Dem Nichtwissen auf der Spur

Presseinformation Nr. 130 vom 28. Oktober 2011

Kulturwissenschaftliches Kolleg startet mit neuem Rahmenthema in das akademische Jahr 2011/2012

Das Konstanzer Kulturwissenschaftliche Kolleg des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ hat für das aktuelle akademische Jahr eine Gruppe von Gastwissenschaftlern („Fellows“) eingeladen, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Nichtwissen und Integration/Desintegration beschäftigen. Das neue Schwerpunktthema wurde im Rahmen eines ersten Arbeitsgesprächs durch Prof. Dr. Birger Priddat von der Universität Witten-Herdecke eröffnet.

Ihrer gängigen Selbstbeschreibung zufolge sind moderne Gesellschaften wesentlich „Wissensgesellschaften“. Wissen wird in der Neuzeit, zumal in der Tradition der Aufklärung, als wertvolle Ressource begriffen, die es zu mehren gilt. Unwissen erscheint dagegen als unproduktiv und schädlich. Diese Sichtweise findet sich jedoch mit einer wachsenden Zahl von Problemen ganz unterschiedlicher Art konfrontiert. Zum einen stellt sich angesichts perfektionierter Informations- und Überwachungstechnologien immer dringlicher die Frage nach einem Recht auf passives und aktives Nichtwissen (Datenschutz, Videoüberwachung, Kundenprofile, Gen-Screening, medizinische Prognostik etc.).

Zum anderen haben moderne Gesellschaften mit dem paradoxen Effekt zu kämpfen, dass sozial produzierte Ungewissheit, etwa im Bereich von Risikotechnologien, eine Folgeerscheinung der rasanten Entwicklung der Wissenschaft ist. Der Zuwachs an Wissen treibt Nichtwissen in einem existentiell bedrohlichen Ausmaß hervor. Deshalb ist inzwischen –  in einer ironischen Umkehrung – von unserer Gesellschaft als einer Nichtwissensgesellschaft die Rede (Ulrich Beck).

Aus dieser zweiten Diagnose folgt, dass man sich gerade im Zeitalter wissensintensiver Technologien auf ein irreduzibles, persistentes Nichtwissen einstellen muss, das neue Formen eines kognitiven und institutionellen Umgangs mit den nicht absehbaren Folgen von wissenschaftlichem Fortschritt notwendig macht. Wie sind unter der Voraussetzung gewussten Nichtwissens Entscheidungen zu treffen und zu rechtfertigen? Diese Frage berührt dort die Problematik der Integration, wo die Folgen nicht von den Entscheidungsträgern allein, sondern von der Gesellschaft oder gar Menschheit zu tragen sind. Nicht zuletzt die Universitäten als Zentren der Wissensproduktion stehen deshalb heute vor der Notwendigkeit, ihre epistemologischen Prämissen einer Revision zu unterziehen und sich für Fragen der „Agnotologie“, der Lehre vom Nichtwissen, zu öffnen.

Aus diesem Grund hat es sich auch das Kulturwissenschaftliche Kolleg zur Aufgabe gemacht, dieses aktuelle Thema aufzugreifen und im Rahmen von Arbeitsgesprächen und Kolloquien durch ausgewiesene Referenten zu behandeln. Neben dem Politökonom Prof. Dr. Birger Priddat sind dies der Sozialanthropologe Dr. Roy Dilley (St. Andrews), der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute (Hamburg) sowie der Soziologe PD Dr. Peter Wehling (Augsburg). Daneben werden weitere Gastwissenschaftler für kürzere Aufenthalte die Gruppe ergänzen.

Weitere Informationen zum Rahmenthema „Nichtwissen“ des Kulturwissenschaftlichen Kollegs unter: www.exc16.de/cms/kolleg-nichtwissen.html