Narrative des Liberalismus

Die aktuelle Debatte um den Populismus ist zugleich eine Debatte über die Grundlagen liberaler Demokratien. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass liberale und demokratische Forderungen über lange Zeit miteinander im Widerstreit lagen. Die großen Ideengeber des klassischen Liberalismus (James Madison, Benjamin Constant, John Stuart Mill) sahen in der Aufrichtung einer überparteilichen Autorität, die sich auf Vernunft und Recht gründete, eine heilsame Beschränkung des Prinzips der Volkssouveränität. Nur in Grenzen schien ihnen die Entscheidungsmacht demokratischer Mehrheiten mit liberalen Erfordernissen vereinbar. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich das Modell der liberalen Demokratie als ein phasenweise weltweit nachgeahmtes Vorbild durch. In der Gegenwart streben beide Tendenzen wieder auseinander.

Das wichtigste verbindende Element zwischen liberalen und demokratischen Prinzipien bildet das Repräsentativsystem moderner Rechtsstaaten. Repräsentation als stellvertretendes Handeln von Wenigen im Namen der Vielen ist indessen nicht nur ein politischer Mechanismus. Sie impliziert Fragen der sozialen Schichtung, kollektiven Affektmodellierung sowie der kognitiven Bewältigung und kommunikativen Kontrolle von Komplexität. Überdies ist sie auf Dauer nur dann erfolgreich zu rechtfertigen, wenn sie sich auf Narrative der Inklusion gründet und eine Zukunft für alle verheißt. Das Projekt widmet sich aus einer Makroperspektive, die über den (west)europäischen Horizont hinausgreift, vorrangig diesen narrativen und im weiteren Sinn kulturellen Funktionsbedingungen liberaler Staatsordnungen. Es soll einen historisch vertiefenden Beitrag dazu leisten, deren aktuelle Akzeptanzkrise besser zu verstehen. Mit den Projektforschungen sollen narratologische, das heißt aus der Literaturwissenschaft abgeleitete Verfahren für das Verständnis sozialer Dynamiken nutzbar gemacht werden. Aktuelle Diagnosen zur Krise der liberalen Demokratie werden in einen weiteren historischen Kontext gestellt, dadurch aber auch in ihrer Dramatik relativiert. Offene Anschlüsse für eine methodologische Fortentwicklung des Projektdesigns bieten sich hinsichtlich der Frage, wie narrativierte Selbst- und Gesellschaftswahrnehmungen mit empirisch ermittelbaren Sozialdaten korrelieren. Von Interesse ist hier vor allem der Grad an Eigenmacht kollektiv wirksamer Erzählungen, da man von einem einfachen Gleichlauf keineswegs wird ausgehen können.

Elitenkritik als dominantes Merkmal der politischen Rhetorik unserer Tage setzt Verfahren der Stellvertretung, des Sprechens im Namen der Allgemeinheit, der Inanspruchnahme eines exklusiven und höherrangigen Expert*innenInnenwissens unter verstärkten Druck. Die wahrgenommene und durch diese Rhetorik zugleich mitproduzierte Kluft zwischen „Eliten“ und „Volk“ führt dazu, dass jedes Handeln und Entscheiden mit repräsentativem Anspruch als ein Handeln und Entscheiden „kulturell Anderer“ fremdgezeichnet und delegitimiert werden kann. Hinzu kommt, dass auf solche Weise Strukturzwänge, Ambivalenzen und politisch-gesellschaftlich unbewältigte Komplexitäten vom Gemeinwesen selbst auf dessen Repräsentanten verlagert und ihnen entweder als Unvermögen oder als absichtsvolles Verschulden angelastet werden können. All dies trägt sich in wachsendem Maß in Form von Erzählkämpfen zu, die für Fragen des sozialen Zusammenhalts beziehungsweise der sozialen Spaltung unmittelbar virulent sind.