Chancen für die Moral

Presseinformation Nr. 148 vom 5. Dezember 2011

Öffentlicher Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Seibel anlässlich einer Sitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften an der Universität Konstanz über die „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich unter deutscher Besatzung 1940 – 1944

Einmal im Jahr trifft sich die Heidelberger Akademie der Wissenschaften in ihrer Funktion als Landesakademie der Wissenschaften zu einer öffentlichen auswärtigen Sitzung in einer der baden-württembergischen Universitäten. Jährlich alternierend trägt hier ein Akademiemitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen oder der Philosophisch-historischen Klasse aus seinem Forschungsgebiet vor. In diesem Jahr wird die Universität Konstanz Sitzungsort sein. Im Mittelpunkt des Treffens der Akademiemitglieder am Samstag, 10. Dezember 2011, steht der öffentliche Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Seibel. Der Konstanzer Politikwissenschaftler, der seit zwei Jahren ordentliches Akademiemitglied ist, spricht zum Thema „Besatzung, Kollaboration und Massenverbrechen. Die ‚Endlösung der Judenfrage’ in Frankreich, 1940 - 1944“. Beginn der öffentlichen Veranstaltung im Senatssaal V 1001, die durch Grußworte des Akademiepräsidenten Prof. Dr. Hermann Hahn und des Rektors Prof. Dr. Ulrich Rüdiger eröffnet wird, ist um 13 Uhr.

Wolfgang Seibels Vortrag, der sich an ein breites Publikum richtet, befasst sich mit einer Paradoxie bei der Behandlung der „Judenfrage“ in dem von Deutschland besetzten Teil Frankreichs. Obwohl die Vichy-Regierung extrem nationalistisch und antisemitisch war, wies Frankreich unter ihrem Regime am Ende des Krieges eine der niedrigsten Opferraten unter der jüdischen Bevölkerung auf. Hier wurden rund 25 Prozent der Juden deportiert. Zum Vergleich: In den Niederlanden waren es 76 Prozent.

Hintergrund ist, dass sich in den Anfangsjahren der Vichy-Regierung das Deportationsprogramm in Frankreich zunehmend radikalisierte, so dass selbst im nichtbesetzten Teil Frankreichs Juden von der französischen Polizei verhaftet wurden. Angesichts des Protests einzelner Persönlichkeiten in der katholischen Kirche und der öffentlichen Meinung sah sich die Regierung gezwungen, die Kollaboration bei der Umsetzung des deutschen Deportationsprogramms wieder einzuschränken, wodurch die Deportationsrate deutlich sank und auf diesem niedrigeren Niveau auch bis zum Kriegsende blieb.

Für Wolfgang Seibel ist dieses Phänomen wichtig für das Verständnis der Organisationsprinzipien von Massenverbrechen. Es zeige vor allem, „dass selbst unter den widrigsten Bedingungen immer die Chance für die Durchsetzung moralischer Kategorien in der Politik besteht. Massenverbrechen haben ihre eigene Logik, die oft nicht einfach zu entschlüsseln ist. Aber wenn man sie verstanden hat, besteht die Chance, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen“, resümiert der Politikwissenschaftler. Nach dem Vortrag wird es Gelegenheit zur Diskussion geben.