Winfried Kretschmann im Audimax der Universität Konstanz

Rede des Herrn Ministerpräsidenten

am 24. Juni 2016 im Audimax der Universität Konstanz

Stellungnahme zum Brexit

Ich freue mich sehr, heute, zwei Jahre nach meinem letzten Besuch, wieder an der Universität Konstanz zu Gast zu sein und Ihren runden Geburtstag gemeinsam mit Ihnen zu feiern.

Heute ist ein Tag der Freude in Konstanz, aber ein schwarzer Tag für Europa. Lassen Sie mich deshalb zunächst ein paar Worte zu der Entscheidung der Briten sagen, die EU zu verlassen.

Diese Entscheidung erschüttert Europa in seinen Grundfesten. Für das Projekt eines vereinten Europas ist der Brexit eine historische Zäsur.

Mit dem heutigen Tag verliert die EU ihre drittstärkste Volkswirtschaft, sie verliert 64 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger.

Die wirtschaftlichen Folgen, auch für unser Land, sind heute noch gar nicht abzusehen.

Das außenpolitische Gewicht der EU ist durch diesen Austritt empfindlich geschwächt.

Im Innern besteht die Gefahr, dass die Fliehkräfte weiter zunehmen und europafeindliche Gruppen an Stärke und Einfluss gewinnen.

Es ist deshalb höchste Zeit, eine Debatte über die Zukunft Europas zu führen – auch bei uns im Land.

Und ich hoffe, dass sich die Universitäten und Hochschulen an dieser Debatte beteiligen.
Wir verdanken der Europäischen Integration eine beispiellose Zeit des Friedens, der Freiheit und des wachsenden Wohlstands.

Diese Errungenschaften müssen heute mit Zähnen und Klauen verteidigt werden.

Nur ein geeintes und handlungsfähiges Europa kann in der Welt von heute für seine Grundwerte wirksam eintreten und dafür sorgen, dass diese auch in Form internationaler Regelwerke
Niederschlag finden.

Nur ein geeintes und handlungsfähiges Europa kann einen wirksamen Beitrag zur Bewältigung der vielfältigen globalen Krisen leisten.

Wir müssen Europa verteidigen, aber wir müssen es auch reformieren:

Europa muss – mehr als heute – zu einem demokratischen Europa, einem Europa von unten
werden, zu einem Europa der Bürgerinnen und Bürger, zu einem Europa der Subsidiarität.

Baden-Württemberg wird sich als Land in der Mitte Europas aktiv in diese Debatte einbringen.

Ich komme gerade zurück von einer Reise in die Schweiz. Auch dort haben die anti-europäischen
Kräfte 2014 mit der so genannten Masseneinwanderungsinitiative einen folgenreichen Sieg errungen.

Das hat heute schmerzhafte Konsequenzen für die Schweiz, auch im Bereich der Wissenschaft.

So kann die Schweiz jetzt nicht mehr voll am EUForschungsrahmenprogramm Horizont 2020 partizipieren.

Dabei erfordert ein immer härter werdender internationaler Forschungswettbewerb eigentlich
mehr – und nicht weniger europäische Kooperation.

Wenn wir im globalen Innovationwettbewerb weiter mithalten wollen, dann werden wir in Europa auch in der Wissenschaft zu Schwerpunktbildungen kommen müssen, zu koordinierter Forschung an wichtigen Zukunftsprojekten.

Das Kooperationsprojekt der Internationalen Bodenseehochschule – die Universität Konstanz ist
ein Teil davon – weist dabei in die richtige Richtung.

Wir brauchen in Zukunft mehr, und nicht weniger solcher gemeinsamen Anstrengungen.

Konstanzer Gründungsmythos

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun zu Ihrem schönen Jubiläum kommen.

Jede Institution von Bedeutung hat ihre Gründungsmythen – das muss ich in Konstanz
niemandem erzählen.

In Ihrem Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ gehören solche Mythen ja geradezu zu den Forschungsgegenständen.

Eine bemerkenswerte Version Ihres eigenen Gründungsmythos lautet - frei nach Ralf Dahrendorf
- in etwa so:

Ministerpräsident Kiesinger soll auf der Rückfahrt von einer Italienreise gewesen sein. Als er oberhalb von Kreuzlingen über den Berg kam und der Blick auf Konstanz und den See sich eröffnete, soll er beschlossen haben, hier gehöre eine Universität hin.

Wahrscheinlich kam der Anstoß zu diesem Mythos vom Ministerpräsidenten selbst, als er schon im
Dezember 1959 in einer Landtagsdebatte sagte, das Projekt einer Universität Konstanz sei aus
seinen Überlegungen hervorgegangen, ich zitiere, „wie Pallas Athene aus dem Haupt des Zeus“.

Nun war es allerdings auch vor über 50 Jahren schon so, dass zwischen dem griechischen
Göttervater und einem baden-württembergischen Ministerpräsidenten glücklicherweise noch einige Unterschiede bestehen.

Und so dauerte es von der Idee bis zur Verwirklichung immerhin noch weitere sieben Jahre.

Die demokratischen Mühen der Ebene blieben also auch meinem Vorgänger Kiesinger nicht erspart.

Das schmälert aber seine Verdienste in keiner Weise. Im Gegenteil: Die Neugründungen der
Universitäten Konstanz und Ulm gehören ohne Frage zu den besten Hinterlassenschaften seiner
Amtszeit.

Motive und Ziele der Gründung

Die Universität Konstanz war dabei alles andere als die fixe Idee eines Politikers. Sie war eine
weitsichtige Maßnahme aus einer konkreten historischen Situation heraus.

Ihre Gründungsabsicht war, wenn man so will, von einem mehrfachen Integrationswillen geprägt.

Ministerpräsident Kiesinger ging es darum, mit einer Universitätsgründung einer lange Zeit
vernachlässigten Randregion neue Impulse zu geben.

Dass sich die bedachte Randregion im badischen Landesteil befand, war ebenfalls kein Zufall und
sollte in dem noch jungen Bindestrichland „letzte altbadische Unruhen besänftigen“ helfen, wie Gründungsrektor Gerhard Hess einmal formulierte.

Auch eine Grenzstadt als Standort war bewusst gewählt, denn von Anfang an wurde bei der
Gründung europäisch gedacht, hoffte man auf grenzüberschreitende Ausstrahlung und
Kooperation.

An diesem Tag muss daran ganz besonders erinnert werden.

Grenzüberschreitung und Integration waren aber auch und gerade in wissenschaftlicher Hinsicht die Leitmotive der Konstanzer Gründung.

In guter baden-württembergischer Manier wollte man nicht einfach eine weitere Universität unter
vielen gründen.

Nein, man wollte Pionierarbeit leisten in Sachen Hochschulreform, man wollte in der damaligen
Hochschullandschaft etwas ganz Neues, Innovatives schaffen – und das war, neben der von Beginn an angelegten Internationalität, wohl das entscheidende Erfolgsrezept dieser Gründung.

In einer Zeit der immer weiter fortschreitenden Spezialisierung der Wissenschaften, in der zugleich
immer mehr junge Menschen an die Hochschulen strebten, sollte eine Reformuniversität entstehen, um die alten Humboldt‘schen Bildungsideale in die eigene Gegenwart zu übertragen.

Die von vielen bereits für tot erklärten Prinzipien „Bildung durch Wissenschaft“ und „Lehre aus
Forschung“ sollten aufs Neue miteinander verbunden werden, die „Einheit der Wissenschaft“, die zunehmend aus dem Blick zu geraten drohte, sollte institutionell für die Universität zurück
gewonnen werden.

So entstand hier am schönen Bodensee eine Modelluniversität, die sich Interdisziplinarität nicht
nur auf ihre Fahnen schrieb – und zwar lange bevor dies andere taten –, sondern die die Überwindung von Fachgrenzen und die Zusammenarbeit der Disziplinen auch in ihren Strukturen zu verwirklichen suchte.

Wenn dabei in den ersten Jahren auch nicht gleich alle Blütenträume reiften – das Projekt Universität Konstanz war und ist, das steht heute fraglos fest, eine grandiose Erfolgsgeschichte.

Und zwar nicht in erster Linie, wie Ralf Dahrendorf treffend sagt, „durch die Umsetzung eines Plans, sondern durch die Fortsetzung einer Grundhaltung.“

Schon in der Gründungszeit zog Konstanz bedeutende Wissenschaftler an, die den Mut hatten, in ihren jeweiligen Fächern neue Wege zu gehen und deren Erkenntnisinteresse die Grenzen der
Disziplinen sprengte:

Ich nenne Dahrendorf selbst, den großen Liberalen. Ich nenne den umtriebigen konservativen
Politikwissenschaftler Waldemar Besson. Ich nenne die schulbildenden Literaturwissenschaftler
Wolfgang Iser und Wolfgang Preisendanz,

aber auch den Romanisten Hans Robert Jauß, dessen Zugehörigkeit zur Waffen-SS die Universität Konstanz in großer Offenheit in den letzten Jahren wissenschaftlich aufarbeiten ließ.

Und ich nenne den Biologen Hubert Markl, der in Büchern wie „Natur als Kulturaufgabe“ weit über
den Tellerrand seines eigenen Faches hinausblickte.

Heute sind die großen Erfolge in beiden Phasen der Exzellenzinitiative, aber auch die Spitzenpositionen in nationalen wie internationalen Hochschulrankings der Beleg dafür, dass hier nach wie vor höchste wissenschaftliche Qualität zu Hause ist – und zwar in der Forschung wie in der Lehre!

Klein-Harvard am Bodensee – das war einmal ein Spottname angesichts der hohen Erwartungen in der Gründungszeit. Heute kann er getrost als angemessener Ehrentitel aufgefasst werden – und zwar für beide Universitäten.

Einschub: Exzellenzstrategie

Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit sagen: Ich freue mich, dass am Donnerstag vor einer Woche in Verhandlungen im Kanzleramt das Nachfolgemodell der Exzellenzinitiative, die „Exzellenzstrategie“ auf den Weg gebracht werden konnte.

Bund und Länder stärken damit auch in Zukunft die Spitzenforschung an den Universitäten.

Dabei steht wissenschaftliche Exzellenz weiterhin im Mittelpunkt des Programms.

Ich bin mir also sicher, dass eine forschungsstarke Universität wie Konstanz wieder gute Chancen hat, aus dem Wettbewerb erfolgreich hervorzugehen.

Konstanz ist „exzellent“ – und wir werden alles dafür tun, dass das auch so bleibt!

Die Landesregierung wird Sie und die anderen Universitäten im Land jedenfalls nach Kräften dabei unterstützen.

Die Bedeutung der Wissenschaft

Meine Damen und Herren, ich sprach eingangs angesichts der Universitätsgründung in Konstanz von einer weitsichtigen Maßnahme meines Vorgängers Kiesinger.

Tatsächlich hat die Bedeutung der Wissenschaft für unsere Gesellschaft seit den sechziger Jahren noch einmal deutlich zugenommen.

Der Wettbewerb auf den Weltmärkten ist für unsere Unternehmen inzwischen in erster Linie ein Innovationswettbewerb. Und Innovationen sind wissenschaftsgetrieben. Sie sind das Ergebnis von Durchbrüchen in der Wissenschaft.

Zugleich sehen wir uns in unserer Zeit mit großen Fragen konfrontiert:

Von der Krise Europas war bereits die Rede.

Weiter fragen wir:

Wie können wir den Klimawandel wirksam begrenzen? Wie können wir das Wirtschaftswachstum vom Naturverbrauch entkoppeln?

Wie gestalten wir die digitale Revolution, damit sie Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen nutzt?

Wie gehen wir mit den zunehmenden weltweiten Migrationsbewegungen um?

Wie verteidigen wir unsere offene Gesellschaft gegen ihre Feinde?

Was hält unsere immer heterogener werdenden Gesellschaften noch zusammen?

All diese Fragen, meine Damen und Herren, können nach meiner festen Überzeugung nur mit Hilfe der Wissenschaft beantwortet werden.

Und eine eindeutige, ein für alle Mal fest stehende Antwort wird es auf die meisten dieser Fragen gar nicht geben.

Die Wissenschaft ist also mehr denn je zur Grundlage unseres Wohlstands und unserer gesellschaftlichen Entwicklung geworden.

Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik

Das hat in jüngster Zeit allerdings auch zu neuen Debatten über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik geführt.

Manche meinen, die Politik müsse mehr Einfluss nehmen auf die Hochschulen, damit die Steuergelder dort auch wirklich zur Lösung der drängenden gesellschaftlichen Probleme eingesetzt werden.

Nun ist die Freiheit der Wissenschaft aber in meinen Augen nicht nur ein hohes Verfassungsgut.

Freiheit ist vielmehr die eigentliche Voraussetzung für Kreativität und Innovation.

Gerade wer viel von der Wissenschaft erwartet, muss ihr deshalb vor allem Freiräume gewähren, damit sie alte Gewissheiten in Frage stellen und neues Denken wagen kann.

Freiräume gewähren: darin sehe ich auch die besondere Qualität unseres Hochschulfinanzierungsvertrags „Perspektive 2020“, den wir in der zurückliegenden Legislaturperiode geschlossen haben.

Mit der darin festgeschriebenen Erhöhung der Grundfinanzierung um 3 Prozent pro Jahr schaffen und schützen wir Freiräume, indem wir zum Beispiel mehr unbefristete Stellen an den Hochschulen ermöglichen:

Freiräume für Forschung, die nicht sofort die Verwertung im Sinn haben muss – eben Grundlagenforschung.

Freiräume in den Köpfen, um kreativ denken und arbeiten zu können.

Freiräume für eine autonom vorangetriebene Hochschulentwicklung.

Bis 2020 investieren wir auf dieser Basis 1,7 Milliarden Euro zusätzlich in unsere Wissenschaftslandschaft.

Und die grün-schwarze Koalition hat bereits weitere Investitionen in unsere Hochschulen verabredet.

In Forschungsleuchttürme ebenso wie in innovative Lehre, in Grundlagenforschung ebenso wie in die Stärkung von Transfer und Gründergeist.

Konstanz: Kultur der Kreativität

Was unsere Hochschulen brauchen ist eine Kultur der Kreativität und Rahmenbedingungen, die eine solche Kultur ermöglichen.

Eine Kultur, wie sie hier in Konstanz seit 50 Jahren gelebt wird.

Eine Kultur der intellektuellen Risikobereitschaft und des Mutes, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen.

Eine Kultur, die Grenzen, Fachgrenzen wie Ländergrenzen, überwindet.

Interdisziplinäre Forschungsprojekte in den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften …

… Kooperationen mit Universitäten in aller Welt – von den engen Beziehungen in die Schweizer Nachbarschaft bis hin zum Austausch mit China und den USA –, …

… und nicht zuletzt Partnerschaften mit Unternehmen und gesellschaftlichen Akteuren:

Das ist der Konstanzer Nährboden, auf dem neues, innovatives Denken gedeihen kann.

Dazu kommt eine aktive Förderung von Ausgründungen, die Gründerförderung „Campus Startup Konstanz“, die die Universität gemeinsam mit der Hochschule Konstanz ins Leben gerufen hat.

Nicht nur Spezialisten ausbilden, sondern Forscherpersönlichkeiten bilden – das war hier in Konstanz von Anfang an der Anspruch:

Persönlichkeiten mit Erkenntnisleidenschaft und Neugier, mit der Lust am Zweifel, an der kritischen Reflexion und der intellektuellen Debatte.

Wer gelernt hat, den Dingen auf den Grund zu gehen, dem fällt es leichter, neue Fragestellungen zu entwickeln und neue Antworten zu geben – und zwar ganz gleich, an welchem Ort in der Gesellschaft er später wirken wird.

Auf solche Persönlichkeiten aber, meine Damen und Herren, ist unsere Zeit dringend angewiesen.

Sie verkörpern Wissenschaft im besten Sinne – und damit eine Haltung, die dem aktuell grassierenden Populismus diametral entgegensteht.

Wissenschaft weiß um die Komplexität unserer Welt – und um die Bedeutung des permanenten, lösungsorientierten Diskurses.

Die kleine Universität Konstanz – auf Augenhöhe mit den ganz Großen – macht es seit 50 Jahren vor, als Hochschule zugleich Zukunftslabor und Impulsgeber, Denkfabrik und Kreativzentrum zu sein.

Sie ist ein wahrer Schatz am Bodensee!

Meine Landesregierung will Ihnen auch in Zukunft bei Ihrer wichtigen Arbeit ein verlässlicher Partner sein.

Herzlichen Glückwunsch zum Jubiläum und alles Gute für die Zukunft!