrene[.] Tettnanger Scharfrichter Meister Jerg Schnell [war] dafür bekannt [...], solche Leute 'mit sonderbaren, jedoch erlaubten Mitteln vor anderen zum Bekenntnis zu bringen'."2

Das hier abgebildete Richtschwert ist Zeichen der Hochgerichtsbarkeit der Grafen Montfort. Es ist eine reine Schnittwaffe, wie die abgerundete Spitze deutlich zeigt - zustoßen musste man damit nicht. Die Zugehörigkeit zu den Montfortern wird durch das dem Schwert eingravierte Wappen dokumentiert. Unter dem Wappen sind schematisch ein Galgen und ein Rad abgebildet, beide stehen für die vollumfängliche Ausübung der Todes- und Leibstrafen. Das Enthaupten galt als leichteste, die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen als schwerste Form der Todesstrafe. Aus Perspektive der regierenden Grafen hat die Hochgerichtsbarkeit jedoch noch eine ganz andere als abschreckend-rächende Funktion: sie sichert die Einheit des Territoriums. Wie das berühmte Laimnacher Holzrecht bis heute zeigt, waren Rechte und Pflichten vom Mittelalter bis in den Absolutismus aushandelbare Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten. Nur weil einer Graf war, verfügte er noch lang nicht über jeden Teil seines Territoriums oder der auf ihnen lebenden Menschen in juristisch gleichem Maße. Insbesondere das sogenannte 'Niedergericht' für kleinere Delikte wie Diebstahl oder Beleidigung sicherte nicht die Einheit des Territoriums. Gleichzeitig, das wird kaum wundern angesichts der sprichwörtlichen Geldknappheit der Montforter, war das Niedergericht wegen der Möglichkeit, Geldstrafen zu verhängen, für die gräfliche Kasse besonders attraktiv.

In nach-Montfort'schen Zeiten scheint auch das Handwerk des Henkers qualitative Einbußen erlitten zu haben: die letzte Enthauptung fand in Tettnang am 1. April 1848 statt. Dem Henker gelang es dabei nicht, den Kopf des verurteilten Mörders Joseph Frei "mit einem Schlag"3 vom Körper zu trennen. In frühmodernen Zeiten wäre eine so unsachgemäße Hinrichtung für den ausführenden Scharfrichter eine bedrohliche Situation gewesen - allzu nah lag die Vermutung einer eingreifenden höheren Macht. Wer sich, wie Saudi-Arabien auf der richtigen Seite dieser Macht zu befinden glaubt, sorge also dafür, dass die Henker ihr Handwerk beherrschen.

1

syd: "Saudi-Arabien sucht acht neue Henker", in: www.spiegel.de/politik/ausland/stellenangebot-saudi-arabien-sucht-acht-neue-henker-a-1034359.html

2Karl Heinz Burmeister: Geschichte der Stadt Tettnang, Konstanz: UVK 1997, S. 112.

3Gisbert Hoffmann: "1848: Doppelmörder Frei enthauptet", in: FH Kurier ###, S. 6.

Schießscheibe mit Hopfenbauer, Hopfenhändler und Schmuser (1865)


Mehrdeutige Bilder

von Albert Kümmel-Schnur

Wir sehen auf einem grünbraun ansteigenden Flecken Lands drei Männer. Ein kleiner, stämmiger, mit leicht nach links gewendetem Kopf ernst in eine unbestimmte Ferne blickender Mann in der Mitte, schlicht in Grau und Schwarz gekleidet. Einziger Farbtupfer ist das zwischen den schwarzen Revers hervorblitzende orangene Hemd. Zur Linken wie zur Rechten stehen zwei auffällige Gestalten. Der eine in hellblauem, von gekreuzten orangefarbenen Bändern durchzogenen Anzug, spitzbärtig, die Augen weit aufgerissen, den anderen anblickend und dabei den hohen schwarzen Hut zum Gruße lüpfend. Der andere ganz in strahlendem Orange gekleidet. Sein Anzug ist von weißen, rechtwinklig sich kreuzenden Linien überzogen. Die Augen geschlossen, die weichen dicken Lippen leicht geöffnet, wohl einen Gruß hauchend, biegt er, es lässt sich kaum anders beschreiben, sich bogenförmig rückwärts durch. Zwei Harlekine, verbunden durch die geöffneten Arme des ernsthaften Mannes in der Mitte.

Auf seiner Nabelhöhe öffnet ein tiefes Loch das Bild, vier konzentrische Kreise weisen dieses Loch als Mittelpunkt einer Zielscheibe aus. Und genau darum handelt es sich auch: eine Schießscheibe aus dem Jahr 1865, die die wichtigste Konstellation des Hopfenhandels zeigt: einen jüdischen Händler (in Blau), einen ebenfalls jüdischen Schmuser (in Orange) und dazwischen den "Hopfenbauer[n] in Tettnanger Bürgertracht"1. Im Hintergrund sehen wir "die drei Anbausysteme (Drahtanlage, Stangenhopfen und Pyramidenhopfen)"2, auf dem Hügel erhebt sich das "Waaghaus" mit Säcken, die das Monogramm des Stifters der Scheibe tragen3. Nun kann man zwar einerseits das Genreartige der Szene hervorheben. Es ist nicht untypisch in Süddeutschland und Österreich Schießscheiben mit Szenen des lokalen Lebens, oft mit Darstellungen des Anlasses des Wettschießens, zu versehen.4 Andererseits handelt es sich deutlich nicht um eine reine 'Ehrenscheibe', die nicht beschossen wurde und während der Schmuser von den Schützen ganz unbehelligt blieb, sind die Einschusslöcher in den Figuren des Bauern und des Händlers doch deutlich. Zentrum und Ziel der Schüsse jedoch ist eindeutig der Tettnanger Bauer - eine Figur, die schlechterdings nicht für eine Repräsentation eines zu tötenden Feindes (wie das ja bei Schießfiguren sonst der Fall ist) stehen kann. Wie andere Schießscheiben zeigen, ist es durchaus auch üblich, die Zielscheibe aus der Mitte der Darstellung an einen anderen Platz zu verlegen. Das ist aber auch nicht gewollt. Und schließlich wissen wir aus der Tradition solcher Scheiben, dass das Schussziel auch nicht einfach gleichgültig war: symbolische Entjungferungen und Kastrationen - je nachdem wessen Genital zum Ziel angeboten wurde - sind durchaus üblich. Warum schießen also Tettnanger Schützen auf einen Tettnanger Bauern - obendrein die einzige Figur im Bild, die nicht karikiert wurde? Sollen die Schüsse in den Bauch zum Ausdruck bringen, wie sehr man sich ausgenommen fühlte durch die jüdischen Händler? Wäre die Schießerei also der symbolische Nachvollzug einer Verletzung? Oder geht es um etwas anders? Ist der Bauer etwa stadtbekannt, kein Typus, sondern ein Porträt? Und die Schießerei eine Hinrichtung in effigie? Eine sehr schmerzhafte dazu, denn der Schuss geht ja in den Bauch, nicht ins Herz.

1Karl Heinz Burmeister: Spuren jüdischer Geschichte und Kultur in der Grafschaft Montfort. Die Region Tettnang, Langenargen, Wasserburg,Sigmaringen 1994, S. 113.

2Karl Heinz Burmeister: Geschichte der Stadt Tettnang, Konstanz 1997, S. 220.

3Karl Heinz Burmeister: Spuren jüdischer Geschichte und Kultur in der Grafschaft Montfort. Die Region Tettnang, Langenargen, Wasserburg,Sigmaringen 1994, S. 113.

4Vgl. Alfred Förg (Hg.): Schiess-Scheiben. Volkskunst in Jahrhunderten, Rosenheim 1976.