Dr. Maggie Schauer

Maggie Schauer leitet die Psychologische Forschungs- und Modellambulanz der Universität Konstanz am Zentrum für Psychiatrie Reichenau. Ihre psychotraumatologischen Studien führt die klinische Psychologin auch in der klinischen Praxis und in Kriegs- und Krisenregionen durch: zum Beispiel bei der Akutversorgung in Auffanglagern während der Kosovokrise, in Uganda mit sudanesischen Flüchtlingen, mit ehemaligen politischen Gefangenen und Überlebenden von Folter in Rumänien und der Türkei sowie unter anderem mit Kriegsopfern und ehemaligen Soldaten in Somalia.

Derzeit arbeitet Maggie Schauer an Projekten mit, die sich mit den Behandlungsmöglichkeiten für Überlebende von extremem und/oder lang andauerndem Stress zum Beispiel nach Folter, Genozid, sexuellem Missbrauch in der Kindheit sowie zur Rehabilitation von forensischen Patienten beschäftigen. In den vergangenen Jahren untersuchte sie auch generationenübergreifende Auswirkungen von Misshandlung und Vernachlässigung. Ihr Schwerpunkt liegt auf von Stress- und Traumaforschung abgeleiteten, wissenschaftlich untersuchten Methoden zum Schutz von Säuglingen und Kleinkindern. Seit 2009 ist sie gewähltes Vorstandsmitglied der NGO „Babyforum” (www.babyforum-landkreis-konstanz.de).

Maggie Schauer gehört zu den Gründungsmitgliedern von „vivo” (victim voice international, www.vivo.org). Von 2004 bis 2008 war sie stellvertretende Vorsitzende von „vivo Deutschland“, der internationalen Organisation für Psychotraumatologie. Bis 2009 arbeitete sie als Mitglied der Kinderarbeitsgruppe der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie.

Die Wissenschaftlerin, die auch als Sachverständige bei Gerichtsverfahren auftritt, ist Mitglied des Internationalen Netzwerks für interdisziplinäre Forschung über die Auswirkungen von traumatischen Erfahrungen auf das Leben von Individuen und die Gesellschaft, Hamburg. Sie arbeitet mit „Human Rights Watch“ und Amnesty International zusammen.

Dr. Martina Ruf

Dr. Martina Ruf ist Diplom-Psychologin und arbeitet als Hochschul-Assistentin im Fachbereich Klinische Psychologie an der Universität Konstanz. Im Rahmen ihrer Promotion untersuchte sie Auswirkungen von Krieg und anderen Formen organisierter Gewalt auf die psychische Gesundheit von Flüchtlingskindern in Deutschland sowie erstmalig die Effektivität der Narrativen Expositionstherapie in der Behandlung traumatisierter Flüchtlingskinder. Ihre weiteren Forschungsaktivitäten umfassen Psychotherapie nach Trauma (zum Beispiel bei ehemals entführten Kindern in Norduganda), Trauerreaktionen bei Kindern nach dem Verlust der Eltern (z.B. durch HIV /AIDS in Äthiopien und Tansania) sowie die Erforschung der Folgen von (früh)kindlichem Stress auf die kindliche Entwicklung. Neben ihrer Tätigkeit an der Universität Konstanz ist sie Präsidentin der Nichtregierungsorganisation vivo e.V. (www.vivo.org) und arbeitet in diesem Rahmen am Aufbau von psychosozialen Projekten für traumatisierte Kinder und Erwachsene in Kriegs- und Krisenregionen mit.

„Babyforum“ heißt ein Verein im Landkreis Konstanz. Kinderärzte, Gynäkologen, Hebammen, die Mitarbeiter von Jugendämtern, Wohlfahrtsverbänden und Beratungsstellen haben sich darin zusammengeschlossen, um Schwangeren und Familien in schwierigen Situationen bereits vor der Geburt ihres Babys Hilfestellungen zu geben und sie auch danach zu begleiten. Die beiden Psychologinnen Dr. Maggie Schauer und Dr. Martina Ruf vom Fachbereich Klinische Psychologie und Neuropsychologie der Universität Konstanz und von der Non-Profit-Organisation vivo international (www.vivo.org) betreuen wissenschaftlich Projekte des Vereins. „Im Gespräch“ hat sich bei ihnen nach Details erkundigt.

Frau Dr. Schauer, Frau Dr. Ruf, der Verein Babyforum wurde im Oktober 2009 gegründet. Einige haben gesagt, es war höchste Zeit. Finden Sie das auch?

Wenn wir uns die Statistik vergegenwärtigen, uns bewusst machen, welch dramatische Fälle immer wieder in Deutschland passieren, dann wurde es höchste Zeit, auch regional aktiv zu werden. Jede Woche kommen in Deutschland drei Kinder durch ihre Eltern zu Tode – eine Zahl, die sich konstant bei 150 bis 170 Fällen im Jahr hält. Dagegen haben sich die Fälle von Kinder- und Jugendhilfe innerhalb von 20 Jahren versechsfacht. Pro Jahr muss das Jugendamt zirka 28.000 mal eingreifen, also 77 mal pro Tag. Jedes neunte Kind wird in Deutschland Opfer von schwerer Gewalt und Misshandlung, erleidet beispielsweise Knochenbrüche.

Dem Verein Babyforum geht es aber gar nicht nur um die schweren Notfälle. Wir wollen erreichen, dass  auch Schwangere und junge Mütter, die sich belastet fühlen oder deren Leben risikobehaftet ist, Unterstützung bekommen. Rechtzeitig Hilfe anbieten, bevor sich die Entwicklung zuspitzt – das ist ein wichtiges Ziel unseres Vereins.

 

Warum engagieren Sie sich fürs Babyforum? Haben persönliche Erfahrungen eine Rolle gespielt?

Wir haben uns in den vergangenen Jahren akademisch immer weiter in den frühkindlichen Bereich vorgearbeitet. Sicherlich spielt eigene Mutterschaft eine Rolle, vor allem aber die wissenschaftliche Evidenz, die sich inzwischen angesammelt hat, dass das ganze Leben, vor allem aber unsere spätere psychische Gesundheit oder eben Krankheit, grundlegend von der Situation unserer Mutter in der Schwangerschaft abhängt und davon, wie feinfühlig uns unsere Eltern in der frühen Kindheit begegnen.

 

Sie begleiten das Projekt wissenschaftlich. Was genau untersuchen Sie und wie gehen Sie vor?

Während der Schwangerschaft ist die Bereitschaft, über eigene Probleme zu sprechen und Hilfe zu suchen, hoch. Fast alle schwangeren Frauen gehen zu Vorsorgeuntersuchungen bei Gynäkologen, gehen auf Angebote an Beratungsstellen ein oder besuchen Kurse bei Hebammen. Diese Anlaufstellen sind der ideale Ort, um eventuell vorliegende Risiken bei Schwangeren zu erkennen und ihnen geeignete Hilfsangebote zu unterbreiten. Wir haben daher, basierend auf der internationalen wissenschaftlichen Literatur zu Risikofaktoren für die gesunde frühkindliche Entwicklung, einen Kurzfragebogen für eben diese Stellen entwickelt. Der KINDEX (Konstanzer Index für frühkindliche Risiken) soll helfen, belastete Schwangere zu identifizieren und Hilfen einzuleiten. Der Kurzfragebogen wird derzeit in einer wissenschaftlichen Studie validiert.

 

Wahrscheinlich sind Sie bei Ihren Untersuchungen auf die Hilfe vieler angewiesen, damit Sie effektiv arbeiten können…

Wir konnten für die Entwicklung, Durchführung und Validierung des KINDEX niedergelassene Gynäkologen, Kliniken, Hebammen und Beratungsstellen im Landkreis Konstanz gewinnen. Außerdem wird unsere Arbeit von der Arbeitsgruppe Klinische Psychologie der Universität Konstanz unterstützt.

 

Wann haben Sie erste konkrete Ergebnisse? Können Sie aus Ihrer bisherigen wissenschaftlichen Arbeit schon praktische Handlungsempfehlungen ableiten?

Die erste Datenerhebungsphase ist bereits abgeschlossen und hat Handlungsbedarf aufgedeckt. Zudem war das Feedback der beteiligten Gynäkologen, Beratungsstellen und Hebammen erfreulich. Alle begrüßten den Einsatz des Fragebogens, da dieser ihnen endlich eine kurze, pragmatische Möglichkeit bietet, die schwangeren Frauen besser kennen zu lernen. Zudem wird durch den Kurzfragebogen die Motivation zur Inanspruchnahme von Hilfsangeboten erhöht.

 

Ist überhaupt Geld vorhanden, um die Anregungen, die Sie aus Ihrer wissenschaftlichen Arbeit gewinnen, umzusetzen?

Unsere wissenschaftliche Arbeit wird derzeit von Forschungsmittel der Universität Konstanz getragen. Offen ist jedoch, wie sich unser Modell in der Praxis finanzieren lässt. Nationale Gelder für Präventionsarbeit im frühkindlichen Bereich gibt es viel zu wenig. Kosten würde ein solches Screening nicht mehr als ein Blutzuckertest, der zum Beispiel regelhaft in jeder Schwangerschaft gemacht wird. Und rechnen würde er sich zigtausendfach, wenn man die späteren Probleme von Entwicklungsstörungen, Dysfunktionalität in Schule und Beruf, psychischen und körperlichen Krankheiten bedenkt. Allein eine unerkannte Depression der Mutter kann für das ganzes Leben des Kindes seelische und körperliche Folgen haben, das weiß man heute. Es ist aber noch nicht in die Köpfe der Verantwortlichen vorgedrungen.

 

Was, wenn Ihre Empfehlungen – aus welchem Grund auch immer – nicht fruchten?

Beim Babyforum handelt es sich grundlegend um Vernetzungsarbeit. Kooperationen und gegenseitiges Kennen aller beteiligten Stellen im Landkreis sind die Voraussetzung für ihr Gelingen. Es ist höchste Zeit, Risiken für das Baby und Kleinkind evidenzbasiert zu erkennen. Bisher haben sich alle Partner bereit erklärt, den KINDEX einzusetzen. Im nächsten Schritt soll der Versuch unternommen werden, ihn national vorzustellen und zu verbreiten. Dieses Instrument wird das erste validierte sein. Wir hoffen, dass auch nationale Stellen diese Chance erkennen.

 

Das Babyforum hat viele Experten. Trotzdem werden wohl nicht alle Eventualitäten abgedeckt werden können - alle Kinder werden Sie nicht erreichen können. Wie gehen Sie damit um?

Interessanterweise stimmt das nicht ganz. Die schwerwiegendsten Fälle sind oft mehreren Stellen bekannt. Bisher war es allerdings so, dass man noch nicht kooperierte. Interventionen sind somit mangels Nachsorge oft ins Leere gelaufen. Letztlich aber ist natürlich die freiwillige und mündige Mitwirkung der Schwangeren und idealerweise auch des Vaters des Kindes gefragt.

 

Sie beide sind unter anderem in Traumata-Arbeit sehr erfahren, engagieren sich beispielsweise auch in Ländern wie Afrika, wenn es um das Wohl von Kindern geht. Gibt es Unterschiede zwischen Ihrem dortigen und dem hiesigen Engagement?

Gerade im Moment, in dem wir dieses Interview führen, befinden wir uns mit einem Team in Tansania, wo wir in einem Waisenhaus mit Kindern von einem bis zwölf Jahren arbeiten. Fast alle diese Kleinen haben sehr schwere Traumata überlebt: drohender Hungertod, Vernachlässigung oder Misshandlung. Im Gegensatz zu Deutschland ist hier allerdings auch unter der Normalbevölkerung schwere körperliche Züchtigung und Kinderarbeit an der Tagesordnung. Die Kinder müssen täglich sehr viel körperlich leisten. Für uns ist dieses Modellprojekt ein Versuch, sowohl den Kindern Traumatherapie zu bieten als auch mit den Hausmüttern neue Praktiken für gewaltfreie Disziplinierung zu erarbeiten und in Workshops grundlegende Bereiche der Kindesentwicklung zu diskutieren. Die Hausmütter dachten zum Beispiel, es sei gut, die Bezugspersonen möglichst oft zu wechseln, damit die Kleinen sich nicht zu sehr an eine „Mama“ gewöhnen und dann weinen, wenn sie weg ist. Wie wichtig dagegen gerade zuverlässige, sichere Bindung ist, war den Frauen nicht klar. Trotzdem haben es kleine Babys in Afrika meistens noch sehr gut. Sie werden mit einem Tuch am Körper getragen und mindestens zwei Jahre gestillt. Die Bedeutung des Stillens für Immunsystem, Zahngesundheit, Darmflora, und beispielsweise Sprachentwicklung wird bei uns erst gerade wieder als modern erkannt.

 

Wenn Sie einen Wunsch fürs Babyforum äußern dürften – welcher wäre das?

Wir hoffen auf mutige Hebammen, Gynäkologinnen, Beratungsstellen und alle, die mit Schwangeren zu tun haben, damit der KINDEX in jeder Schwangerschaft zum Einsatz kommt und somit eine Grundlage zur Erarbeitung einer geeigneten Unterstützung geschaffen wird. Bisher ist die Schwelle nämlich hoch, eine Schwangere zum Gespräch über ihre psychische Belastung und womöglich ihre eigenen Misshandlungserlebnisse in der Kindheit einzuladen. Das will niemand hören, beziehungsweise es besteht Angst vor Überforderung, wenn man solche Themen anspricht. Offenheit wäre bei der Bewältigung dieser Themen wichtig – und der Mut, nachzufragen.