Schuld and the City

Perspektiven auf die Neugestaltung des Tettnanger Stadtmuseums

von Albert Kümmel-Schnur

Wildspieße, militärische Helme unterschiedlicher Herkunft, das Bruchstück eines Mammutstoßzahnes, ein ausgestopfter Wildschweinkopf. Porträtgemälde, bei denen nicht immer ganz klar ist, wer darauf dargestellt ist. Der Rest eines Brückenpfeilders. Münzen. Ein Chormantel, der einmal ein Herzoginnenkleid war. Eine Wickelform für Zigarren und der Aschenbecher eines Bürgermeisters. Ein als Votivgabe auftretender Schrank der Bäckerinnung. Votivmalereien und Reliquienbehälter. Eine Rechenmaschine. Hanteln.

Das Stadtmuseum von Tettnang unterscheidet sich in Qualität und (Un)ordnung seiner Bestände kaum von ähnlichen Institutionen. Es fehlt meist an Geld für Personal, Sammlungspflege, Forschung und Ausstellungen. Kleine, lokale Museen können nicht mit großen, gut finanzierten, meist in Städten angesiedelten Häusern konkurrieren. Aber sie haben eine Chance, die in ihrem Auftrag liegt.

Vordergründig ist der Auftrag eines Stadtmuseums eben, wie der Name sagt: Stadtgeschichte zu erzählen. Doch Stadtgeschichte ist ein systematisch sehr schwer zu erfassendes Feld: sicherlich sind die architektonische Entwicklung und topographische Veränderung einer Ansiedlung gemeint. Davon kaum zu trennen, ist die demographische Entwicklung, die wiederum von politischen ebenso wie sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängt und diese mitprägt. Stadtmuseen haben also ein totales soziales Faktum zum Gegenstand und versuchen meist, diese Totalität als solche auch abzubilden. Deshalb gehören eiszeitliche Funde, die von Mammutjagd und Rentierzelten erzählen ebenso selbstverständlich zu ihren Beständen wie Stadturkunden und -wappen, Fotografien vom Alltagsleben und Artefakte lokal ansässiger Unternehmen. Es gehört schon ein großes Maß an Chuzpe dazu, diese Artefakte dann zu einer chronologisch dichten und erzählerisch sinnvollen Reihe zusammenzufügen.

Warum wagen Stadtmuseen aber diesen Schritt? Meist deshalb, weil der Zusammenhalt der Objekte sich nicht aus deren Eignung für eine systematische Geschichtserzählung ergibt, sondern aus ihrer identitätsstiftenden Funktion. Diese Objekte belegen die Erstreckung der eigenen Existenz, der je individuellen wie der Existenz als Gruppe über die Zeit und ihre Verwerfungen hinaus. Nun ist gerade die Frage nach der Identität, die im Rahmen des sogenannten dritten Museumsbooms der 1980er Jahre zur Gründung vieler 'neuer Heimatmuseen'1 führte, momentan wieder sehr umstritten. Die Welt der 1980er ist buchstäblich nicht mehr unsere Welt: nach Ende des Kalten Krieges und dem Fall des eisernen Vorhangs wurden 'Identität' und 'Heimat' zu Kampfbegriffen lokaler Zersplitterung und neuer Nationalismen. Aus 'Identität' wurde das 'Identitäre', ein polemischer Begriff, der bis heute auf die Exklusion von Andersartigkeit – religiöser, politischer, sexueller, kultureller und herkunftsbedingter Natur – abzielt. Je schärfer dieser Begriff verteidigt wird, desto deutlicher wird seine Fragilität: den Reinheitsfantasien, denen er aufsitzt, hat nie eine historische Wirklichkeit entsprochen. Kultur – das war und ist eben immer Vermischung, unrein, wenn man so will.2 Und Identität gerät dementsprechend zu einer Restkategorie, die der Diversität unserer Lebenswirklichkeit(en) nichts entgegenzusetzen hat.

Vor dem Hintergrund dieser Situation haben Stadt- und Heimatmuseen eine große Chance. Sie können sich zum Zentrum der Debatten und Spannungen einer Kommune machen und somit der Frage nach dem Eigenen und Fremden einen institutionellen Ort geben. Das ist sinnvoll, weil die Antworten eines Stadtmuseums nie im luftleeren Raum stattfnden, sondern gebunden sind und bleiben an real greifbare Objekte. Was immer diskutiert wird, muss sich rückbinden an die Evidenz eines Gegenstands – die Abstraktion, die in solchen Debatten oft den gefährlichen Abgrund des Unverbindlich-Beliebigen (und deshalb völlig beliebig Füllbaren) auftut, wird von vornherein verweigert. Jede Debatte bleibt konkret und muss sich im Konkreten bewähren.

Die Neuausrichtung des Tettnanger Stadtmuseums hat sich unter das Motto „Schuld und Schulden“ gestellt. Anlass ist die inflationäre Münzprägung mit gestrecktem Silber sowie die Fälschungen Konstanzer Münzen durch Anton III von Montfort. Das ist eine greifbare, unmittelbar auf Tettnang bezogene Geschichte, die auch gut mit Artefakten im Museum belegt ist. Wichtiger erscheint jedoch, dass über diese Geschichte viele andere Artefakte des Museums in den Blick kommen: Schuldnerketten etwa, das Sparbuch des letzten Montfort von 1975, ein Schrank der Bäckereiinnung aus den 1920er Jahren, in den ein Gebet gemalt wurde, das dem Herrgott dankt für die Bewahrung vor den schädlichen Folgen der Inflation, eine Schützenscheibe, die drei jüdische Hopfenhändler zu Zielobjekten kollektiver Schießübungen macht, und vieles andere mehr. Anhand des Themas „Schuld und Schulden“ bekommt man also die Bestände des Tettnanger Stadtmuseums recht gut in einen gemeinsamen erzählerischen Kontext.

Ist man soweit gekommen, muss man jedoch umgekehrt fragen, ob das Schuld/Schulden-Thema auch geeignet ist, Stadtgeschichte zu erzählen. Handelt es sich nur um eine gute Klammer, die Kontingenz des Sammlungsbestands thematisch zu binden, oder ist das auch ein gutes Narrativ, um von Vergangenheit und Gegenwart der Stadt Tettnang, also auch eines ganz spezifischen Ortes und nicht irgendeines, zu erzählen?

Kaum überraschend ist meine positive Antwort: ja, unbedingt. Und zwar zunächst aus der ganz einfachen Erkenntnis heraus, dass die basale Form unserer Sozialbeziehungen auf asymmetrischen Abhängigkeiten - Schuld eben oder, wie man neutraler sagen könnte, wechselseitiger Verpflichtung - beruht: "Ich bin Dir was schuldig." Wir sind alle - in einem Wort des elisabethanischen Dichters John Donne - keine Inseln, können unabhängig vom Sozialverband nicht existieren und zwar auch dann nicht, wenn wir die ersten abhängigen Jahre überstanden haben. Wir brauchen - genauso wie alle anderen Primaten - nicht nur Nahrung und Schutz, sondern auch die Zuwendung der Gruppe.3

Und die Gaben, die wir empfangen, erzeugen genauso wie diejenigen, die wir verschenken, eine Bindung. "Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast."4 Nathalie Sarthou-Lajus hat diese Einsicht zur Basis eines "Lobs der Schulden" gemacht.5 Schulden sind für die Autorin die Grundbedingung, menschlich zu sein - sie sind der Name jener Abhängigkeiten, die wir Beziehungen nennen. "It is what makes society possible. There is always an assumption that anyone [...] can be expected to act on the principle of 'from each according to their abilities'"6

In Tettnang ist das nicht anders: jemand findet einen Brief seiner Urgroßmutter und entdeckt, dass sie noch einen Liebhaber hatte, über den sie nie gesprochen hat. Ein anderer, 12 oder 13 Jahre alt, buddelt mit seinem Kumpel ein Erdloch, bedeckt es mit Mist - aus diesem 'Bunker' beobachtet er Fliegerangriffe auf Friedrichshafen und wird danach von seiner Mutter geohrfeigt. Zwei chronisch sich auf dem Schulweg verspätende Mädchen haben Glück, auf einen geduldigen Bahnschaffner vertrauen zu können.7

Alltägliche Geschichten wie sie überall passieren könnten, aber - und das ist das Entscheidende - eben nur in kleinen Gemeinschaften unter Gleichen. Man kennt sich, ist einander vertraut, sorgt sich umeinander, hat Mitleid, findet sich selbst im Spiegel der anderen, in deren Anerkennung oder ihrer Verweigerung. 'Alltäglicher Kommunismus' ist der Ausdruck, den David Graeber für diese Art der Beziehungspflege findet. Er ist der Kitt, der unsere Gesellschaften zusammenhält. Sein Prinzip ist die Reziprozität - ich gebe Dir, weil ich darauf vertraue, dass Du mir gibst - ganz unabhängig davon, ob eine Situation eintritt, in der ich Deine Gabe benötige.

Nun kann die alltägliche Pflicht zur Reziprozität umschlagen und zum Potlatsch,8 zum Wettkampf um das soziale Prestige von Gaben werden: wir kennen das etwa von Geburtstagsgeschenken - der hat mir ein Buch geschenkt, jetzt kann ich auf seinem Geburtstag nicht mit einer Tafel Schokolade erscheinen. Das Geschenk muss mindestens gleichwertig sein (oder scheinen), besser aber, es ist etwas höherwertiger als das, was ich bekommen habe. Gleichzeitig darf das Geschenk aber nicht völlig den Rahmen sprengen - man will den Gastgeber ja nicht demütigen. Ähnliches gilt etwa für Sitzordnungen. Oder denken Sie an den Frauenstreit im Nibelungenlied - wer darf als erste den Wormser Dom betreten: Brünhild oder Kriemhild - die Frau des Herrschers oder die Frau desjenigen, der diese Herrschaft möglich machte? Selbst Gesten oder Blicke sind nicht mehr harmlos, wenn es um soziale Konkurrenz geht. Wer darf wen wie anschauen? Wer muss vom Gehweg in die Gosse treten? Der junge Mann vor der alten Dame etwa. Das erscheint uns selbstverständlich: Alter vor Jugend, Frauen vor Männern, ein Relikt noch aus den Zeiten, als die Menschen ihre Nachttöpfe aus den Fenstern leerten - wer näher am Haus ging, bekam weniger ab. Wie verhalten sich die beiden aber zueinander, die alte Dame und der junge Mann, wenn sie sich auf der Bank wiedersehen - der eine als Bankangestellter, die andere als Anwärterin für einen Kredit? Oder, wenn die Dame die Sekretärin des jungen Mannes wäre? Oder was, wenn wir uns in den USA der 1950er Jahre befänden und die Dame hätte schwarze, der Mann weiße Hautfarbe? Wer müsste dann in die Gosse treten?

Nun stellen Sie sich vor, Sie wären Hugo III von Montfort und erhielten als Erbe keine Stadt wie Feldkirch oder Bregenz, sondern bloß "Tettos Feld"? Ja, genau. Dann würden sie im Versuch, es ihren besser gestellten Brüder nachzutun, aus diesem Feld mit Burg eine echte Stadt mit Rechten und einem Markt machen wollen. Und wenn sie zu diesem Zweck Leute - ansässige Bauern - zwingen müssten, sich ihren Wünschen gemäß zu verhalten? Ja, genau. Dann täten sie das. Die Dynamik der Stadtentwicklung ergäbe sich hier also aus einem sozialen Äquivalenzbedürfnis oder, wie man es auch formulieren könnte: dieses Verhalten meinen Sie (also: Hugo III) seien sie ihrem 'Stand', ihrer 'Familie', ihrer 'Ehre' vielleicht schuldig.

Dass aus dem Gefühl solcher sozialer 'Schuldigkeit' leicht ökonomische Schulden werden können, zeigen die Beispiele späterer Grafen - etwa Hugo XVI oder Ulrich IX, die ihren Lebensstil - das, was sie dem Stand, dem Stil der Zeit etc. - schuldig zu sein glauben, mit Schulden finanzieren. Schulden, die bereits, so zeigt es Karl Heinz Burmeister, mit Ulrich IX eine Höhe erreichen, die den ökonomischen Zusammenbruch der Montforterfamilie unabwendbar machen.9 Anton III, so formuliert es Johann Nepomuk Vanottis, "glaubte es sich und seiner Ehre schuldig zu sein, eine zahlreiche Dienerschaft zu unterhalten, glänzende Feste zu geben, den Adel der Nachbarschaft, die Geistlichen und Beamten der ganzen Umgegend bei solchen Anlässen um sich zu versammeln und selbst seinen Namen, wie er glaubte, durch große und kleinliche Bauten und kirchliche Stiftungen zu verewigen."10 Dergestalt wurde "dieser gutmüthige, lebensfrohe Mann" , so das wohl historisch zu harte Urteil Vanottis, zum„wahren Feind und Verderber seiner Familie"11 und zwar, wie Vanotti betont, nicht nur ökonomisch, sondern auch moralisch: "Unter ihm starb die Familie moralisch aus."12

Soziale Schuldigkeit, moralische Schuld und ökonomische Schulden hängen nicht nur eng zusammen, sondern tauschen immer wieder die Plätze. Und diese Dynamik prägt sich dem Sozialen tief ein - sie bestimmt die Bautätigkeit ebenso13 wie die Bevölkerungsentwicklung, die Vorurteile und Meinungen ebenso wie unser Verhalten. So kündigte Ulrich IX 1571 den Schutz der Juden auf, ließ die Schulden der Bevölkerung bei jüdischen Geldverleihern errechnen und nahm einen Kredit über diese Summe zur vollständigen Entschuldung aller Bürger*innen auf mit dem einzigen Ziel, die jüdische Bevölkerung ausweisen zu können. Hier wiederum wird die Ökonomie in den Dienst einer demografisch-ideologischen Entscheidung gestellt.

Die wenigen historisch weit zurückliegenden Beispiele zeigen, wie Schuld und Schulden tatsächlich ein geeigneter Zugriff auf die Darstellung der städtischen Geschichte sein können. Da dieses Thema durch seine Alltäglichkeit und Allgegenwart buchstäblich jedermann und jeder Frau vertraut ist, können wir das Museum zu einem Ort machen, wo auch die Erinnerungen und Geschichten der heute lebenden Tettnangerinnen und Tettnanger aufgehoben sind und wo sich Gegenwart und Vergangenheit begegnen. Auch das ist, letztlich, eine Frage der Schuldigkeit - Erinnerung ist das, was wir den Toten schulden.

1Vgl. dazu Dennis Herrmann: Umkämpfte Räume – Neue Heimatmuseen, Studien zur materiellen Kultur, Bd. 29, Oldenburg 2018 (https://uol.de/fileadmin/user_upload/materiellekultur/Studien_Mat_Kult_Band_01-30/Band29_Herrmann_Umkaempft_2018.pdf).

2Siehe etwa Ilja Trojanow/Ranjit Hoskoté: Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen. München: Blessing 2007.

3Die radikale Abwendung der Gruppe bedeutet nicht einfach eine Verarnung des Lebens, sondern buchstäblich den Tod: in besonders eindrücklicher Form nachzulesen bei Walter B. Cannon "Voodoo Death", in: American Antropologist, 44 (1942), S.169-181.

4Antoine de Saint-Exupery: Der kleine Prinz,

5Nathalie Sarthou-Lajus: Lob der Schulden, Berlin: Wagenbach 2013.

6David Graeber: Debt. The first 5000 years, New York: Melville House 2011, S.

7Diese Beispiele stammen aus den Notizen der Bürger*innenversammlung zur Museumsneugestaltung am 24.01.2020 im Rittersaal des Neuen Schlosses.

8Das Ritual der Kwakiutl-Indianer im Norden Kaliforniens wurde von Marcel Mauss 1923 zur Grundlage eines Textes über die Natur der Gabe gemacht, der seither zu den zentralen Diskussionsbeiträgen in Fragen nicht-monetärer Ökonomien wurde (Marcel Mauss: Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968).

9Karl Heinz Burmeister: Geschichte der Stadt Tettnang, Konstanz: UVK 1997, S. 101.

10Johann Nepomuk Vanotti: Geschichte der Grafen Montfort und von Werdenberg. Ein Beitrag zur Geschichte Schwabens, Graubündtens, der Schweiz und des Vorarlbergs, Konstanz: Belle-Vue 1845, S. 199-200.

11Ebd. S. 200.

12Ebd. S. 200.

13Das erste Schulhaus von Tettnang kauft Ulrich IX als pädagogisches Bollwerk der Gegenreformation, nicht aus humanistischen Erwägungen heraus. Umgekehrt unterhält Tettnang lange Zeit ein weit über die Stadtgrenzen hinaus bekanntes Leprosenspital.