Im Dienste des Staates

Das Projekt untersucht, unter welchen Bedingungen ökonomischer Strukturwandel und sozialpolitische Ziele konstitutiv für gesellschaftlichen Zusammenhalt sein können – oder Prozesse gesellschaftlicher Polarisierung hervorrufen. Den größeren Kontext des Projektes stellt der Strukturwandel der Daseinsvorsorge in Europa zwischen etwa 1955 und 1995 von einem öffentlich stark regulierten System hin zu einem nach betriebswirtschaftlichen Kriterien gestalteten Dienstleistungssektor dar, den – dies wäre zu diskutieren – erst eine neue globale Migration im Niedriglohnsektor ermöglichte. Gerade da die Belegschaften in der Daseinsfürsorge (Müll und Pflege) migrantisch geprägt waren, traf sie es auch zuerst, als die öffentliche Hand sich aus der Daseinsvorsorge zurückziehen wollte. Daseinsfürsorge dient im Projekt also als Prisma, um den Wandel der globalen Arbeitsmigration als staatlich gelenkten Prozess zu analysieren und zu fragen, welche sozialen Konflikte und gesellschaftlichen Abwehrmechanismen am Arbeitsplatz sowie im Rahmen kommunaler Verwaltung entstanden und wie diese überwunden werden konnten.

Das Projekt ist europäisch vergleichend und als Langzeitstudie angelegt: Neben Deutschland sollen Italien und Frankreich als weitere Länder mit migrantischen Arbeitsmärkten in der Daseinsvorsorge im Fokus stehen. Migrant*innen aus Südkorea und den Philippinen übernahmen in der deutschen Kranken- und Alterspflege ab den 1960er Jahren verstärkt Aufgaben, die zuvor zumeist weibliche Familienangehörige außerhalb statistisch erfasster Arbeitsmärkte bewältigt hatten. Migrant*innenInnen von den Philippinen kamen in Italien massenhaft im Care-Bereich zum Einsatz. Der Anteil von Migrant*innenInnen an der Belegschaft der französischen Müllabfuhr stieg bis 1970 auf 75 Prozent, sie stammten überwiegend aus Nordafrika, Senegal und Mali. Die Auswahl der drei Länder lässt sich auch damit begründen, dass sie die drei großen Gründungsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft darstellen, die zunächst als Informations- und Austauschforum, später auch als eigenständiger Akteur an regulativer und normsetzender Bedeutung gewann. Neben einer internationalen und methodisch auf Vergleich und Transfer ausgerichteten Perspektive wählt das Projekt aus seinem Gegenstand Care / Müllabfuhr heraus eine dezidierte Genderperspektive. Nicht zuletzt bietet es einen diachronen Zugriff auf aktuelle Diskussionen, welche bislang allein bei der geographischen Achse Osteuropa / Mitteleuropa und den damit verbundenen sehr spezifischen Problemen und Debatten verharren. In der Zusammenschau entsteht so ein aussagekräftiges Forschungsdesign, welches Integration und Desintegration aufgrund des Zusammenhangs von Arbeitsmigration und der Transformation der Daseinsvorsorge in Europa analysiert.

Erwerbsarbeit ist ein zentraler Ort gesellschaftlicher Integration. Ab 1960 veränderte die Globalisierung der Arbeitsmärkte sowie erst stark steigende und dann sinkende Wachstumszahlen in den Industrieländern die europäischen Arbeitsmärkte massiv. Dies evozierte soziale Polarisierungen und politische Konflikte. Zugleich führte die Stoßrichtung der mitteleuropäischen Sozialpolitik, Risiken wie Alter und Krankheit mittels staatlicher und privater Versicherungsmärkte zu minimieren, zu einer starken Nachfrage nach Pflege- und Haushaltshilfen, deren Beschäftigung über Arbeitsmärkte organisiert wurde. Indem das Forschungsprojekt europäisch-vergleichend politische und individuelle Strategien verifizieren kann, die für die gegenwärtige Integrationspolitik und Arbeitsmarktpolitik relevant sind, leistet das Projekt einen empirisch-analytischen Beitrag zu der Frage, welche Auswirkungen Arbeitsmarktpolitiken auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben.