Von der Handschrift zur Edition

Eine Einführung


Editionen mittelalterlicher Texte sind über die Maßen hilfreich. Sie setzen in ein modernes Schriftbild um, was im Original in einer Schrift verfasst worden ist, die uns heute fremd anmutet. Und sie erläutern, mit einem kritischen Apparat (Kommentarteil) versehen, Begriffe und Sachverhalte, die für das Textverständnis zentral sind.

Der Weg von der Handschrift zur Edition – das geben die Editionen selten zu erkennen – ist oftmals sehr steinig. Dieser Weg sollte im Mittelpunkt der Einführungsveranstaltung stehen, die wir im Sommersemester 2010 an der Universität Konstanz abgehalten haben. Auf Grundlage eben dieser Veranstaltung entstand das E-Book, in dem wir versucht haben, die Arbeitsschritte, die von der Hand­schrift zur Edition führen, so umfassend wie nur möglich zu dokumentieren. Hier also war der Weg das Ziel der Veranstaltung und ihrer Internetpräsentation, mit deren Hilfe wir hoffen, den Studieren­den die Angst vor dem handgeschriebenen ‚Original‘ zu nehmen und Lehrende aufmuntern möchten, so es der Lehrplan erlaubt, sich auf ähnliche Abenteuer einzulassen.

Als Ar­beits­grundlage haben wir die bis zum Zeitpunkt der Veranstaltung noch unveröffentlichte Gnadenvita der Christine Ebner (gest. 1356) ausgewählt, einer Ordensschwester aus dem Dominika­ne­rin­nen­konvent Engelthal in der Nähe von Nürnberg. Am Beispiel der Gnadenvita, deren mittelalterliche Überlieferung allein eine Abschrift aus dem 15. Jahrhundert ausmacht, sollten sich die Studierenden mit den Eigen­heiten der spätmittelalterlichen ‚Bastarda‘, einer nördlich der Alpen weit ver­­breiteten Ge­brauchs­schrift, vertraut machen und aus­gewählte Textauszüge transkribieren, d. h. in ein modernes Schrift­bild umwandeln.

Weit schwieriger als die Transkription hat sich für alle Beteiligten allerdings die Aufgabe erwiesen, das Transkribierte zu verstehen und anderen verständlich zu machen. Zwischen Trans­kription und Über­setzung mussten mehrere Arbeitsschritte eingeschoben werden: Eine kontextuelle Einbettung, die sowohl den Entstehungsort und dessen literarische Produktivität als auch eine gattungstypologische Einordnung in den Blick nahm, diente zur Vorentlastung und folglich zu besserem Verständnis des zu bearbeitenden Textes. Der zweite Arbeitsschritt galt der Sprache, die den Studierenden mal mehr, mal weniger vertraut war. Das Problem waren weniger die Begriffe, die uns heute fremd geworden sind, als vielmehr die vielen Begriffe, von denen wir, weil sie gleichlauten, auf Anhieb glauben zu wissen, was sie zu be­deuten haben. Dieser Glaube ist in vielen Fällen trügerisch, wie folgendes Beispiel zeigt: "unser frowe" meint im religiösen Kontext immer die Jungfrau Maria, keine mit einem Possessivpronomen versehene "Frau". Nachdem der Inhalt weitgehend – auch unter Zuhilfenahme mehrerer Wörterbücher (u.a. Lexer, Grimm’sches Wörterbuch) – geklärt worden war, galt es, mit Hilfe der alten Interpunktionsregeln den Text, der im Original weitgehend auf den Einsatz von Punkt und Komma verzichtet, in nachvollziehbare Sinneinheiten zu gliedern, ihn in der Folge nach verbindlichen Editionsrichtlinien zu transkribieren, um schlussendlich eine Übersetzung der entsprechenden Seiten vornehmen zu können.

Sämtliche Arbeitsschritte wollten wir im Layout sichtbar machen: So ist der eigentlichen Textarbeit eine „Einleitung“ vorangestellt, die helfen soll, in die Thematik sowie gattungsspezifischen Charakteristika der „Gnadenvita“ einzuführen. Es folgen die ersten 31 Quellenseiten samt ihrer Transkription im zweispaltigen Format: Die Arbeit am handgeschriebenen spätmittelalterlichen Original findet sich dabei auf der linken Buchseite dokumentiert, die Arbeit an der Transkription auf der rechten. D. h. auf der linken Buchseite finden sich interaktiv zu erkundende paläo­graphische, d.h. schrift­kundliche Erläuterungen (rosa unterlegt) sowie Markierungen typischer Abkürzungszeichen (farbige Kringel), auf der rechten Seite die für das Verständnis des Textes notwendigen Wort­erklärungen (blau unterlegt) sowie technische Hinweise zur Transkription (rot unterlegt). All diese Hilfsmittel sind nach Belieben individuell ein- und auszublenden, um mehr oder weniger fortgeschrittenen Lesern entgegenzukommen. Im Anschluss an die zweispaltige Quellenarbeit findet sich die Transkription, die innerhalb des Quellenteils schrittweise erläutert wurde, für einen besseren Lesefluss als Fließtext, der von dem Versuch einer Übersetzung gefolgt wird. Der Anhang schließlich beinhaltet ein Glossar der bereits im Quellenteil markierten Vokabeln sowie die für diese Edition gültigen Richtlinien, die allerdings auch im Quellenteil jederzeit eingeblendet werden können.


Grundlagenliteratur:


  • Robert-Henri Bautier (Hg.), Lexikon des Mittelalters, 10 Bde., Stuttgart/ Weimar 1980-1998.
  • Matthias von Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde., Leipzig 1872-1878.
  • Karin Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Tübingen ²2009.
  • Annette Sell (Hg.), Editionen. Wandel und Wirkung (Editio Beihefte 25), Tübingen 2007.
  • Martin J. Schubert (Hg.), Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion (Editio Beihefte 23), Tübingen 2005.