Einleitung


Die in der Medinger Handschrift unter der Signatur Md 1 überlieferte „Gnadenvita“ der Christine Ebner ist ein sperriger Text: (noch) nicht ediert und gattungstheoretisch nur schwer zu bestimmen. Nicht allein ihr Umfang von 746 Seiten und die teils fehlerhafte Abschrift (15. Jahrhundert) des nicht mehr erhaltenen Originals dürften das Scheitern mehrerer kritischer Editionsvorhaben bedingt haben. Als Ursache für den bis zum Zeitpunkt der Übung noch nicht in Edition vorliegenden Text muss vermutlich in erster Linie seine komplexe inhaltliche Gestaltung genannt werden, die eine verständige Lektüre als unerlässliche Voraussetzung einer kritischen Edition erschwert. Darüber hinaus stellt die „Gnadenvita“ nicht die einzige überlieferte Lebensbeschreibung der Konventualin im Kloster Engelthal bei Nürnberg dar. Es existieren vielmehr derer drei. Diese teilen gewisse Inhalte, weichen allerdings in ihrer Gestaltung zum Teil stark voneinander ab. Nicht zuletzt ihr jeweiliger Umfang stellt ein wesentliches Distinktionsmerkmal dar; die Medinger Lebensbeschreibung der Christine Ebner ist mit Abstand der längste der drei Texte. In der Forschung werden die drei Versionen der Lebensbeschreibung unter drei verschiedenen Titeln gelistet – eine Tatsache, die bereits andeutet, dass sich mit der unterschiedlichen Aufbereitung auch eine voneinander differente Intention der Texte verbinden muss. Eine Stuttgarter Handschrift aus dem 18. Jahrhundert fügt alle drei Varianten zusammen und führt die Distinktionsmerkmale somit deutlich vor Augen. Die Lebensbeschreibung existiert in — wie die Forschung sie nennt — Form von „Offenbarungen“, einer „Gnadenvita“ und eines „Lebens“. Im Folgenden soll der längste dieser drei Texte, die „Gnadenvita“, näher vorgestellt werden.


Der Text

Zur Form

Ihren besonderen Zuschnitt gewinnt die „Gnadenvita“ durch ihr am stärksten ausgeprägtes formales Charakteristikum: die Episodenhaftigkeit. Lediglich die Suggestion, jegliche Einzelpassage als Bestandteil eines einzigen Lebens, dasjenige der Christine Ebner, zu lesen, integriert die oftmals inhaltlich stark voneinander abweichenden Episoden zu einem einzigen Text. Insbesondere der Beginn, die Beschreibung von Christines Geburt, sowie der von anderer Hand vorgenommene Nachtrag, der ihren Tod vermeldet, übernehmen rahmende Funktion und markieren den Anfangs- sowie Endpunkt eines Menschenlebens, dessen Entwicklung sich im wahrsten Sinne des Wortes „dazwischen“ befindet. Von einer Entwicklung im Sinne einer Zustandsveränderung zu sprechen, ist allerdings problematisch: Nur hin und wieder werden einige Abschnitte durch konkrete Jahresangaben fixiert und auf diese Weise eine Einordnung im Leben ermöglicht sowie eine voran- und auf den Tod zuschreitende Zeitlichkeit kreiert, die dem Konzept einer Biographie entspricht. Doch gehen die Episoden selten auseinander hervor oder referieren aufeinander, so dass die graphisch bedingte, lineare Lesart mitnichten als die einzig plausible erscheint. Zwar haben sowohl Ursula Peters als auch Susanne Bürkle auf inhaltlicher Ebene Themenfelder ausfindig gemacht (PETERS, 1986; BÜRKLE, 2000), die einige Episoden näher beieinander stehen lassen als andere, dennoch bleibt der Eindruck einer bruchstückhaften Anordnung von Einzelepisoden bestehen. Deskriptive Passagen, die Zustände und Erlebnisse thematisieren, welche meist mit wörtlicher Rede einhergehen, kondensieren gegen Ende des Textes gar zu einer einzigen Aneinanderreihung von Dialogen, die jeglicher Kohärenz entbehrt.

Diese literarische Form charakterisierte Siegfried Ringler bei einem weiteren, dem Kaplan Friedrich Sunder zugeschriebenen Text aus dem Kloster Engelthal als „Gnadenvita“ und beschrieb die spezifische Darstellungsart wie folgt: „Ohne erkennbaren Handlungsfaden, ohne Spannung und fast ohne jeden Höhepunkt, bei vorherrschender Passivität der einzigen Hauptperson vollzieht sich eine endlos scheinende Aneinanderreihung einzelner Begebenheiten, immer dem gleichen Schema folgend und immer in einem gleichbleibend monotonen Berichtsstil, oft bis hin zu wörtlichem Gleichklang einzelner Stellen oder sogar ganzer Passagen. […] Der Leser wird zuletzt kaum etwas anderes im Gedächtnis behalten als eben das Grundthema „Gnadenerlebnisse an bestimmten Tagen“. (RINGLER, 1980, S. 334 / 335) Dieser als heuristisch zu wertende und am Sunder-Werk entwickelte Begriff, der ein spezifisches Textverständnis aufruft, wie Ursula Peters festhält (PETERS, 1986, S. 418), kann auf den Text der Medinger Handschrift übertragen werden, da beide Texte entscheidende formale und inhaltliche Kriterien verbinden: „In der Gesamtheit der Formelelemente zeigt also das „Gnaden-Leben“ die Struktur eines Berichts, der personal zentrierte Szenen, die zugleich Sinnbilder sind, als exempla in lockerer Fügung aneinanderreiht. Diese Struktur hat ihre genaue Entsprechung in der Sturktur der mittelalterlichen Heiligenlegende. Dabei kommen im „Gnaden-Leben“ ebenso wie in der Heiligenlegende die gleichen Tendenzen 'Offenbarung des Göttlichen, Bezeugung der Heiligkeit einer Person, Erbauung der Gemeinschaft der Gläubigen' zum Ausdruck.“ (RINGLER, 1980, S. 337)

Zum Inhalt

Der Versuch einer formalen Bestimmung lässt augenfällig werden, dass sich die „Gnadenvita“ nicht durch einen stringent verfolgten, inhaltlich roten Faden auszeichnet. Ihr Grundgerüst ist das Leben der Schwester Christine Ebner, welches sie nachzuzeichnen bestrebt ist. Doch stehen mit Ausnahme der Geburt und des Todes weniger äußerlich sichtbare Ereignisse im Zentrum des Interesses als vielmehr innerlich erfahrene göttliche Gnaden. Davon allerdings bietet der Text eine nahezu unüberschaubare Vielfalt. Wohingegen die ersten zwei Drittel des Werks immer wieder auch mit Informationen über die „äußere Lebensführung“ wie Beschreibungen von Krankheit, Kasteiungen des Körpers, Buß- und sonstigen Frömmigkeitspraktiken durchsetzt sind und diese zusätzlich zu den immer wiederkehrenden Gnadenerlebnissen – Visionen, Erscheinungen Verstorbener, Bewältigung von teuflischen Anfechtungen – erwähnen, besteht das letzte Drittel aus einer gleichsam ununterbrochenen Christusrede, welche die minne-Beziehung zwischen der Schwester und Gott, das Kernthema des Werks, zum Ausdruck bringt. Zugespitzt lässt sich sagen, dass alle Passagen intentional darauf ausgerichtet sind, die Ordensschwester als von Gott auserwähltes Subjekt zu stilisieren, der gegenüber er seine Liebe immer wieder aufs Neue in unterschiedlichen Gnadengaben erweist und sie durch diese ihres Heils vergewissert.

Zum literarischen Kontext

Die „Gnadenvita“ zählt zu jenen mystischen Texten in deutscher Sprache, die hauptsächlich während des Spätmittelalters entstanden sind. Die Bedeutung von „Mystik“ wurde in der älteren und neueren Forschung vielfach definiert. Doch scheint im Zusammenhang mit dem Ebner‘schen Text die von Bonaventura und Thomas von Aquin geprägte, simpel klingende, aber vieles beinhaltende Charakterisierung der „Mystik“ als „cognitio Dei experimentalis“, d.h. als (körperlich) erfahrbare Gotteserkenntnis besonders geeignet, um wenigstens eine, in der „Gnadenvita“ deutlich aufscheinende Facette des Konzepts „Mystik“ zu verstehen. Ohne zu stark zu theoretisieren, vermag diese Charakterisierung deutlich zu machen, welcher Weg der Annäherung an Gott, deren Ziel die Einung mit diesem, die „unio mystica“ ist, innerhalb des Textes vorbildhaft zur Darstellung gelangt: Nicht die Vernunft ist es, die den Menschen Gott erkennen lässt. Der Schlüssel zur Gotteserkenntnis liegt vielmehr in der spürbaren Erfahrbarkeit der Transzendenz, wie sich in den äußerst körperlich basierten Gnadenerlebnissen zeigt, welche die hier besprochenen Texte in den Fokus rücken. Die „Gnadenvita“ der Christine Ebner ist einer von vielen Texten, welche die am Körper eines gläubigen und gehorsamen Menschen – in den meisten Fällen einer Frau – erfahrbare Gotteserkenntnis exemplifizieren. Den besten Modus zur anschaulichen Gestaltung bietet gerade religiös interessierten, ja sogar ambitionierten Frauen offenbar die Form der (Auto-) Biographie. Die mystischen Lebensbeschreibungen vereinen Charakteristika mehrerer religiöser Gattungen, sind primär aber als Teil der Vitenliteratur einzuordnen – hagiographischen Lebensbeschreibungen nicht unähnlich in ihrer glorifizierenden Darstellung der Lebensführung ihrer Protagonistin und somit Vorbild gebend für sämtliche Rezipienten. Dass diese literarische Präsentationsform religiöser Inhalte im Spätmittelalter äußerst populär gewesen sein muss, belegt eine Vielzahl der „Gnadenvita“ der Christine Ebner ähnlicher Texte, die ebenfalls das kontemplative, völlig auf Gott ausgerichtete und durch Gnadenerlebnisse geprägte Leben einer religiösen Frau in den Fokus ihrer Darstellung rücken. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Literatur der Schwestern aus Helfta (Mechthild von Magdeburg [† 1282/97], „Vliessendes lieht der gotheit“; Mechthild von Hackeborn [† 1299], „Liber specialis gratiae“; Gertrud von Helfta [† 1301/2], „Legatus divinae pietatis“) verwiesen, in deren Tradition der Ebner’sche Text gelesen werden muss, des Weiteren auf die Werke Margareta Ebners († 1351, „Offenbarungen“), Birgittas von Schweden († 1373, „Revelationes“), Dorotheas von Montau († 1394, „Liber de festis“) sowie auf die wiederum aus der Form der einzelpersönlichen Vita hervorgegangenen Kurzvitensammlungen aus süddeutschen Dominikanerinnenklöstern, die so genannten Schwesternbücher.


Die „Autorin“

Bereits die Charakterisierung Christine Ebners als „Autorin“ birgt Schwierigkeiten. Ganz abgesehen von der Problematik, das Konzept der „Autorschaft“ im Mittelalter angewandt wissen zu wollen, ließe sich die handelnde Figur innerhalb des Textes ebenso schwer als „Verfasserin“ desselben titulieren, auch wenn, wie die hier vorgestellten Seiten zeigen, dieses „Ich“ den Schreibakt für sich in Anspruch nimmt. Ein Blick in eben diese Seiten allerdings verhilft, deutlich zu machen, dass der vom Text präsentierte Inhalt nicht vorbehaltslos an dieses Subjekt rückzubinden ist. Schon in den ersten etwa 30 Seiten der Handschrift findet einer – wie sich im Fortgang des Textes bestätigen wird und von Peters und Bürkle eingehend untersucht und kommentiert wurde – von zahlreichen Perspektivwechseln statt: Ein scheinbar auktorialer Erzähler, welcher aus der Beobachterposition heraus über die Geburt Christines berichtet, tritt zugunsten einer Ich-Erzählerin zurück oder, genauer, wird von dieser abgelöst. Der Text verfügt folglich über unterschiedliche Erzähler, bei denen nicht zuletzt aufgrund der nicht mehr zu rekonstruierenden Textgenese ihr jeweiliger Anteil als Ideengeber an der Gestaltung des Werks nicht eindeutig zu bestimmen ist. Christine Ebner ist demnach vom Text behandeltes Subjekt, d.h. handelnde Figur, ja für manche Passagen auch als Schreiberin ihrer eigenen Erfahrungen zu denken, mitunter aber vielleicht auch „nur“ inspirierender Ideengeber. Ihre Rolle für den Text und im Text scheint mehrschichtig und ist nicht eindeutig anzugeben.


Über Christine Ebner als historische Person lässt sich nicht viel mehr sagen, als den hier thematisierten Quellen zu entnehmen ist. Dass diese Informationen mit Vorsicht zu behandeln sind, erklärt sich allein durch die Tatsache, dass sie einem literarischen Interesse unterliegen. Christine stammt aus dem Nürnberger Geschlecht der Ebner, steht somit in keiner familiären Bindung zu Margaretha Ebner, die im Kloster Maria Medingen ähnlich literarisch ambitioniert wie ihre Namensvetterin „Offenbarungen“ verfasste. 1277 geboren, trat Christine mit etwa 12 Jahren in das Dominikanerinnenkloster Engelthal bei Nürnberg ein, legte als 15-Jährige ihre Profess ab und lebte dort als Klosterfrau bis zu ihrem Tod 1356. Neben der „Gnadenvita“ und den ihr verwandten Texten wird Christine Ebner des Weiteren das „Büchlein von der Gnaden Überlast“, auch bekannt als das Engelthaler Nonnenbuch, zugeschrieben.

Daniela Fuhrmann


Ausgewählte weiterführende Literatur

Frauenmystik

  • Peter Dinzelbacher, Mittelalterliche Frauenmystik, Paderborn u.a. 1993.
  • Peter Dinzelbacher und Dieter Bauer (Hg.), Frauenmystik im Mittelalter. Wissenschaftliche Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg - Stuttgart, 22. – 25. Februar 1984 in Weingarten, Ostfildern bei Stuttgart 1985.
  • Ursula Peters, Vita religiosa und spirituelles Erleben. Frauenmystik und frauenmystische Literatur im 13. Und 14. Jahrhundert, in: Deutsche Literatur von Frauen, Bd. I: Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Gisela Brinker-Gabler, München 1988, S. 8 -109.
  • Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. II: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993.
  • Uta Störmer-Caysa, Einführung in die mittelalterliche Mystik, Stuttgart 2004.
  • Siegfried Ringler, Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien, Zürich/München 1980.

Kloster Engelthal / Christine Ebner: Leben und Werk

  • Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen/Basel 1999.
  • Susanne Bürkle, Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners. Episodenstruktur – Text – Ich und Autorenschaft, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte, hrsg. v. Werner Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 483-513.
  • Ursula Peters, Das >Leben< der Christine Ebner: Textanalyse und kulturhistorischer Kommentar, in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hrsg. v. Kurt Ruh, Stuttgart 1986, S. 402-422.
  • Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988.
  • Siegfried Ringler, Die Rezeption mittelalterlicher Frauenmystik als wissenschaftliches Problem, dargestellt am Werk der Christine Ebner, in: Frauenmystik im Mittelalter, hrsg. v. Dieter Bauer und Peter Dinzelbacher, Stuttgart 1985, S. 178-200.
  • Siegfried Ringler, Christine Ebner, in: Verfasserlexikon 2 (²1980), Sp. 297-302.
  • Philipp Strauch, Christina und Margareta Ebner, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 5 (³1898), S. 128f.
  • Johanna Thali, Beten - Schreiben - Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal, Tübingen/Basel 2003.
  • Gustav Voit, Engelthal. Geschichte eines Dominikanerinnenklosters im Nürnberger Raum, Nürnberg 1977.