KIK   Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung
<www.uni-konstanz.de/rtf/kik>


[Zurück zur Übersicht] | [vorherige Seite] | [nächste Seite] | [Zusammenfassung] | [Fussnoten] | [Schaubilder]

II. Messung und Messbarkeit von Kriminalität: Die Erkenntnismittel und Erkenntnismöglichkeiten für Kriminalität, insbesondere für Jugendkriminalität - die deutsche Situation

1. Die kriminalstatistischen Erkenntnismittel

"Die" Kriminalstatistik, mit der, gleichsam naturalistisch, "Kriminalität" gemessen werden könnte, gibt es nicht, weder im Inland noch im Ausland. Zum einen wird der Messgegenstand - Kriminalität - erst in Prozessen der Wahrnehmung und Bewertung konstituiert, zum anderen wird primär nicht "Kriminalität" gemessen, sondern Tätigkeiten der Strafverfolgungsbehörden. Zumeist gibt es, wie in Deutschland, eine Reihe von Statistiken, die auf der Ebene

Schaubild 1:Übersicht über die statistische Erfassung im Gang der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung in der Bundesrepublik Deutschland (vereinfachte Übersicht)
Verfahrensabschnitt
(Erhebungseinheit)
Datensammlung
(veröffentlichende Stelle auf Bundesebene)
Ermittlungsverfahren
Polizeiliche Ermittlungen
(Tatverdacht:
Fall, Tatverdächtige, Opfer)
Polizeiliche Kriminalstatistik
(Bundeskriminalamt)
(seit 1953)
Entscheidung der Staatsanwaltschaft über das Ergebnis der Ermittlungen
(Geschäftsanfall und Art der Erledigung, bezogen auf Verfahren)
Staatsanwaltschaftsstatistik
(Statistisches Bundesamt)
(seit 1981)
Hauptverfahren

Strafgerichtliche Tätigkeit
(Geschäftsanfall und Form der Erledigung,
bezogen auf Verfahren)

Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen
(Statistisches Bundesamt)
(seit 1959)
Strafgerichtliche Entscheidungen
(Aburteilungen, Verurteilung,
bezogen auf Personen)
Strafverfolgungsstatistik
(Statistisches Bundesamt)
(seit 1950)
Strafvollstreckung/Strafvollzug
Strafaussetzung zur Bewährung
(mit Unterstellung unter hauptamtlichen Bewährungshelfer)
(Erlass/Widerruf der Strafaussetzung,
bezogen auf Probanden)
Bewährungshilfestatistik
(Statistisches Bundesamt)
(seit 1963)
Vollzug einer Freiheitsstrafe
(Zahl und Art der Justizvollzugsanstalten, Belegung,
Belegungsfähigkeit, demographische Merkmale der Gefangenen)
Strafvollzugsstatistik
(Statistisches Bundesamt)
(seit 1961)

Ergänzend und zur Abrundung können noch einige weitere Statistiken aus anderen Bereichen herangezogen werden, etwa die Statistik über Schwangerschaftsabbrüche 27, die Todesursachenstatistik 28, die Statistik der Straßenverkehrsunfälle29, die Statistiken aus dem Datenbestand des Bundeszentralregisters 30, die Statistischen Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes aus dem Datenbestand des Verkehrszentralregisters 31, die Steuerstrafsachenstatistik der Steuerverwaltungen der Länder und der Bundesfinanzverwaltung, die Übersichten über Bußgeldverfahren wegen Verdachts eines Verstoßes gegen das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen usw.

Die Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken geben als Tätigkeitsnachweise in erster Linie Aufschluss über die in den einzelnen Abschnitten des Strafverfahrens stattfindenden Registrierungs-, Definitions- und Ausfilterungsprozesse. Erst in zweiter Linie sind sie, allerdings nur sehr grobe, Indikatoren der "Kriminalitätswirklichkeit". Die Gegenüberstellung der in ihnen ausgewiesenen Daten ermöglicht einen Querschnittsvergleich, der einige der wichtigsten "Knotenpunkte in einem prozessorientierten Entscheidungsablauf über kriminelle Taten und Täter" 32 sichtbar werden lässt. Im zeitlichen Längsschnittvergleich informieren sie vor allem über Konstanz und Wandel der Erledigungsstrategien in einem Prozess "differentieller Entkriminalisierung" 33.

Durch die Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken wird nur ein Ausschnitt der Kriminalität gemessen, nämlich die jeweils "erledigten" Verfahren, die "registrierte" Kriminalität (Fälle) bzw. die "registrierten" Personen (Tatverdächtige, Abgeurteilte, Verurteilte, Probanden, Gefangene). In keiner dieser Statistiken wird die "Kriminalitätswirklichkeit" in ihrer Gesamtheit gemessen, weil ein Teil der Straftaten von den Opfern gar nicht entdeckt und von den entdeckten Taten nicht alle als "kriminell" bewertet werden. Nur ein Teil der wahrgenommenen und als "kriminell" bewerteten Lebenssachverhalte wird angezeigt. Von den der Polizei teils durch eigene Ermittlungstätigkeit, teils, und zwar weitaus überwiegend, durch Anzeige bekannt gewordenen Fällen wird wiederum nur ein Teil aufgeklärt, angeklagt und ist Gegenstand einer Verurteilung. Nur ein kleiner Teil der Verurteilten wird einem Bewährungshelfer unterstellt bzw. hat seine Strafe in einer Strafvollzugsanstalt zu verbüßen.

2. Dunkelfeldforschungen als Ergänzung der kriminalstatistischen Erkenntnismittel

Das in diesen Statistiken erfasste sog. "Hellfeld" der den Strafverfolgungsbehörden bekannt gewordenen Straftaten und Straftäter ist nur ein kleiner und überdies nicht repräsentativer Ausschnitt der "Kriminalitätswirklichkeit"34 . Ein Großteil der Delikte wird amtlich nicht bekannt, verbleibt also im "Dunkelfeld"35 .

Wie groß dieser Ausschnitt ist und welche Struktur die "Kriminalitätswirklichkeit" aufweist, wissen wir nicht 36. Denn das Dunkelfeld selbst ist nach Umfang und Struktur auch durch die neueren Methoden der Dunkelfeldforschung, insbesondere durch Täter- oder Opferbefragungen 37, nur für Teilbereiche und auch für diese nur begrenzt aufhellbar. Die Grenzen für Dunkelfeldforschungen beruhen sowohl auf allgemeinen methodischen Problemen von Stichprobenuntersuchungen38 als auch auf speziellen Problemen dieses Befragungstyps. Hierzu zählen vor allem die beschränkte Erfragbarkeit bestimmter, namentlich schwerer, Delikte39, Probleme der Verständlichkeit der Deliktsfragen40 und der Erinnerungsfähigkeit der Befragten 41 wie schließlich des Wahrheitsgehalts der Aussagen42. Gemessen wird im Übrigen auch in Dunkelfeldforschungen nicht die "Kriminalitätswirklichkeit", sondern immer nur die Selbstbeurteilung und Selbstauskunft der Befragten in einer immer schon vorstrukturierten Befragungssituation, d.h. es wird erfasst, wie Befragte bestimmte Handlungen definieren, bewerten, kategorisieren, sich daran erinnern und bereit sind, darüber Auskunft zu geben. Dunkelfeldforschungen sind (auch) deshalb kein Ersatz für Kriminalstatistiken, sie sind aber eine notwendige Ergänzung der Kriminalstatistiken, um - jedenfalls für Teilbereiche - die stattfindenden Selektionsprozesse, insbesondere hinsichtlich der Anzeige, erkennen, quantitativ einordnen und in ihrer Bedeutung für das kriminalstatistische Bild bewerten zu können.

3. "Hell-" und "Dunkelfeld" der Kriminalität oder: Der Unterschied zwischen "registrierter Kriminalität" und "Kriminalitätswirklichkeit"

3.1 "Hell-" und "Dunkelfeld" der "Taten"

Dass in den Kriminalstatistiken nur ein Teil der "Kriminalitätswirklichkeit"43 erfasst wird, und selbst dieser systematisch verzerrt, nämlich zu den schwereren Deliktsformen hin verschoben ist, gilt auch für die Statistik, die der "Tat" zeitlich noch am nächsten liegt und deshalb noch am wenigsten von den Entscheidungen anderer Instanzen beeinflusst ist, für die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Fast alle Sachverhalte, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik - und damit in allen weiteren, auf dem polizeilichen Arbeitsergebnis aufbauenden Statistiken - als "registrierte" Fälle ausgewiesen werden, werden der Polizei durch Anzeigen bekannt. Insofern zeigt registrierte Kriminalität vor allem, in welchem Bereich informelle Sozialkontrolle als inadäquat und ineffektiv empfunden wird, wodurch sich Opfer, Informant oder Anzeigeerstatter beschwert fühlen und was sie (nicht unbedingt strafrechtlich) verfolgt wissen wollen. Deshalb beschränkt sich auch "Kriminalität" nach "Begriff, Erscheinung, Wissen und kriminalpolitischen Problemen ... weitgehend auf die amtlich bekannt gewordenen Rechtsbrüche" 44. Folglich spiegelt registrierte Kriminalität im Wesentlichen die unterschiedliche Intensität und Struktur der Sozialkontrolle wider.

So beruhen polizeiliche Kenntnisse über Eigentums- und Vermögenskriminalität zu über 90% auf Anzeigen Privater45, d.h. Umfang, Struktur und Entwicklung registrierter Kriminalität sind (fast) eine direkte Funktion des Anzeigeverhaltens. Durch das Anzeigeverhalten werden nicht nur Umfang und Struktur der "registrierten" Kriminalität, sondern auch der aufgeklärten Fälle und der ermittelten Tatverdächtigen bestimmt. Dies hat vor allem folgende Gründe:

Anzeigeverhalten in Abhängigkeit vom
erlittenen Delikt

Durch das Anzeigeverhalten werden aber nicht nur Umfang und Struktur, sondern auch die Entwicklung "registrierter" Kriminalität bestimmt. Die Crux einer jeden Aussage zur Kriminalitätsentwicklung ist deshalb, dass unklar ist, ob die statistischen Zahlen die Entwicklung der "Kriminalitätswirklichkeit" widerspiegeln oder ob sie lediglich das Ergebnis einer Verschiebung der Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld sind. "Hellfeld-" und "Dunkelfeldkriminalität" können sich, wie US-amerikanische Forschungen50 zeigen, auf unterschiedlichem Niveau nicht nur gleichsinnig, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg auch gegenläufig entwickeln (vgl. Schaubild 3)51 .

Gewaltkriminalität im Dunkelfeld und
polizeilich registrierte Gewaltkriminalität

Ein Rückschluss von der Entwicklung der "registrierten" Kriminalität auf die "Kriminalitätswirklichkeit" ist deshalb nur unter der Annahme möglich, sämtliche Einflussgrößen für "registrierte" Kriminalität seien im Vergleichszeitraum im Wesentlichen konstant geblieben, ausgenommen die "Kriminalität". Diese Annahme ist indes - jedenfalls in dieser Allgemeinheit und bezogen auf längere Zeiträume - empirisch nicht begründet. Denn der Faktor, dem quantitativ die größte Bedeutung zukommt, die Anzeigebereitschaft, unterliegt in hohem Maße sozialem Wandel, ist sie doch Spiegelbild von sich verändernder sozialer Toleranz. So treten z.B. heute Formen der Gewalt in unser Bewusstsein, die es früher sicher auch gab, die aber erst heute von uns wahrgenommen und öffentlich gemacht werden. Dies ist ganz deutlich bei der innerfamiliären Gewalt gegen Frauen und Kinder 52. "Es kann daher", wie das Bundeskriminalamt in den Vorbemerkungen zur Polizeilichen Kriminalstatistik formuliert, "nicht von einer feststehenden Relation zwischen begangenen und statistisch erfassten Straftaten ausgegangen werden." 53

Dass sich das Anzeigeverhalten (deliktsspezifisch unterschiedlich) geändert hat - teils dürfte es rückläufig, überwiegend indes angestiegen sein -, dafür gibt es eine Fülle von Hinweisen; unklar ist dagegen das jeweilige Ausmaß. Umfassende empirische Untersuchungen zu Ausmaß und Richtung des Wandels fehlen, weil in der Bundesrepublik Deutschland bislang, im Unterschied etwa zu den USA, zu England oder zu den Niederlanden, keine statistikbegleitenden Dunkelfeldforschungen durchgeführt worden sind. Die einzige deutsche Studie, in der mit vergleichbarer Methode zu drei verschiedenen, jeweils mindestens 10 Jahre auseinander liegenden Messzeitpunkten (Bochum 1975, 1986, 1998) Daten auch zum Anzeigeverhalten erhoben worden sind, ergab hinsichtlich Diebstahl eine leichte Abnahme und hinsichtlich Körperverletzung eine deutliche Zunahme der Anzeigebereitschaft. 1975 war die Zahl der im Dunkelfeld verbliebenen Körperverletzungen 7 mal so hoch wie im Hellfeld, 1998 dagegen nur noch 3 mal so hoch. Die Zahl der polizeilich registrierten Körperverletzungsdelikte stieg in Bochum von 865 (1975) auf 1.976 (1998), also um 128%54. Werden auch die nicht angezeigten Delikte berücksichtigt, dann stieg die Gesamtzahl aller (also sowohl der angezeigten als auch der nicht angezeigten) Fälle indes von 7.079 auf 8.748 Fälle, also lediglich um 24%. Mehr als zwei Drittel der Zunahme im Hellfeld beruhten, werden diese Ergebnisse zugrunde gelegt, auf einer bloßen Veränderung der Anzeigebereitschaft55.

Ob dies über Bochum hinaus gilt, ob dies bundesweit so gilt und ob dies auch für andere Deliktsgruppen gilt, lässt sich mangels repräsentativer landesweiter Längsschnittuntersuchungen zum Anzeigeverhalten nicht sagen. Die Ergebnisse sowohl der statistikbegleitenden Dunkelfeldforschungen in den USA und in England als auch die Bochumer Untersuchung belegen indes, wie wenig verlässlich Aussagen über die Kriminalitätsentwicklung sind, die allein auf Daten der "registrierten" Kriminalität gestützt werden. Sie verdeutlichen deshalb die Notwendigkeit von Studien zum Dunkelfeld und zum Anzeigeverhalten.

Veränderungen der "registrierten" Kriminalität können des Weiteren aber auch darauf beruhen, dass sich die Verfolgungsintensität, die Verdachtsstrategien bzw. die Erledigungspraxis der Träger informeller wie formeller Sozialkontrolle56, Gesetzgebung oder Rechtsprechung, die Erfassungsgrundsätze für die Statistiken oder das Registrierverhalten der statistikführenden Stellen geändert haben. Abgesehen von einzelnen Befunden, wie etwa dem Lüchow-Dannenberg-Syndrom57 , ist über den quantitativen Einfluss dieser Faktoren relativ wenig bekannt58.

Aussagen zur Entwicklung der "Kriminalitätswirklichkeit" sind deshalb derzeit für die Situation in Deutschland lediglich auf einer empirisch unzureichend gesicherten Plausibilitätsebene möglich, nicht aber auf einer Ebene empirisch gesicherten Wissens. Es kann deshalb nur vermutet werden, dass jedenfalls ein Teil des Anstiegs registrierter Kriminalität auf Veränderungen der Kriminalitätswirklichkeit - und nicht bloß des Anzeigeverhaltens - beruht.

3.2 "Hell-" und "Dunkelfeld" der "Täter"

Zu diesem Dunkelfeld der den Behörden nicht bekannt gewordenen Taten kommt noch das Dunkelfeld der nicht ermittelten Täter hinzu 59. Damit aus einem in der PKS registrierten "Fall" ein "Tatverdächtiger" wird, bedarf es der Aufklärung, wobei der Anteil der Eigenaufklärung durch die Polizei relativ gering ist60 . Im Durchschnitt wird nur jeder zweite Fall auch aufgeklärt. Eine Verzerrungsmöglichkeit besteht darin, dass die Aufklärungswahrscheinlichkeit deliktsspezifisch unterschiedlich groß ist61 und des Weiteren von der Handlungskompetenz und Verteidigungsmacht des Verdächtigen beeinflusst wird. Die Aussage- und Geständnisbereitschaft junger Menschen ist deutlich höher; sie sind im Ermittlungsverfahren seltener durch einen Verteidiger vertreten. Dies wiederum führt dazu, dass sich ihre Überrepräsentation im weiteren (Ermittlungs-)Verfahren sogar noch verstärkt 62. Wenig beachtet wird, dass - selbst bei unveränderten Fallzahlen - die Zahl der Tatverdächtigen allein aufgrund unterschiedlicher Aufklärungsergebnisse steigen oder fallen kann63.

3.3 Vorläufige Folgerungen für die "registrierte" Jugendkriminalität

Ob sich die beiden genannten Faktoren - Entdeckungs- und Aufklärungswahrscheinlichkeit - in einer Gesamtbilanz zugunsten oder zulasten junger Menschen auswirken, lässt sich derzeit noch nicht abschließend beurteilen.

Wegen dieses "doppelten Dunkelfeldes", des Dunkelfeldes der nicht angezeigten Taten und des Dunkelfeldes der zwar angezeigten Taten aber nicht ermittelten Tatverdächtigen, wird nur ein Bruchteil der "jugendlichen Täter" von der Polizei und damit in der PKS registriert. Nach Dunkelfelduntersuchungen im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte werden weniger als 10% der "Täter" auch polizeilich registriert65.

4. Die Widerspiegelung von Ausfilterungs- und (Um-)Definitionsprozessen in den Kriminalstatistiken

4.1 Das Strafverfahren als Prozess differentieller Entkriminalisierung durch "Ausfilterung"

Kriminalstatistiken bilden an einzelnen Messpunkten das Ergebnis der im Strafverfahren erfolgenden Selektion ab. Die vergleichende Gegenüberstellung der absoluten Zahlen der wegen Verbrechen oder Vergehen - jeweils ohne Straftaten im Straßenverkehr - polizeilich registrierten Fälle, der ermittelten Tatverdächtigen, der deshalb Abgeurteilten und Verurteilten (Schaubild 4) 66 zeigt diese Ausfilterung. Nur jeder zweite Fall kann durch Ermittlung eines Tatverdächtigen aufgeklärt werden; nur ein knappes Drittel der von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen wird auch verurteilt, hiervon wiederum werden 11% zu einer stationären Sanktion verurteilt67 (vgl. Übersicht 1).

Polizeilich registrierte Fälle, Tatverdächtige,
Abgeurteilte und Verurteilte - Abs. Zahlen

Übersicht 1: Größenordnungen des Ausfilterungsprozesses, Straftaten ohne Straßenverkehr,
1999, alte Bundesländer, mit Gesamtberlin
Bekannt gewordene Fälle: 5.069.260 100,0%1)    
Aufgeklärte Fälle: 2.676.005 52,8 %    
Ermittelte Tatverdächtige: 1.793.763      
darunter Kinder: 115.472      
Strafmündige Tatverdächtige:2) 1.678.291   100,0%  
Angeklagte (=Abgeurteilte) 697.259   41,5%  
Verurteilte: 545.444   32,5% 100,0%
Zu stationären Sanktionen Verurteilte3) 59.109   3,5% 10,8%
darunter:
Zu Freiheits- oder Jugendstrafe
(ohne Bewährung) Verurteilte
43.095   2,6% 7,9%
Zu Jugendarrest Verurteilte 15.915   0,9% 2,9%

1)
Die Bezugnahme von Personen auf bekannt gewordene Fälle ist nicht möglich. Denn auf eine Person kommt im Schnitt mehr als ein Fall (nach der PKS kommen auf 1 Tatverdächtigen im Schnitt ungefähr 1,5 aufgeklärte Fälle).
2)
Exakte Anteile können nicht berechnet werden, weil die Verurteilten (einschließlich der zu stationären Sanktionen Verurteilten) eines Jahres keine Untermenge der Tatverdächtigen desselben Jahres sind.
  • Wegen unterschiedlicher Erfassungszeiträume und Erfassungsgrundsätze stammt nur ein Teil der Verurteilten aus den Tatverdächtigen desselben Berichtsjahres.
  • Die Abgrenzung der Ausweise über Tatverdächtige und Verurteilte (ohne Straftaten im Straßenverkehr) ist nicht völlig identisch.
  • Die als Bezugsgröße dienende Zahl der Tatverdächtigen ist zu niedrig. Wie aus der StA-Statistik hervorgeht, werden nur rd. 80% der Ermittlungsverfahren gegen bekannte Täter von der Polizei eingeleitet. In der PKS sind insbesondere nicht berücksichtigt:
    • die von der Staatsanwaltschaft unmittelbar und abschließend bearbeiteten Vorgänge,
    • die von den Finanzämtern (Steuervergehen) und
  • von den Zollbehörden (außer den Rauschgiftdelikten) durchermittelten und an die Staatsanwaltschaft abgegebenen Vorgänge.
3)
Zu Freiheits- oder Jugendstrafe (ohne Bewährung), zu Jugendarrest oder zu Heimerziehung (§ 12 Nr. 2 JGG) Verurteilte.

Datenquellen: Bundeskriminalamt (Hrsg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 1999, Tab. 01, 20 (jeweils alte Länder);
Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Strafverfolgungsstatistik 1999.

Dass nur ein Drittel der polizeilich ermittelten Tatverdächtigen auch verurteilt wird, beruht vor allem auf folgenden Gründen:

Erledigung staatsanwaltschaftlicher
Ermittlungsverfahren, 1981-1998

Diversionsraten (StA und Gerichte) im
Jugendstrafrecht, 1981-1998

Dies ist nicht folgenlos für den Ausweis der "registrierten" Kriminalität junger Menschen. Denn eingestellt werden vornehmlich Delikte minderer Schwere, so dass für eine Verurteilung relativ mehr schwere Delikte anstehen. Die Struktur der in der StVStat ausgewiesenen Delikte verschiebt sich deshalb (noch weiter) zu den schwereren Delikten hin.

4.2 Das Strafverfahren als Prozess differentieller Entkriminalisierung durch "Umdefinition"

Das Strafverfahren ist indes nicht nur ein Prozess der mehrstufigen "Ausfilterung", sondern auch ein Prozess der "Umdefinition". Insbesondere im Bereich der Schwerkriminalität findet besonders häufig eine solche "Umdefinition" statt, und zwar regelmäßig zu minder schweren Straftatbeständen hin. Art und Ausmaß dieser Umdefinition lassen die gegenwärtigen Kriminalstatistiken nicht erkennen. Denn jede Statistik gibt lediglich die Beurteilung der jeweiligen statistikführenden Stelle wider, also der Polizei oder des Gerichts 73.

Bekannt ist, dass die Erfassung in der Polizeilichen Kriminalstatistik eine Überbewertungstendenz aufweist, und zwar sowohl hinsichtlich der Zahl der "Taten" und der "Tatverdächtigen" als auch hinsichtlich der Beurteilung der Schwere des Sachverhalts. Diese Überbewertung wird, wenn sie im weiteren Fortgang des Verfahrens korrigiert wird, im statistischen Ausweis der PKS nicht zurückgenommen, und zwar weder im Fall der "Ausfilterung" noch im Fall der "Umdefinition". Über die Größenordnungen, in denen derartige Ausfilterungen/Umdefinitionen vorkommen, geben Aktenanalysen Auskunft, die insbesondere im Bereich der Gewaltkriminalität und der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung durchgeführt worden sind. Danach wurde weniger als die Hälfte der ermittelten Tatverdächtigen auch entsprechend der polizeilichen Ausgangsdefinition verurteilt; bei der Mehrzahl kam es zu Umdefinitionen in minder schwere Delikte74 . In diesem hohen Maße findet eine Bewertungsänderung freilich nur in Fällen schwerer Kriminalität statt. Bei mittlerer Kriminalität sind Bewertungsänderungen weitaus seltener; bei leichter Kriminalität bleibt die polizeiliche Definition praktisch unverändert.

4.3 Folgerungen für die kriminalstatistische Analyse

Wenn das Strafverfahren ein Selektions- und ein Definitionsprozess ist, in dem es nicht "die" Wirklichkeit gibt, dann kann dies nur heißen, dass die "Wirklichkeit" einer Statistik nicht Vorrang vor der "Wirklichkeit" einer anderen Statistik haben kann und darf. Diese unterschiedlichen "Wirklichkeiten" müssen vielmehr durch vergleichende Gegenüberstellung miteinander konfrontiert und gegenseitig kontrolliert werden. Hierbei gilt es auch, die "Entkriminalisierungsleistung" von Staatsanwaltschaft und Gericht (trotz bejahten Tatverdachts) in Fällen der Einstellung gem. §§ 153 ff. StPO, 45, 47 JGG zu berücksichtigen. Die verfügbaren Kriminalstatistiken lassen freilich diesen Vergleich nur begrenzt zu. Unterschiedliche Erfassungsgrundsätze, verschiedene Erfassungszeiträume und mangelnde Differenziertheit der Daten sind hierfür die Hauptgründe75 .

[Zurück zur Übersicht] | [vorherige Seite] | [nächste Seite] | [Zusammenfassung] | [Fussnoten] | [Schaubilder]


Zuletzt bearbeitet: 10.12.01 ms