Hermannus Contractus – Zeit und Leben

Vortragsreihe vom 16. Januar bis 4. Dezember 2013 in Reichenau-Mittelzell, ünster St. Maria und Markus

Der Reichenauer Mönch Hermannus Contractus – auch Hermann der Lahme – lebte von 1013 bis 1054. Er war von frühester Kindheit an gelähmt und Zeit seines Lebens an einen Tragstuhl gebunden – daher der Name »Contractus«. Unter anderem führte er als Erster eine präzise Zeitzählung und die Benennungen »vor« und »nach« Christus in die Geschichtsschreibung ein. Sein bekanntestes Werk, »Chronicon«, umfasst die Weltgeschichte von Christi Geburt bis ins Jahr 1054 und ist aufgrund seiner Präzision eine der zuverlässigsten Quellen für diese Zeitspanne. Anlässlich seines 1000. Geburtstages veranstaltete das Konstanzer Wissenschaftsforum in Kooperation mit der Gemeinde Reichenau, der Stiftung Welterbe Klosterinsel Reichenau, den Kliniken Schmieder sowie dem Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« eine Vortragsreihe rund um das Thema »Zeit«.

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Eröffnungsvortrag Mittwoch, 16. Januar 2013, 20 Uhr

Kapitelsaal im Münsterpfarrhaus, Reichenau

Die Entwicklung der klassischen Mechanik - von Hermannus Contractus bis Isaac Newton

Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Rüdiger
Universität Konstanz

Die Wiegejahre der modernen Physik zu beobachten bedeutet, in ein Zeitgemälde der Menschheitsgeschichte zu schauen. Von der Geburt des Reichenauer Mönchs und Gelehrten Hermannus Contractus im Jahr 1013 bis zum Tod Isaac Newtons im Jahr 1727 schreitet der Vortrag die Entwicklung der klassischen Mechanik ab, stets in lebendigem Bezug zur Weltgeschichte. Welche Messinstrumente mussten erst noch erfunden werden, um die Physik voranzutragen, welche Methoden mussten entwickelt werden – und wie wirkten sich Ereignisse wie Pest und Inquisition, Reformation und Gegenreformation, die Erfindung des Buchdrucks oder schlicht und ergreifend die großen Reiseentfernungen auf die Wissenschaft aus? Am Ende des Vortrags werden die Planetenbewegung und das Gravitationsgesetz entdeckt sein, die Grundgesetze der Bewegung und mit ihnen das Konzept des Determinismus werden formuliert sein und die Menschheit wird mitten im heliozentrischen Weltbild stehen, am Fuße der Aufklärung.

Mit einer Einführung in das Thema der Veranstaltungsreihe von Prof. Dr. Dr. h.c. Gerhart von Graevenitz, Universität Konstanz


Mittwoch, 20. Februar 2013, 20 Uhr

Münster St. Maria und Markus, Reichenau-Mittelzell

Fließt die Zeit, oder springt sie? Beides ist richtig

Prof. Dr. Ernst Pöppel
LMU München, Institut für Medizinische Psychologie

Aus Sicht der klassischen Physik »fließt« die Zeit kontinuierlich; so wird die »wahre« Zeit zumindest von Isaac Newton definiert und die relativistischen Betrachtungen ändern nichts an diesem grundlegenden Konzept. Auch in unserem Erleben haben wir den Eindruck einer kontinuierlich fließenden Zeit, auch wenn dieser subjektive Fluss manchmal schneller oder langsamer (bei Langeweile) erfolgt. Doch im Grunde ist der Eindruck einer gleichförmig fließenden Zeit eine Illusion, und das Konzept der kontinuierlichen Zeit in der Physik eine gewagte Abstraktion. Wir hätten als erlebende oder wahrnehmende Wesen gar keinen Zugriff zur Welt um uns und der Welt in uns, wenn die Zeit kontinuierlich durch uns hindurch fließen würde. Prinzipien der neuronalen Informations-Verarbeitung erzwingen eine Zerstückelung, ein Springen der Zeit. Das Gehirn ist gekennzeichnet durch »Zeitfenster« unterschiedlicher Dauer, innerhalb derer Information gebündelt wird, und innerhalb derer die »vorher-nachher-Beziehung« von Informationen nicht gilt. Ein solches Zeitfenster liegt im Bereich von Millisekunden, ein anderes im Bereich von etwa zwei bis drei Sekunden. Letzteres kann als operative Grundlage dafür angesehen, was wir üblicherweise als »subjektive Gegenwart« ansehen. Solche »Gegenwarts-Fenster« folgen einander, und was in ihnen jeweils als Bewusstseins-Inhalt repräsentiert ist, hat normalerweise einen semantischen Bezug zum vorhergehenden und nachfolgenden Zeitfenster. Durch diese semantischen Bezüge wird der Eindruck einer kontinuierlichen Zeit erzeugt. Eine paradoxe Situation: Nur weil die Zeit »springt«, kann sie »fließen«.


Mittwoch, 17. April 2013, 20 Uhr

Münster St. Maria und Markus, Reichenau-Mittelzell

Zeitskalen in der Entwicklung von Erde, Leben und Mensch

Prof. Dr. Max von Tilzer
Universität Konstanz, Fachbereich Biologie

Für das Verständnis der Vergangenheit von Erde, Leben und Mensch benötigen wir Informationen sowohl über die Vorgänge selber, als auch über ihren zeitlichen Ablauf. Prozesse, welche die Entwicklung von Erde, Leben und Mensch gesteuert haben, kann man aus Spuren ablesen, welche sie in einer Vielzahl von Archiven hinterlassen haben. Für die Datierung von Zeitzeugen der Vergangenheit gibt es absolute Verfahren mit deren Hilfe man das Alter bestimmter Zeitzeugen direkt bestimmen kann. Durch relative Datierungsverfahren können die Chronologien verschiedener Archive aufeinander bezogen werden. Das Entwicklungsgeschehen von Erde, Leben und Mensch wurde durch eine Vielzahl von Zeitgebern gesteuert, die entweder in den einzelnen Systemen enthalten waren, oder aus äußeren Einflüssen bestanden, die den Gang der Ereignisse in neue Richtungen lenkten. Nach dem heutigen Stand unseres Wissens ist das Universum vor 13,7 Milliarden Jahren entstanden, das Alter unserer Erde beträgt 4,55 Milliarden Jahre und erste Hinweise auf Lebewesen reichen 3,8 Milliarden Jahre zurück. Das Alter unserer eigenen Species wird auf 200.000 Jahre geschätzt, die Entwicklung unserer Zivilisation und Geisteskultur setzte vor etwa 10.000 Jahren ein und in den letzten 200 Jahren hat sich unser Leben durch die rasante Entwicklung der Technik verändert wie nie zuvor.


Mittwoch, 10. Juli 2013, 20 Uhr

Münster St. Maria und Markus, Reichenau-Mittelzell

Zeitverschiebungen praktisch: Woher kommen die Mittelalterbilder des 21. Jahrhunderts?

Prof. Dr. Valentin Groebner
Universität Luzern, Historisches Seminar

Begriffe für den praktischen Umgang mit historischem Material aus dem Mittelalter fangen auffallend häufig mit der Vorsilbe »Re-« an. Relikt, Reliquie, Rekonstruktion: Offenbar geht es darum, etwas wiederzuholen oder zu wiederholen – denn das ist ja nicht dasselbe. Manövrieren in der Zeit ist das Kerngeschäft aller Formen der gelehrten Beschäftigung mit der Vergangenheit, und ihrer populären Spielarten ebenfalls. Nicht nur Wissenschaftler, sondern auch die Autoren von historischen Romanen, Drehbüchern und Reiseführern stellen sich sehr gerne als Forschungsreisende in das fremde Territorium »Damals« dar.
Nur ist die Vergangenheit - und zumal »das« Mittelalter - kein sehr übersichtliches Gelände, eher eine Art Höhlensystem. Berichterstatter können stolpern und unversehens in andere Epochen fallen. Sie finden sich in Zeitfalten wieder, in denen ältere Ereignisse übereinander zu liegen kommen und Abläufe, sich wiederholend, ihre Richtung ändern. Gegenstände, Bilder und erst recht Texte können ohne weiteres mehreren Epochen gleichzeitig angehören und sie miteinander vermengen. Die mittelalterliche Vergangenheit ist offensichtlich kein für immer stillgestelltes »Damals«, sondern belebt: Bewohnt von Untotem, von quasi lebendigen (und jedenfalls höchst veränderlichen) Gegenständen, und von recht auskunftsfreudigen Gespenstern. Reden die wirklich nur vom Mittelalter?

Mittwoch, 16. Oktober 2013, 20 Uhr

Münster St. Maria und Markus, Reichenau-Mittelzell

Zeitreisen um die Welt - Die Ortszeit und das Zeitregime des Weltkultur- und Naturerbes der UNESCO

Dr. Andrea Rehling
Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz

Besuche von Welterbestätten werden häufig mit der Möglichkeit zur Zeitreise beworben. Am »authentischen Ort« sei die unmittelbare Erfahrung des Vergangenen als »Erbe der Menschheit« möglich, so das Werbeversprechen. Die Wahrnehmung des Ortes und seiner Zeit von Touristen unterscheidet sich dabei in der Regel fundamental von derjenigen der lokalen Bevölkerung, die im oder mit dem Welterbe lebt. Beider Sicht wiederum variiert von der Perspektive der Experten des Denkmal- und Naturschutzes oder der Vertreter der Internationalen Organisation UNESCO, die seit 1978 rund um die Welt Orte mit dem Label »Weltkultur- oder Weltnaturerbe« adeln. Der Vortrag analysiert diese unterschiedlichen Zeit- und Ortskonzeptionen am konkreten Beispiel und beleuchtet die daraus erwachsenden Probleme und Konflikte. Er setzt sich dabei auch mit der These auseinander, die »Heritagefication« mache die Welterbestätten zu virtuellen Orten, die ihre konkrete zeitliche und räumliche Einbindung verlieren.


Mittwoch, 4. Dezember 2013, 20 Uhr

Münster St. Maria und Markus, Reichenau-Mittelzell

»Zeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit – philosophisch betrachtet«

Prof. Dr. Gottfried Gabriel
Universität Jena, Philosophische Fakultät

Im Ausgang von den Überlegungen zur Zeit und Zeitrechnung bei Hermann dem Lahmen werden unterschiedliche philosophische Auffassungen von Zeit sowie von deren Vollendung oder Aufhebung in Vorstellungen von Ewigkeit in historischer Entwicklung erörtert. Zur Sprache kommen Denker von Augustinus über Kant bis zu Heidegger. Neben den naturphilosophischen Konzeptionen von Zeit und Zeitmessung werden die anthropologischen und existentiellen Dimensionen der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins beleuchtet. Befragt werden in diesem Zusammenhang auch Zeitvorstellungen in der Dichtung, insbesondere solche in Goethes »Faust«.