Gefühlte Kausalität

Presseinformation Nr. 7 vom 16. Januar 2013

Ein Forscherteam mit Konstanzer Beteiligung weist die Erkennung von Ursache-Wirkungszusammenhängen dem Sehprozess zu

Bei der Wahrnehmung von aufeinanderfolgenden visuellen Ereignissen fällen wir häufig Kausalitätsurteile, wie etwa „Die Hand hat das Glas umgestoßen“. Ein internationales Forscherteam, dem auch der Konstanzer Psychologe Dr. Michael Dambacher angehört, fand nun heraus, dass diese Urteile bereits beim grundlegenden Sehprozess entstehen – ohne Beteiligung von höheren kognitiven Vorgängen. Die Untersuchungen zeigen, dass beim anhaltenden Betrachten von kausalen Zusammenhängen ein ähnlicher Gewöhnungseffekt eintritt wie bei der Wahrnehmung der Größe, Farbe oder Distanz eines Objektes.

Die Hand stößt ans Glas, es fällt um, und die Milch ergießt sich über den Küchentisch. Für den Beobachter ist sofort klar: Das ungeschickte Berühren des Milchglases mit der Hand hat das kleine Malheur bewirkt. Bislang waren sich Wissenschaftler uneins darüber, ob höhere Gehirnprozesse wie logisches Schlussfolgern dieses Kausalitätsurteil begründen – oder ob das Urteil bereits bei der Sinneswahrnehmung entsteht, ähnlich der Einschätzung von Größe, Distanz oder Bewegung eines Objektes. Die Forschergruppe um Dr. Martin Rolfs vom Bernstein Zentrum der Humboldt Universität Berlin, Dr. Michael Dambacher vom Zukunftskolleg der Universität Konstanz und Prof. Patrick Cavanagh von der Universität Paris Descartes hat nun die Antwort auf diese Frage gefunden: Schnelle Kausalitätsurteile werden bereits auf der Stufe der einfachen visuellen Wahrnehmung gefällt.

Für die Untersuchung schauten Probanden auf dem Bildschirm wiederholt eine Animation an, in der sich eine graue Scheibe auf eine andere zubewegt und letztere sich nach einer Berührung in Bewegung setzt. Anstatt die erste Scheibe anhalten und danach die nächste Scheibe anrollen zu sehen, werden beide Vorgänge als eine kontinuierliche Aktion wahrgenommen, bei der die erste Scheibe die zweite ins Rollen bringt – ähnlich zweier kollidierender Billardkugeln. Das Forscherteam konnte zeigen, dass beim mehrfachen Beobachten von Scheiben-Kollisions-Szenen eine Gewöhnung eintritt: Nach den Beobachtungen schätzten die Probanden die Berührung der Scheiben weniger häufig als Grund für die Bewegung der zweiten Scheibe ein als zuvor. Ähnliche Gewöhnungs- bzw. „Adaptationsnacheffekte“ sind bekannt bei andauernder Wahrnehmung einfacher visueller Eigenschaften von Objekten wie etwa der Farbe: Nach längerem Betrachten eines orangefarbenen Lichts erscheint ein blaues Nachbild, wenn anschließend auf eine weiße Wand geschaut wird. Diese visuellen Nacheffekte lassen auf eine Ermüdung der Nervenzellgruppen in den Hirnbereichen schließen, die die spezifischen Merkmale des Objektes analysieren.

Die Haupterkenntnis der Studie: Die Gewöhnung an Kollisionsereignisse trat nur an den Stellen auf, an denen die Kollisionen betrachtet wurden. Wenn die Augen sich bewegten, bewegten sich die adaptierten Stellen mit, ähnlich wie ein Farbnachbild sich verschiebt, wenn die Augen sich bewegen. Den Wissenschaftlern zufolge zeigen diese Ergebnisse, dass die an der Kausalitätsbewertung beteiligten neuronalen Strukturen im frühen Sehprozess angesiedelt sein müssen, da höhere kognitive Prozesse nicht von der Augenposition beeinflusst werden. „Das Forschungsergebnis verlagert Funktionen, die bisher für Leistungen kognitiven Denkens gehalten wurden, in den Bereich der einfachen Wahrnehmung und hat daher Auswirkungen auf verschiedenste Gebiete wie Philosophie, Psychologie und Robotertechnik“, so Studienleiter Rolfs.

Das Zukunftskolleg ist ein Baustein des Zukunftskonzeptes der Universität Konstanz im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder. Es ist eine Forschungseinrichtung der Universität Konstanz zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, in der ein fächer- und generationenübergreifender Dialog gepflegt wird.

 

Originalpublikation:
Rolfs, M., Dambacher, M., Cavanagh, P. (2013): „Visual adaption of the perception of causality“. Current Biology: Jan 10, 2013; DOI: 10.1016/j.cub.2012.12.017