Dieter Imboden

Ein Leuchtturm steht in Konstanz

am 24. Juni 2016 im Audimax der Universität Konstanz

Vorbemerkung

Es ist für mich eine grosse Ehre, am 50. Geburtstag der Universität Konstanz zu Ihnen sprechen zu dürfen. – Und eine grosse Freude: Mit Konstanz und seiner Universität fühle ich mich in mehrfacher Weise verbunden.

Für den Zürcher und einstigen Professor der ETH liegt erstens die Universität Konstanz geografisch sozusagen gleich um die Ecke. Zudem gehört zu ihr ein renommiertes limnologisches Forschungsinstitut, mit dem ich als Seephysiker während vieler Jahre intensiv zusammengearbeitet habe und an dem heute ein ehemaliger Doktorand von mir, Professor Frank Peeters, tätig ist.

Zweitens: Für Basel, wo ich den grössten Teil meiner Schul- und Studienzeit verbracht habe, ist Konstanz sozusagen eine ältere Schwester, hatten doch beide Städte im 15. Jahrhundert die Ehre, ein Konzil zu beherbergen, Konstanz von 1414 bis 1418, Basel von 1431 bis 1448. Allerdings – dies vermerkt der protestantische Ex-Basler mit einem gewissen Schmunzeln – war Basel weit erfolgreicher, aus dem Konzil für seinen eigenen Ruhm Kapital zu schlagen. Nicht nur wurde während des Konzils ein provisorischer Universitätsbetrieb aufgezogen, die Basler schafften es auch, im harten Konkurrenzkampf mit Freiburg i.B. den nach dem Basler Konzil zum Papst Pius II gewählten Enea Silvio Piccolomini für ihre Pläne für eine permanente Universität zu gewinnen, so dass die Stadt Basel schon im Jahre 1460, nur wenig später als die Konkurrentin Freiburg, zu ihrer Universität kam.

Das Konzil von Konstanz stand diesbezüglich unter einem weniger glücklichen Stern. Es wurde während des Schismas vom Gegenpapst Johannes (dem) XXIII mit der Hoffnung einberufen, die Einheit der katholischen Kirche wieder herzustellen, was trotz zum Teil drastischer Entscheide, so der Verbrennung von Jan Hus als Ketzer, nicht gelang. Immerhin muss es während des Konzils auch lustig zugegangen sein, woran heute am Eingang des Konstanzer Hafens die Statue der Imperia, einer üppigen Kurtisane, erinnert.

Und damit bin ich am Bodensee und beim Titel meines Vortrages angelangt.

Der Leuchtturm und die Exzellenzinitiative

„Ein Leuchtturm steht in Konstanz“ – da stimmt doch einiges nicht, werden sich manche beim Lesen dieses Titels gesagt und vielleicht an die erwähnte Imperia gedacht haben: In jenem Volkslied, auf das der Titel anspielt, geht es erstens nicht um einen Leuchtturm, sondern um ein Männlein, und dieses steht nicht in Konstanz, sondern im Walde. Immerhin: Der Wald könnte zu unserem Geburtstagskind passen, obschon dieses Männlein im Mainauwald ob der Stadt alles andere als auf einem Bein steht, sondern auf vielen Betonsäulen fest im Boden verankert ist. Zweitens aber werden die Einheimischen untern Ihnen wissen, dass der bekannteste Leuchtturm am Bodensee nicht in Konstanz, sondern in einem befreundeten Nachbarstaat steht – einem freien Staat übrigens, wie er mit vollem Namen stolz verkündet –, nämlich an der Hafeneinfahrt des bayrischen Lindau.

Pikanterweise allerdings gehörten während vieler Jahre das Lindauer Hafengelände und damit auch der Leuchtturm den Stadtwerken Konstanz. Es brauchte zähe Verhandlungen, bis im Jahre 2010 das Gelände zusammen mit dem Leuchtturm und dem Bayrischen Löwen, welcher die andere Seite der Lindauer Hafeneinfahrt schmückt, an Lindau zurückging. Vielleicht – so meine Vermutung – waren die Verhandlungen schliesslich nur deswegen erfolgreich, weil Konstanz unterdessen einen eigenen Leuchtturm geschaffen hatte, eben jenen auf dem Giessberg, um den es heute geht. So konnten die Konstanzer den Lindauer Leuchtturm mit leichterem Herzen ziehen lassen.

Und weil „Die Zeit“ (die Zeitung, meine ich) ihre Artikel über die Exzellenzinitiative jeweils mit einem Leuchtturm schmückt, sind wir unweigerlich beim aktuellen Thema der deutschen Hochschul- und Forschungspolitik angelangt. Ich möchte meinen Vortrag keineswegs als Diskurs über die Exzellenzinitiative missbrauchen. Doch so ganz vermeiden lässt sich das Thema aus aktuellem Anlass wohl doch nicht, denn die Regierungschefs von Bund und Ländern haben erst vor ein paar Tagen, am 16. Juni 2016, dem Vorschlag der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) zur Fortführung der Exzellenzinitiative zugestimmt. Daran konnte glücklicherweise auch der in letzter Minute aufgetauchte Widerstand einer Hansestadt nichts ändern.

Kurz, Modalität und Fahrplan für die nächste Runde des Wettbewerbs um die Exzellenz-Gelder sind nun festgelegt, und Konstanz ist davon sehr direkt betroffen. Wie Sie wissen, ist die Universität aktuell mit zwei Graduiertenschulen, einem Exzellenzcluster und – was besonders hervorzuheben ist – mit einem Zukunftskonzept an der Exzellenzinitiative beteiligt. Damit gehört die Universität Konstanz schon seit dem Jahre 2007 zum illustren Kreis der momentan elf Exzellenzuniversitäten, übrigens als einzige der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten  „Reformuniversitäten“, was schon für sich allein genommen ein lebendiger Beweis für die Lebenskraft der vor 50 Jahren gegründeten Universität darstellt. Ferner ist Konstanz unter den Exzellenz-Universitäten bei weitem die kleinste; darauf werde ich am Schluss nochmals zu sprechen kommen. (Der Vollständigkeit halber möchte ich hier ergänzen, dass im Jahre 2012 die Universität Bremen als weitere junge Universität in den Kreise der „Erwählten“ aufgenommen worden ist.)

Wegen ihrer Sonderstellung unter den Exzellenz-Universitäten diente die Universität Konstanz der internationalen Expertenkommission, welche im Auftrag der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) die bisherige Wirkung der Exzellenzinitiative auf das deutsche Universitätssystem zu evaluieren hatte, immer wieder als Testfall. Insbesondere war die Kommission der festen Überzeugung, dass die Spielregeln der künftigen Exzellenzinitiative so zu gestaltet seien, dass höchste Qualität unabhängig von der Grösse einer Universität und unabhängig von ihrem Fächerspektrum zu identifizieren und zu fördern sei. – Es wird sich zeigen, ob die am 16. Juni beschlossenen Spielregeln diesem Anspruch zu genügen  vermögen. Die Kommission war jedenfalls erfreut, dass die Minister in vielen Fällen ihren Vorschlägen gefolgt sind, auch wenn es entscheidende Differenzen dazu gibt. – Aber der Entscheid ist jetzt getroffen, also lassen wir dieses Thema und kommen wir zum eigentlichen Punkt des heutigen Tages, zu den fünfzig Jahren der Universität Konstanz, oder allgemeiner noch: zur Zeit.

Die Zeit

„Die Zeit ist ein sonderbar Ding“, singt die Marschallin im ersten Akt des Rosenkavaliers von Richard Strauss. Sie meint damit die Zeit für ein Menschenleben, für ihr eigenes Leben, welches sie im feinsinnigen Libretto von Hugo von Hofmannsthal mit dem erbarmungslosen Rieseln der Sandkörner in einer Sanduhr vergleicht. „Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie“, sagt die Marschallin zu ihrem jungen Liebhaber Octavian.

Um nicht einfach „so hinzuleben“, feiern wir Geburtstage, und einige davon, nämlich die „Runden“, begehen wir besonders festlich. Doch seien wir uns bewusst, dass es ganz besondere Umstände sind – und nicht eine höhere Ordnung –, welche unsere runden Geburtstage definieren. Da wäre erstens die Astronomie, welche mit der Umlaufzeit der Erde um die Sonne  das Jahr und die Jahreszeiten schafft, welche dem Leben ihren Takt geben. Und da wäre zweitens ein kleines Detail in der späten Evolution, als die Säugetiere entstanden und die Primaten, inklusive der Mensch, mit fünf Fingern an jeder Hand ausgestattet wurden, was schliesslich zum Zehnerzahlensystem führte, wo doch das Zwölfersystem wegen der einfacheren Primzahlzerlegung der Zahl zwölf so viel praktischer für unseren Rechnungsunterricht gewesen wäre. Im Zwölfersystem übernähme die Zahl 144 die Rolle unserer Zahl 100, das halbe Jahrhundert würde dann 72 Jahre dauern und wir müssten auf die heutige Feier noch 22 Jahre warten.

Das Symbolhafte runder Geburtstage aber liegt selbstverständlich nicht im Absoluten, sondern in jenem relativen Rhythmus, welcher der Mensch für seine eigene Orientierung braucht, um vor der Unendlichkeit der Zeit nicht zu verzweifeln. Es sind Meilensteine, wie sie einst am Rande unserer Wege standen, um dem Kontinuum der zeitlichen oder räumlichen Bewegung Struktur zu geben. An dieses Prinzip haben sich die Organisationswissenschaftler offensichtlich erinnert: Nichts mehr geht heute ohne die neudeutschen Milestones. Auch die Forschung ist von der „Milestone-itis“ befallen. Wir fragen uns, wie Kepler, Einstein und Darwin es damals gemacht haben...

Aber wir feiern heute einen Meilenstein einer Institution, nicht eines Forschungsprojektes. Im Vergleich zur Dauer eines Projektes oder der Lebenszeit eines Menschen gehorcht die Zeit einer Institution – zumindest in unserer Wahrnehmung – einem anderen Gesetz. Erstere sind von endlicher zeitlicher Dimension. Menschen werden geboren, altern und sterben. Ganz andere Regeln gelten für das Alter von Institutionen. Je älter, desto besser und ehrwürdiger – fragen Sie nur die Universität Heidelberg oder meine eigene Alma Mater, die Universität Basel. Wäre ich eine Institution, nicht ein Mensch, dürfte ich mich gegenüber der heutigen Jubilarin fast ein wenig brüsten, denn ich hätte das halbe Jahrhundert bereits hinter mir, sogar im Zwölfersystem.

Eine neue Institution wird unausgesprochen für die Ewigkeit geschaffen, an ihren möglichen Tod denkt niemand, denn das würde ja implizit einen Misserfolg bedeuten. Wir kennen Gründungszeremonien, Grundsteinlegungen, Einweihungsfeiern – beliebte Bühnen für Politiker. Haben Sie schon einmal von einer „Ausweihungsfeier“ oder einer „Grundsteinentfernung“ gehört? Für Institutionen gibt es kein Pensionsalter. Wenn wir ihre runden Geburtstage feiern, wie wir es heute an der Universität Konstanz tun, mögen wir zwar auch Rückschau halten und uns an das einst Beabsichtigte und Erhoffte erinnern, aber immer – und vor allem – geht der Blick auch in die Zukunft. Der Mensch, der unter dem Diktat der Endlichkeit steht und seit seiner Geburt den Tod in sich trägt, schafft sich so seine Illusion der Unsterblichkeit.

Der Fluss der Geschichte

Was aber gibt dem Menschen, dem sterblichen Wesen, immer wieder die Kraft und die Kühnheit, über sein eigenes Dasein hinaus zu schauen und das Unsterbliche zu wagen? – Das sind uralte Fragen der Menschheit. Jede Kultur hat auf ihre eigene Art mit der Endlichkeit des individuellen Lebens fertig zu werden versucht, hat Mythen der Wiedergeburt und des ewigen Lebens geschaffen und immer wieder auf neue Art versucht, mit Hilfe der scheinbaren Unendlichkeit der physischen und geistigen Dinge, mittels Bauwerke und Institutionen, das eigene Leben (oder zumindest die Erinnerung daran) zeitlos zu machen.

Ich bin weder der Philosoph noch der Historiker, der hier über dieses Thema Kompetentes und Neues zu sagen im Stande wäre. Dem Physiker, der sich in seiner eigenen Forschung mit der Rolle des Wasser in der Geo- und Biosphäre beschäftigt hat, liegen andere Bilder näher, Bilder, welche die physische Welt in die endlose Kette von Entstehen und Vergehen einschliessen und damit ein Sinnbild für den Verlauf unserer Geschichte abgeben.

Stellen Sie sich, meine Damen und Herren, für einen Augenblick vor, sie seien ein Falke, der über einer Landschaft  kreist, durch die ein grosser, ungezähmter Fluss fliesst, ein Fluss, der noch nichts weiss vom Dämme bauenden Menschen. Das scharfe Auge des Vogels erblickt ein kompliziertes Netz von Wasserläufen, grossen und kleinen, die sich fortwährend teilen und wieder vereinigen. Immer wieder fliesst neues Wasser durch dieses Netzwerk von Wasseradern, aber was bleibt und sich meist nur langsam verändert, ist das System von Flussläufen. Hier und dort, in einer Biegung vielleicht, bricht plötzlich ein Wasserarm durch das Kiesbett und sucht sich einen neuen Weg, um schon bald wieder zu versiegen oder sich etwas weiter stromabwärts wieder mit dem alten Wasserlauf zu verbinden. Manchmal aber bleibt eine anfängliche Richtungsänderung bestehen, ja sie verstärkt sich, und der Wasserlauf findet ein neues Ziel, ein neues Meer. So entstehen aus kleinen Abweichungen grosse Wasserscheiden.

Selten nur wird das Bild der kontinuierlichen Veränderung durch ein katastrophales Ereignis überwältigt, durch ein Hochwasser, welches die Flusslandschaft von Grund auf neu formt und, wenn die Wasser wieder abgezogen sind, eine neue Welt zurücklässt, in der wieder der alte Prozess der Abspaltung und Verschmelzung der Wasseradern zu wirken beginnt. Man nennt solche Ereignisse Revolutionen. Aus der Geschichte wissen wir, dass sie zwar Raum für Neues schaffen, aber meist – wie Hochwässer auch – mit schmerzlichen Kollateralschäden einhergehen. (Wie das gestrige Resultat der Brexit-Abstimmung die Flusslandschaft verändern wird, wird sich dereinst zeigen, wenn das Hochwasser abgeflossen ist!)

Weit häufiger aber verändert sich die Welt evolutiv. Als einen evolutiv ausbrechenden, vorerst unscheinbaren Nebenstrom stelle ich mir jenen berühmten Schmierzettel vor, welcher der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Georg Kiesinger im Jahre 1959 einem Konstanzer Landrat zugesteckt haben soll, auf dem Kiesinger Konstanz als Standort einer neuen Universität vorschlug. Er war nicht der einzige Flussarm, der damals in Deutschland entstand, nur dass viele schnell wieder versiegten. Aber der „Kiesinger-Schmierzettelstrom“ überlebte und wurde zu einem stabilen neuen Flussarm, vielleicht weil er besser war als andere, aber sicher auch weil Zeit und Ort dafür reif waren, sozusagen schon eine kleine Vertiefung für den neuen Strom im Gelände angelegt war, welche das kleine Bächlein zu nutzen verstand.  Die Prädisposition für einen neune Flussarm war nicht zuletzt dadurch gegeben, dass der Raum nördlich des Bodensees – im Gegensatz etwa zum badischen Rheintal– auf der Universitäts-Landkarte fast so etwas wie ein weisser Fleck geblieben war und sich im sonst doch so tüchtigen Ländle offensichtlich ein Drang nach diesbezüglicher Leistung aufgestaut hatte. Daher bewirkte die Idee einer Universitätsgründung  nicht nur in Konstanz, sondern in der ganzen Region eine Aufbruchstimmung, welche bis heute anhält.

Eine neue Idee, und sei sie noch so gut und vielversprechend, muss scheitern, wenn nicht nachfliessendes Wasser den neuen Flusslauf vertieft, wenn nicht weitere Menschen mit ihren Ideen und Taten nachstossen und sich das Neue zur eigenen Sache machen. Und diese Menschen gab es, den Gründungsrektor Gerhard Hess zum Beispiel oder Rektor Horst Sund, der 15 Jahre und damit bislang am längsten an der Spitze der Universität stand.

Ich kann die Personen nicht alle nennen, welche den Lauf der Universität geprägt und zum Erfolg geführt haben, aber gestatten Sie mir aus besonderem Anlass eine Person speziell zu erwähnen, Gerhard von Graevenitz, Rektor von 2000 bis 2009 und damit primärer Verantwortlicher für den frühen Erfolg der Universität Konstanz in der Exzellenzinitiative. Ich hatte ihn vor vielen Jahren an einer wissenschaftspolitischen Tagung kennen gelernt, wo unser Gespräch sehr schnell bei Theodor Fontane landete und ich kurz danach sein neues Fontane-Buch in Händen halten durfte. Als die Evaluationskommission in ganz Deutschland Interviews über die Exzellenzinitiative führte, war er ein sehr feinsinniger, überlegter und weiser Gesprächspartner. Ich hatte danach für den 22. März dieses Jahres ein zweites Treffen mit ihm vereinbart, um mich von ihm für meinen heutigen Vortrag inspirieren zu lassen. Dann kamen kurz hintereinander zwei Mitteilungen, die erste von seinem Sekretariat, Herr von Graevenitz sei erkrankt und könne den Termin nicht wahrnehmen, und kurz danach die Nachricht von seinem Tod am 25. März, die uns alle bestürzte und traurig machte. Ihm möchte ich mit diesen wenigen Sätzen einen wenn auch nur symbolischen Ehrenplatz an der heutigen Feier geben.

Visionen und dynamischer Pragmatismus

Jedes gute Vorhaben beginnt mit einer Mischung aus Vision und Pragmatismus. Wer keine Visionen hat, glaubt nicht an die Zukunft. Pragmatismus hilft bei der Umsetzung von Visionen, aber schafft wenig Neues. Visionen sind keine Hirngespinste, sondern Entwürfe einer möglichen Zukunft, dazu gemacht, dass man mit ihnen arbeitet, sie aufgrund gemachter Erfahrungen ändert, gewisse Ideen ganz aufgibt, andere modifiziert. Nur wer sich farbige Federn an den Hut steckt, kann später auch die eine oder andere Feder lassen, ohne gleich wie ein gerupftes Huhn dazustehen.

Ich habe Dokumente und Zeugnisse aus der Gründerzeit der Universität studiert und darin sowohl Visionen als auch Pragmatismus gefunden. Es ist eindrücklich, mit welcher Offenheit und Selbstkritik im Laufe der Jahre an diesen Visionen gearbeitet worden ist. Von Anfang an spürt man die Überzeugung der damals Verantwortlichen, für das Gedeihen einer modernen Universität seien physische Faktoren ebenso wichtig wie organisatorisch-strukturelle.

Zur ersten Kategorie gehörte die Frage, wie und wo eine neue Universität gebaut werden sollte. Inspiriert durch Vorbilder von jenseits des Atlantiks wurde die Universität bewusst als Campus auf der grünen Wiese (bzw. im grünen Wald) konzipiert, in deren Mitte nach dem Vorbild des antiken Griechenlands eine Agora und eine gemeinsame Bibliothek liegen sollten.

Zu den physischen Randbedingungen passend hat man nach neuen Wegen für die innere Struktur der Universität gesucht: Hier wirkte – neben andern – der Geist des Soziologen und Politikers Rolf Dahrendorf. Er gehörte zu den Gründern der Universität und entwickelte, zusammen mit andern und stark beeinflusst vom amerikanischen Modell, lange vor der Bologna Reform  ein zweistufiges Studium (Bachelor/Master) und regte die Schaffung von reinen Lehr- und Forschungsprofessuren vor. Die Frontalvorlesungen sollten zugunsten von Seminaren und Praktika weitestgehend eliminiert werden. Dahrendorf schwebte eine Universität vor, wo sich Lehre und Forschung an den Schnittstellen der modernen Wissenschaften mit den Kernfragen der modernen Gesellschaft weiter entwickeln sollten.

Dass die optimale Form nicht auf Anhieb gefunden wurde, ist kein Zeichen des Misserfolges, sondern des ernsthaften Bemühens um stetige Verbesserung. Es gehört zur Natur einer dynamischen und lebendigen Organisation, dass die Frage nach der optimalen Struktur auch künftig immer wieder neu gestellt werden muss.

 

Der Mut zur Veränderbarkeit der Zukunft

Was darf man der jungen Universität für die nächsten Jahrzehnte wünschen? – Als Festredner hat man das Privileg – oder die Narrenfreiheit –, seinen eigenen Vorstellungen nachzuhängen. Lassen Sie mich also zum Schluss meine persönlichen Gedanken zur Zukunft einer exzellenten Universität formulieren, wie Konstanz zweifellos eine ist, auch wenn diese Gedanken politisch vielleicht tabu sind. Tabus verstellen den Blick in die Zukunft.

Als Konstanz vor 50 Jahren gegründet wurde, lag in Deutschland der Prozentsatz von Schulabgängern mit Hochschulreife unter 10%, Tendenz stark steigend. Heute liegt die Quote je nach Bundesland 3 bis 5mal höher. Über den damaligen Zeitgeist hinaus, ja in einem gewissen Sinn gegen ihn gerichtet, wollte Konstanz Eliteuniversität,   und nicht – wie der Jargon damals hiess – Entlastungsuniversität sein. Zahlenmässig sind die einst anvisierten 3000 Studierenden zwar um das Vierfache übertroffen, aber die Ambition, Universität im Humboldt’schen Sinn zu bleiben und jungen Menschen in erster Linie die Fähigkeit des selbständigen kritischen Hinterfragens, und nicht primär Berufsfertigkeiten, auf den Weg zu geben, ist geblieben, auch wenn der Zeitgeist dieser Idee heute noch weit mehr im Wege steht als vor 50 Jahren. Immer mehr junge Menschen drängen zur Universität oder werden im Rahmen des heutigen Bildungsmythos in diese gedrängt, und dabei verfügte doch Deutschland wie nur wenige andere Länder über ein hochstehendes, sehr differenziertes und vom Arbeitsmarkt her erfolgreiches Ausbildungssystem, das der Universität zwar einen wichtigen, aber bei weitem nicht den einzigen Platz zuweisen müsste.

Sollte es tatsächlich unabwendbar sein, dass künftig die Hälfte oder mehr eines Jahrganges über die Universität zum Beruf gelangen wird, muss sich auch die Universitätslandschaft grundlegend verändern und ausdifferenzieren, so wie das im universitären „ Vorbild-Land“, in den USA, der Fall ist. Im Augenblick aber lässt die Politik mit zahlreichen Randbedingungen, wie der Kapazitätsverordnung oder dem eingeschränkten Recht der Universität, sich ihre Studierenden über Qualitätsparameter selber auszusuchen wie jede Musikakademie oder jede Schauspielschule, wenig Spielraum für einen Differenzierungsprozess und letztlich auch nicht für das, was die Exzellenzinitiative will.

Aber gerade deswegen wünsche ich der Universität, an die Veränderbarkeit der Zukunft zu glauben und an ihr zu arbeiten. Sie wird sich – wie schon in der Vergangenheit – immer wieder der Frage stellen müssen, wie sie sich im Spannungsfeld zwischen Exzellenz und Wachstum, zwischen fachlicher Konzentration und Ausuferung künftig positionieren will. Mir scheint, der bisherige erfolgreiche Weg der Universität Konstanz weist in eine ganz bestimmte Richtung, auch wenn die Regeln für die neue Exzellenzinitiative – ich kann es mir nicht verkneifen, es hier nochmals zu sagen – leider Qualität an Grösse koppeln.

Aber ich habe auch einen Wunsch an die Politik: Nicht minder wichtig als der gute Wille der Universität sind die politischen Rahmenbedingungen, die Handhabung der Kapazitätsverordnung zum Beispiel, aber vor allem die Finanzen: die Uni ist im Vergleich zu den ausseruniversitären Forschungsinstitutionen und zu ihren ausländischen Konkurrenten unterfinanziert (wie praktisch alle deutschen Universitäten). Daran ändert auch die Exzellenzinitiative wenig. Fast möchte ich sagen: Baden-Württemberg wird sich doch gegenüber dem südlichen „Nachbar-Ländle“ nicht lumpen lassen, weder bei den Universitäten noch beim Fluglärm.

Doch genug der Politik. Heute feiern wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Universität Konstanz. Ich stelle mir vor, dass der am Himmel kreisende Falke, wenn er in fünfzig Jahren auf den mächtigen Fluss der Geschichte blickt, sowohl Vertrautes, als auch Neues erspähen wird. Ich möchte es ganz stark hoffen, dass der vor fünfzig Jahren neu entstandene Flussarm noch immer als vitale Wasserader zu erkennen ist, auch wenn sich sein Lauf verändert haben mag. Und wenn die Sonne auf das bewegte Wasser scheint, so wird der Falke das reflektierte Licht aufblitzen sehen und vielleicht an einen Leuchtturm denken, an einen Leuchtturm, der in Konstanz steht. Und könnte man dann den Ruf des Falken in menschliche Sprache übersetzen, dann würden wir vielleicht hören: Vivat, crescat, floreat, Alma Mater Constantiensis!