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Konstanzer
Inventar Sanktionsforschung: Heinz, Wolfgang: Das strafrechtliche Sanktionensystem
und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 1997
(Stand: Berichtsjahr
1997)
Internet-Publikation:
<www.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks97.htm> Version 6/1999 |
Heinz, Wolfgang: Das
strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland
1882 - 1997 (Stand: Berichtsjahr 1997) Internet-Publikation: <www.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks97.htm>
Version 6/1999
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II. Beschreibung und Analyse der Sanktionierungspraxis anhand der
amtlichen Rechtspflegestatistiken
1. Die amtlichen Rechtspflegestatistiken
als Datenquellen
Grundlage für die folgende Darstellung der Sanktionierungspraxis
von Staatsanwaltschaft und Gericht sind die amtlichen Rechtspflegestatistiken.
Für die Zeit vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland kommt
als Datenquelle lediglich die 'Kriminalstatistik für das Deutsche
Reich' in Betracht, deren Ergebnisse für die Berichtsjahre 1882 bis
1939 veröffentlicht worden sind.
Für die Bundesrepublik Deutschland stehen in Form koordinierter
Länderstatistiken zur Verfügung:
-
Die Staatsanwaltschaftsstatistik (StA-Statistik):
In ihr wird die Geschäftserledigung der Staats- und Amtsanwaltschaften
beim LG und OLG gegen bekannte Täter nachgewiesen. Bei der StA-Statistik
handelt es sich um eine Verfahrensstatistik, die, von eng begrenzten Ausnahmen
("Straftaten im Strassenverkehr" und "besondere Wirtschaftsstrafsachen")
abgesehen, weder Angaben zum Delikt noch zu den Beschuldigten enthält.
Die StA-Statistik wird seit 1976
in einigen Bundesländern (Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz
und im Saarland, seit 1977 auch in Bremen und Hamburg, seit 1979 in Baden-Württemberg,
seit 1980 in Niedersachsen) geführt. Erstmals mit dem Berichtsjahr
1981 wurden ihre Ergebnisse vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht,
jedoch ohne die Ergebnisse von Berlin-West, Hessen und Schleswig-Holstein,
wo diese Statistik erst später (1985, 1988 bzw. 1989) eingeführt
wurde. Erst seit 1989 liegen deshalb die Ergebnisse für sämtliche
alten Bundesländer vor, seit 1993 einschliesslich Berlin-Ost und seit
1995 einschliesslich sämtlicher neuer Bundesländer.
-
Die Justizgeschäftsstatistik der Strafgerichte (StP/OWi-Statistik):
In ihr werden der Geschäftsanfall und die Erledigung von Strafsachen
bei den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten sowie dem Bundesgerichtshof
nachgewiesen. Die Justizgeschäftsstatistik wird mit dem jetzigen Inhalt
seit 1970 bzw. - nach inhaltlicher Erweiterung - seit 1989 für die
alten Bundesländer, seit 1991 einschliesslich Berlin-Ost, seit 1995
auch einschliesslich der neuen Bundesländer veröffentlicht.
Wie die StA-Statistik, so ist auch
sie nicht nach Delikten gegliedert. Im Unterschied zur StA-Statistik
wird jedoch die Art der Erledigung sowohl für Verfahren als auch für
Personen ausgewiesen.
-
Die Strafverfolgungsstatistik (StVStat):
In ihr werden alle Angeklagten nachgewiesen, gegen die rechtskräftig
Strafbefehle erlassen wurden bzw. Strafverfahren nach Eröffnung des
Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluss rechtskräftig
abgeschlossen worden sind. Nicht erfasst werden Ordnungswidrigkeiten sowie
Entscheidungen vor Eröffnung des Hauptverfahrens. Deshalb enthält
diese Statistik z.B. keine Informationen über Verfahrenseinstellungen
gem. §§ 153, 153a, 153b StPO
durch die StA. Ausnahmsweise werden jedoch
Entscheidungen gemäss § 59 StGB,
§§ 27, 45 Abs. 3 JGG erfasst.
Die StVStat wird seit 1950 für
die alten Bundesländer, seit 1995 einschliesslich Berlin-Ost, veröffentlicht.
Sie wurde in den neuen Bundesländern bislang in Brandenburg (1994),
in Sachsen (1992) und in Thüringen (1997) eingeführt. Da sie
in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt noch nicht geführt wird,
veröffentlicht das Statistische Bundesamt derzeit, von einigen Eckwerten
(seit 1997) abgesehen, die StVStat lediglich
für die alten Bundesländer einschliesslich Gesamtberlin.
-
Die Bewährungshilfestatistik (BewH-Statistik):
In ihr werden - neben den hauptamtlichen Bewährungshelfern - vor allem
die diesen zur Betreuung unterstellten Probanden der Bewährungshilfe
nachgewiesen. Die BewH-Statistik wird seit
1963 bundeseinheitlich geführt.
-
Die Strafvollzugsstatistik (StVollz-Statistik):
In ihr wird zum einen zum Stichtag - jeweils zum 31.3. eines Berichtsjahres
- die Struktur der Strafgefangenen sowie der Sicherungsverwahrten nachgewiesen,
zum anderen der sog. Bestand an Gefangenen und Verwahrten sowie die sog.
Gefangenenbewegung. Die StVollz-Statistik
wird seit 1961 geführt, seit 1992 ist auch Berlin-Ost einbezogen.
Bei Abschluss des Manuskripts lagen die Ergebnisse der StA-Statistik,
der Justizgeschäftsstatistik, der StVStat
und der StVollz-Statistik bis einschliesslich
1997 vor. Die Ergebnisse der BewH-Statistik
wurden letztmals für 1991 veröffentlicht.
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2. Aussagemöglichkeiten und Aussagegrenzen
der amtlichen Rechtspflegestatistiken
Aufgrund dieser Datenquellen ein Gesamtbild der Sanktionierungspraxis
von Staatsanwaltschaft und Gericht zu zeichnen, ist freilich nur eingeschränkt
möglich:
-
Die Daten dieser Statistiken werden von verschiedenen Instanzen zu verschiedenen
Zeitpunkten erhoben, nämlich mit der jeweiligen Verfahrenserledigung.
Die Erhebungseinheiten (Verfahren in der StA-Statistik
und der Justizgeschäftsstatistik, Personen in den anderen Statistiken)
und die Zählweisen sind unterschiedlich. Mehrfachzählungen von
Verfahren gegen dieselbe Person sind statistisch nicht erkennbar und können
bei der Auswertung nicht berücksichtigt werden, was zu einer systematischen
Verzerrung führt, weil eine Zusammenführung nicht zu Beginn,
sondern erst im Verlauf der Strafverfolgung erfolgt. Die Daten der Statistiken
sind deshalb nur begrenzt miteinander vergleichbar. Durch entsprechende
Umrechnungen - von Verfahren auf Personen - können die Auswirkungen
dieser unterschiedlichen inhaltlichen Abgrenzungen lediglich zu einem Teil
verringert werden.
-
Die Daten sind in zeitlicher wie regionaler Hinsicht nur begrenzt verfügbar.
-
Die Daten der StA-Statistik liegen erst
seit 1989 für alle (alten) Bundesländer vor, entsprechende Untersuchungen
für die Zeit zwischen 1981 und 1989 sind entweder regional beschränkt
oder mit den Unsicherheiten von "Hochrechnungen" behaftet.
-
Die StVStat wird noch nicht in allen
neuen Bundesländern geführt.
-
Berlin-Ost wurde in die Rechtspflegestatistiken zu unterschiedlichen Zeitpunkten
einbezogen, weshalb sich in der Zeit zwischen 1991 und 1995 die Ergebnisse
der einzelnen Statistiken auf nicht völlig identische Gebiete beziehen.
-
Die Aussagemöglichen werden durch die Art und die Differenzierung
der erhobenen Daten bestimmt und begrenzt:
-
Da in der StA-Statistik so gut wie keine
Angaben zum Verfahrensgegenstand erhoben werden, sind Aussagen zur Verfahrenserledigung
in Abhängigkeit von Straftatbeständen oder Tätermerkmalen
unmöglich.
-
In der StVStat wurde die Dauer der freiheitsentziehenden
Strafen vor 1970 nur für Zuchthaus
und Gefängnis erhoben, nicht
aber für die anderen freiheitsentziehenden
Sanktionen. Die Kategorien für den Ausweis der Dauer der verhängten
Zuchthaus-, Gefängnis- oder Freiheitsstrafe wurden mehrfach geändert,
so dass über einen längeren Zeitraum die Entwicklung der freiheisentziehenden
Strafen nach ihrer Dauer nur sehr begrenzt beobachtbar ist. Seit 1950 wurden
die Kategorien insgesamt siebenmal sowohl erweitert als auch geändert.
Für die Zeit ab 1950 blieb nur die Kategorie "lebenslange" und "zeitige"
Freiheitsstrafe unverändert und damit auch der statistischen Analyse
zugänglich, seit 1954 sind bezüglich der zeitigen Freiheitsstrafe
nur die Kategorien "bis einschliesslich 9 Monate", "bis einschliesslich
5 Jahre" sowie "mehr als 5 Jahre bis einschliesslich 15 Jahre" unverändert
geblieben. Die derzeitige Einteilung besteht erst seit 1970.
Die Höhe der Geldstrafe wurde erstmals 1967 erhoben, seit 1975
wird die Zahl der Tagessätze in 5 geschlossenen Kategorien mit jeweils
5 gleichbleibenden Untergliederungen für die Höhe des Tagessatzes
erhoben sowie in einer weiteren offenen Kategorie "361 und mehr Tagessätze",
die aber nicht mehr nach der Tagessatzhöhe untergliedert ist.
Die Höhe bzw. Dauer der verhängten Sanktionen wird zwar relativ
differenziert bei freiheitsentziehenden Strafen erfasst; die Vollständigkeit
und Differenziertheit der Erfassung nimmt aber deutlich ab, je eingriffsschwächer
die Sanktion ist. Die sonstigen strafrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten
wurden und werden nur unvollständig erhoben. Dies gilt insbesondere
für die "dritte Spur im Strafrecht", für die Bewährungsauflagen
und/oder -weisungen, die nur hinsichtlich des "Ob", nicht aber hinsichtlich
des "Wie" erhoben werden.
Bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht wird zwar die Art der Erziehungsmassregeln
(Weisung, Erziehungsbeistandschaft, Heimerziehung) ausgewiesen. Es wird
aber weder erfasst, ob mehrere Weisungen nebeneinander angeordnet werden,
noch wird die Art der Weisung (z.B. sozialer Trainingskurs, Betreuungsweisung,
Arbeitsweisung usw.) erfasst. Die Zuchtmittel werden der Art (Verwarnung,
Auflagen, Jugendarrest) nach erfasst; innerhalb der Arten wird differenziert
zwischen den drei Formen des Jugendarrestes (Freizeit-, Kurz- und Dauerarrest),
ferner werden von den Auflagen jeweils getrennt ausgewiesen die Auflage,
den Schaden wiedergutzumachen, einen Geldbetrag zu zahlen oder sich bei
dem Verletzten zu entschuldigen. Nicht ausgewiesen wird aber die Dauer
des Arrestes und die Höhe des zu zahlenden Geldbetrages; lediglich
zum Bundeszentralregister ist die Dauer der Freiheitsentziehung bei Jugendarrest
mitzuteilen.
-
Schliesslich sind die Einflüsse der Art der Datenaufbereitung zu berücksichtigen.
So wird in der StVStat jeder Verurteilte
nur einmal ausgewiesen, und zwar bei dem nach Art und Mass mit der abstrakt
schwersten Strafe bedrohten Delikt und hier wiederum mit der schwersten
Strafe. Die schweren Delikte sind deshalb, was insbesondere bei Einzeldeliktanalysen
bedeutsam ist, überrepräsentiert, die Strafen folglich in Richtung
auf schwerere Strafen hin verzerrt. Den Strafrahmen beeinflussende Entscheidungen,
wie z.B. Versuch/Vollendung, Täterschaft/Teilnahme, Gesamtstrafenbildung,
werden nicht im Tabellenprogramm über die Art und Höhe der Strafen
ausgewiesen. Insbesondere durch Gesamtstrafenbildung bzw. durch die Einbeziehung
noch nicht vollständig verbüsster Sanktionen (§ 31 Abs.
2 JGG) wird das Bild der Sanktionierungspraxis
in Richtung auf schwerere Strafen hin verschoben. Schliesslich gibt die
Orientierung an Straftatbeständen nicht wieder, ob insbesondere wegen
unbenannter Strafänderungsgründe Sonderstrafrahmen angewendet
wurden.
Immerhin erlauben es die verfügbaren Statistiken, die langfristigen
Entwicklungen der Strafzumessungspraxis der Gerichte seit 1882 nachzuzeichnen;
seit 1981 ist es auch möglich, nicht nur die formellen,
sondern auch die sog. "informellen Sanktionen"
von Staatsanwaltschaft und Gericht in ihren Grössenordnungen im Längsschnitt
und im Querschnitt zu beschreiben und zu analysieren.
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Letztes Update am 28.07.1999
Bearbeitet von: Martina Schulz