Eine Welt in Bewegung

Das neu eingerichtete Zentrum­ für kulturwissen­schaftliche Forschung untersucht interdisziplinär, was ­passiert, wenn Menschen, Dinge und Ideen ­wandern. Getragen wird es ­vom ­Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“.

Von Maria Schorpp

Wenn Prof. Dr. Rudolf Schlögl auf den für das Zentrum spezifischen Kulturbegriff angesprochen wird, macht er, was Historiker für gewöhnlich machen: Er rekonstruiert einen Entwicklungsverlauf. Das ist in diesem Fall umso naheliegender, als die Karriere des Kulturbegriffs, um den es hier geht, in der Geschichts­ epoche begonnen hat, in der Rudolf Schlögl forscht. In der Frühen Neuzeit, im 16. Jahrhundert, entdeckten die Europäer ihren Expansionsdrang und in der Folge die Welt. Dabei machten sie Beobachtungen – über Gesellschaften, die anders funktionierten, in denen es andere Religionen gab, andere Formen von Gemeinschaft, in denen es Polygamie gab und Kannibalismus. In denen die Menschen überhaupt ganz anders waren als zu Hause in Europa.

Diese Beobachtungen versuchten die Weltreisenden in ihre überkommene Vorstellungswelt zu integrieren, was jedoch immer schlechter gelang. Neue einheitsstiftende Kategorien mussten aushelfen. So wurde der universale Begriff der Christenheit von dem der Menschheit abgelöst, in dem die Europäer in einer Welt der Differenzen erst wieder einen Ort finden mussten. Rudolf Schlögl formuliert es so: „Das Wissen, das aus der kolonialisierten Welt zurückkommt, zwingt Europa, über sein Selbstverständnis nachzudenken.“ Im Zuge dessen gelangt auch der Begriff der Kultur zu seiner Prominenz. Es steht nun für etwas, was relativ ist, was verschieden sein kann, was sich verändern kann.

Ort der kulturtheoretischen Grundlagenforschung

„Substanzialistische Einschreibungen“, wie der Historiker es nennt, mit zum Teil ethnischen und rassistischen Konnotationen erhielt der Begriff erst im 18. und 19 Jahrhundert. „Leitkultur ist der Überrest dieses Kulturbegriffs“, so Schlögl, der Sprecher des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz. Und: „Wir suchen nicht nach der Leitkultur.“ Mit „wir“ bezieht er sich auf die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Cluster sowie in dem von diesem getragenen Zentrum für kulturwissenschaftliche Forschung. Die neue Einrichtung hat die Aufgabe, die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschung an der Universität Konstanz zu bündeln und deren Profil als Ort der kulturtheoretischen Grundlagenforschung zu stärken.

Wie sich der Begriff der Kultur von der Frühen Neuzeit an als konzeptioneller Ort des Vergleichens, der Dynamik und Veränderung entwickelte, ist für die kulturwissenschaftliche Forschung an der Universität Konstanz in gewisser Weise paradigmatisch. „ , Kulturwissenschaftlich‘ wird bei uns so verstanden: Soziale Phänomene begreifen wir nicht als Entitäten, sondern wir interessieren uns dafür, wie sie im Prozess der Sinnkonstruktion zustande kommen. Wir wollen den sozialen Akteuren zuschauen, wie sie diese Gegenstände konstruieren“, so Schlögl. Soziale Prozesse somit verstanden als Aushandlungsprozesse, als etwas Fluides, das dennoch Stabilität erreichen kann.

Bewegung ist somit der kulturwissenschaftlichen Methode des Zentrums eingeschrieben. Noch mehr: Sie ist unter dem Stichwort „Mobilität“ auch Schwerpunktthema ihrer kulturwissenschaftlichen Forschung: Mobilität von Menschen, aber auch von Dingen und von Ideen. „Wir fragen auf der einen Seite nach der Bedeutung der Bewegung für die sich bewegenden Menschen, Dinge und Ideen, nach unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Rhythmen, nach charakteristischen Friktionen und sogar Unterbrechungen. Auf der anderen Seite wollen wir wissen, welche Bedeutung diese Bewegungsmuster für Strukturzusammenhänge haben, für den Aufbau sozialer Ordnung, für die Dynamik und die Veränderung sozialer Ordnung.“

Alte Phänomene in neuem Licht

Die Geschichte ist voller Beispiele, wie sich Gesellschaftsformationen durch Wanderungsbewegungen verändert haben. Bewegungen im Raum müssen weitaus mehr, als dies bislang in der Forschung üblich ist, auf ihre Effekte für Transformationen in der Zeit befragt werden. So können auch scheinbar erschöpfend beforschte Phänomene in ein anderes Licht gerückt werden. Eroberungsbewegungen wie die Gründung von Kolonien sind Thema seit der Antike. Die globale Zirkulation von religiösen Ideen ist seit der Frühen Neuzeit festzustellen. Die Verbreitung von Rechtskonzepten ist gleichfalls ein bekanntes Phänomen, in Europa die Rezeption des römischen Rechts seit dem 12. Jahrhundert. „So entstanden Rechtslandschaften und Rechtsfamilien. In der EU ist das heute ein ganz wichtiges Thema: Wie wirkt EU-Recht auf nationales Recht?“, so Rudolf Schlögl. Womit die Fragestellung in der Gegenwart angelangt wäre: „Wir wollen die Frage nach der Bedeutung von solchen ‚Mobilities’ einerseits historisch für verschiedene Gesellschaftsformationen, andererseits aber auch ganz prominent für die Gegenwartsgesellschaft beantworten. Auf diese Weise bringen wir zwei Aspekte zusammen: Ein breites, sehr dynamisches Themenfeld mit einem gegenwartsbezogenen Fokus.“

Wie es im Exzellenzcluster seit über zehn Jahren zum wissenschaftlichen Programm gehört, wird auch das Zentrum seine Expertise in den öffentlichen Diskurs einbringen. „Wir greifen dort, wo wir die wissenschaftliche Kompetenz besitzen, gegenwartsbezogene Probleme auf. Wir wollen in die Gesellschaft hineinwirken“, so Rudolf Schlögl. Die wissenschaftliche Kompetenz ist interdisziplinär verteilt auf Literatur-, Medien-, Kunst-, Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft wie auch die Soziologie.

Mobilität ist eine Grundkategorie

Mit dem Thema Mobilität geht das Zentrum im Vergleich zum Cluster noch einen Schritt weiter. „Das Anschlusskonzept greift die schon immer im Mittelpunkt stehende Frage nach den Grundlagen und Voraussetzungen sozialer Ordnungsbildung auf.“ Mobilität wird unter diesen Voraussetzungen als Grundkategorie kultur- und gesellschaftswissenschaftlicher Analyse verstanden. Themen wie Inte­ gration und Desintegration sind unmittelbar mit dem Thema Mobilität verbunden. Wie der Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ nimmt das Zentrum die Herausforderung einer kulturwissenschaftlichen Grundlagenforschung an und nutzt sie für ein dynamisches Forschungsfeld.

Rudolf Schlögl macht dies beispielhaft am Begriff der Identität fest: Identität ist in sozialen Zusammenhängen ein wichtiges Phänomen. Identität von Personen: Wer bin ich, für mich selbst im Gegensatz zu dem, was andere Personen von mir halten? Identität von sozialen Einheiten: Ab wann ist von einer Nation zu sprechen, ab wann nicht mehr und ab wann sind es möglicherweise zwei Nationen? „Wir sind im Cluster der Meinung, dass es besser ist, nicht von ‚Identität’ im Sinne festgefügter Einheiten, sondern von ‚Identitätspolitiken‘ zu sprechen. Soziale Einheiten wie Personen müssen sich darum bemühen, in Relation zu anderen Ansichten oder Beobachtungsstandorten eine oder mehrere Identitäten zu formulieren, glaubhaft zu vermitteln und sie gegen andere Personen durchzusetzen“, sagt Rudolf Schlögl. Und: „Wer ‚ich’ sagt, muss es im Bewusstsein sagen, dass dieses Ich von unterschiedlichen anderen Konstellationen aus etwas anderes ist.“

Identitätspolitik betreiben

„Identitätspolitiken“ und Mobilität sind ein Thema, das im Zentrum in verschiedenen Forschungsschwerpunkten bearbeitet wird: Was passiert mit den „Mobilities“, die wandern, und was passiert mit den aufnehmenden „Kontexten“? Wie müssen zum Beispiel symbolische Bestände beschaffen sein, damit sie überhaupt wandern können? Gibt es Voraussetzungen dafür, dass ein Symbolbestand, Texte zum Beispiel oder Ideen, von einem kulturellen Umfeld in ein anderes transferiert werden können? Und: Wie verändert sich ein Kontext, wenn er neue Ideen aufnimmt? Verändern sich die wandernden Gegenstände? Beispiel Mensch: Ein Flüchtender aus dem subsaharischen Afrika hat eine von der aufnehmenden Gesellschaft unterschiedene Identität, wenn er ankommt. Er muss Identitätspolitik betreiben, um in Europa Asylbewerber werden zu können. Menschen – wie Dinge und Ideen – sind keine festgefügten Einheiten. Menschen – wie Dinge und Ideen – verändern sich je nach Sozialkontext.

Mit dieser konstruktivistischen Grundhaltung und dem Begriff der Mobilität steht eine Kernidee zur Verfügung, die über die verschiedenen Disziplinen hinweg möglichst weit interpretierbar ist. Die Literaturwissenschaft interessiert sich beispielsweise unter dem Stichwort Weltliteratur für die Zirkulation von Motiven, von Topoi. Frage: In welchen globalen Landschaften sind Wanderungsbewegungen zwischen bestimmten literarischen Figuren festzustellen? Die gesamte Geschichte lässt sich ökonomisch, politisch und sozial als Geschichte solcher Integrations- und Wandlungsprozesse über Austausch beschreiben. „Man kann sich soziale Einheiten in ihrer Stabilität wie in ihrer Dynamik ohne diese Mobilität schlecht vorstellen“, sagt Rudolf Schlögl.

Prozesshaft angelegte neue Konzepte

In vielen Fällen wird diese dynamische Sicht auf das Soziale mit überkommenen Theoriekonzepten oder Modellen nicht mehr ausreichend zu erfassen sein. Eine neue Beschreibungssprache wird nötig werden, neue Konzepte müssen entwickelt werden, die prozesshaft angelegt sind und mit denen sich soziale Ordnungszusammenhänge und deren Veränderungen, ihre Dynamik und ihre Multiperspektivität beschreiben lassen. Überkommene Konzepte wie beispielsweise „Fortschritt“ müssen neu überdacht werden. Der Fortschrittsbegriff entstand im 17. Jahrhundert und prägte das Selbstverständnis mindestens der europäischen Gesellschaften bis ins 20. Jahrhundert. „Er schließt die Vorstellung ein, dass die europäischen Gesellschaften ein von Vernunft und Rationalität getriebenes Entwicklungspotenzial besitzen, das man auch in den Rest der Welt tragen muss.

Nach den politischen, sozialen und kulturellen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, nach dem Zerfall der Kolonialimperien wird deutlich: Fortschritt ist ein europäisches Projekt, das bei seiner Realisierung im Rest der Welt anstatt zu Fortschritt zu Katastrophen und Kriegen geführt hat. „Wir sind heute an dem Punkt, wo die Folgen dieses Fortschritts zurückkommen. In der Migration holt uns unsere eigene Geschichte ein“, so Rudolf Schlögl. Ein normativer Aspekt kommt hinzu. Wenn wir wissen, welche Kosten diese Fortschrittsorientierung verursacht, kann man sie dann noch als Beurteilungsmaßstab für die globalisierte Welt außerhalb Europas heranziehen? „Ein für die Selbstbeschreibung europäischer Gesellschaften zentrales Konzept ist in seiner analytischen und normativen Plausibilität nicht mehr zu halten“, sagt Rudolf Schlögl. Eine zukünftige Begriffsarchitektur muss das Phänomen, dass sich Dinge verändern und dass es Zukunftsperspektiven gibt, neu fassen. Das Zentrum für kulturwissenschaftliche Forschung verspricht aufregende neue Erkenntnisse über eine Welt in Bewegung.

Prof. Dr. Rudolf Schlögl ist seit 1995 Professor für ­ Neuere Geschichte und seit 2006 Sprecher des Exzellenz­clusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität ­Konstanz.

Der Beitrag erschien zuerst in der uni’kon 66 (Juni 2017).