19 eigenständige Kommunen schließen sich in der Hauptstadtregion zu Brüssel zusammen. Auf 32 km² leben über 1.000.000 Menschen, noch einmal fast genau so viele kommen täglich zum Arbeiten in die Stadt. Jegliche Beschilderung ist bilingual in Französisch und Flämisch; das Sprachspektrum auf der Straße ist jedoch um einiges größer. Das Stadtbild ist trotz der schlechten Lage Belgiens als Vormarschgebiet der deutschen Offensive im Zweiten Weltkrieg fast vollständig erhalten geblieben. So findet man neben den Prunkbauten der Monarchen eine weit verbreitete Jugendstilarchitektur der Gründerzeit. Von einigen Bausünden in den 1950er Jahren abgesehen kann die Stadt sich mit jeder europäischen Großstadt messen.
Soviel zur Theorie. Die Frage, die ich mir während meines Jahres dort gestellt habe, war: "Was macht diese Stadt eigentlich aus? Woher kommt das unbeschreibliche Flair, welches die Stadt ausstrahlt? Kurz gesagt: Was ist Brüssel?"
In Brüssel is jeder Teil eines großen Puzzles.
Neben dem Stadtbild, der ausgedehnten Barlandschaft und dem vielseitigen Kulturangebot sind es jedoch in erster Linie die Menschen, die all dieses ausfüllen. Und wenn man von Brüsslern spricht, dann sind dies nicht nur die eigentlichen Belgier. Zwar stellen sie mit gut 700.000 Menschen die größte Gruppe, doch seit Jahren zeichnet sich ein Trend ab, dass diese eher die Stadt verlassen und in die angrenzenden flämischen und wallonischen Kommunen ziehen. Zum einen wegen der explosionsartig ansteigenden Wohnungspreise in vielen EU-nahen Vierteln, zum anderen weil sich die Zustände in einigen Gebieten zunehmend verschlechtern. Ebenfalls interessant ist, dass sich die Viertel verstärkt homogenisieren.
So habe ich beispielsweise in Schaerbeek gewohnt, in dem Kopftücher, kleine Gemüsehändler und Kebab-Imbisse zum alltäglichen Straßenbild gehören. Allein mehr als 10% der Bevölkerung hier haben einen türkischen oder marokkanischen Pass, der Gr0ßteil hat jedoch bereits belgische Papiere. Manche Straßen und Plätze in dieser Kommune erinnern stark an mediterrane Basare. Während des gesamten Jahres hat diese Tatsache mich ebenso fasziniert, wie beängstigt. Oft kam es zu Situationen, in denen mich Leute mit hochgezogenen Augenbrauen angeschaut haben, wenn ich erzählt habe wo ich wohne. Dass der "Gare du Nord" und die Rote Meile unmittelbar in meiner Nachbarschaft waren verstärkte ihre Einstellung oft noch. Doch außer ein paar plumpen Anmachen meinen Mitbewohnerinnen gegenüber lies es sich in Schaerbeek recht angenehm und günstig leben.
Auch die gut 8.000 Deutschen in Brüssel wohnen wie die meisten EU-Europäer in meist stark homogenen Vierteln mit eigenen Buchhandlungen, Schulen und Kirchengemeinden. Diese künstlichen deutschen Kleinode zeigten für mich eine ausgeprägte Ignoranz und Arroganz gegenüber ihrer Gastgeberstadt. Ein wichtiger Faktor ist dabei natürlich auch die finanziell gesehen höhere soziale Einordnung gegenüber dem Brüssler Durchschnitt. Für mich war die Fahrt von meinem Viertel zur Deutschen Gemeinde beispielsweise ein Pendeln zwischen zwei Welten einer Stadt, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Und zwischen all dem tummeln sich rund um die "Grand Place" in der Innenstadt Touristen, die zwischen Spitzendecken, Pralinen und Bier das echte Brüssel vermuten.
Doch längst ist Brüssel über sich hinausgewachsen in eine Metropole, wie sie in dieser Form einmalig ist. Die belgische Einwanderungsgesellschaft, das Zentrum der Europäischen Union, Flamen, Wallonen und Brüssler finden sich in einem Puzzle zusammen. Zwar setzt sich dieses aus getrennten Einzelteilen zusammen, bildet im Ganzen jedoch ein pittoreskes Gesamtbild. Und die Wahl der Form des eigenen Brüssler Stücks bleibt jedem selbst überlassen; immer mit der Garantie eines passenden Anschlussteiles.
Sebastian Fietkau
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