KIK   Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung
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V. Möglichkeiten und Grenzen der Prognostizierbarkeit einer kriminellen Karriere

Das US-amerikanische Konzept von "selective incapacitation" beruht auf der Annahme, eine kriminelle Karriere prognostizieren zu können. Nach dem derzeitigen Stand der Forschung ist dies jedoch weder hinsichtlich Ansatz noch Fortsetzung, geschweige denn Abbruch, mit hinreichend großer Treffsicherheit möglich 203. "Wenn wir die Delinquenz als solche in den Mittelpunkt stellen und uns auf Einzelmerkmale aus Persönlichkeit und Biographie konzentrieren, genügt die prognostische Valenz der in welche Rechnung auch immer eingesetzten Kriterien nicht, um darauf Handlungskonzepte im Sinne einer individualpräventiven Intervention verläßlich aufzubauen."204 Bei retrospektiver Betrachtung, im Nachhinein also, findet sich, insbesondere unter den mehrfach Auffälligen, zwar die bekannte Häufung von Problemen, namentlich Frühauffälligkeit, Herkunft aus sozioökonomisch belasteter Familie, gestörte Erziehungsverhältnisse, Schulstörungen, Lehrabbruch usw. Nur, prospektiv, also im Voraus, lässt sich diese Gruppe der mehrfach Auffälligen nicht erkennen, denn diese Belastungsmerkmale finden sich in beachtlichem Maße auch bei nicht oder nur gering Auffälligen.

Verdeutlicht werden kann dies an Übersicht 23. Um sie zu bilden, hat Kerner auf der Grundlage der Daten der bekanntesten US-amerikanischen Kohortenstudie, der Philadelphia Kohortenstudie 205, einen Belastungsindex, bestehend aus zehn Belastungsmerkmalen, vor allem aus den Bereichen Familie, aus dem Schulverhalten und aus Persönlichkeitsmerkmalen, gebildet. Zeile 1 und 4 der Übersicht zeigen das erwartete Bild. Nicht oder kaum belastete Jugendliche haben keine oder nur eine geringe Zahl von Polizeikontakten; die stark belasteten Jugendlichen weisen dagegen wesentlich mehr Polizeikontakte auf. Unter dem Gesichtspunkt der Prognose dagegen zeigt sich, dass dieser Belastungsindex ungeeignet ist, insbesondere dann, wenn es darum geht, diejenigen herauszufinden, die in eine "kriminelle Karriere" (hier z.B.: 5 Kontakte und mehr) zu geraten drohen. Rd. 42% der stark belasteten Jugendlichen hatten keinen Polizeikontakt, d.h. es hätte sich, wäre ihnen ein entsprechender Kontakt prognostiziert worden, um sog. "falsche Positive" gehandelt; mit Bezug auf Mehrfachtäter hätte sich sogar die Rate der Fehlprognose auf 80% erhöht. Denn von den stark Belasteten hatten nur 20%, wie Übersicht 6 zeigt, 5 und mehr Polizeikontakte.

Übersicht 23: Zusammenhang zwischen Problembelastung junger Menschen (8- bis unter 18jährige) und der Anzahl ihrer polizeilichen Registrierung (Polizeikontakte).
Philadelphia Kohorte I (N=9.945).
  Personen in % mit... Polizeikontakten
Belastungsindex 0 1 2-4 5-10 11-39
Nicht oder kaum belastet 80,8 13,3 5,4 0,6 -
Gering belastet 73,4 16,8 8,5 1,2 0,1
Mittel belastet 61,1 19,4 15,0 4,0 0,5
Stark belastet 41,8 16,1 21,9 14,4 5,7

Quelle: Kerner, Hans-Jürgen: Jugendkriminalität zwischen Massenerscheinung und krimineller Karriere - Eine Problemskizze anhand neuerer statistischer Ergebnisse, in: Nickolai, W.; Reindl, R. (Hrsg.): Sozialarbeit und Kriminalpolitik, Freiburg i.Br. 1993, S. 44. .

Nach dem gegenwärtigen Stand der Prognoseforschung beträgt der Anteil dieser "falschen Positiven" zwischen 50% und 60%, teilweise ist er noch höher206. Für kriminalpolitische Programme der präventiven Behandlung oder der Verwahrung ist dieser Anteil der "falschen Positiven" unvertretbar hoch.

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