KIS   Konstanzer Inventar Sanktionsforschung: Heinz, Wolfgang: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 1997  (Stand: Berichtsjahr 1997)  
Internet-Publikation: <www.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks97.htm> Version 6/1999 

Heinz, Wolfgang: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 1997 (Stand: Berichtsjahr 1997) Internet-Publikation: <www.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks97.htm> Version 6/1999 

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III. Entwicklung der Sanktionierungspraxis in Deutschland (1882-1997)

1. Formelle und informelle Sanktionen im allgemeinen Strafrecht und im Jugendstrafrecht - ein allgemeiner Überblick

1.1 Zurückdrängung stationärer zugunsten ambulanter Sanktionen

Kennzeichnend für die Strafzumessungspraxis der letzten 116 Jahre in Deutschland (alte Bundesländer, weil die Daten der StVStat für die neuen Länder noch fehlen) ist - bezogen auf Verurteilte wegen Verbrechen und Vergehen - die nachhaltige Zurückdrängung der unbedingt verhängten freiheitsentziehenden Sanktionen (stationäre Sanktionen) zugunsten ambulanter Sanktionen, namentlich der Geldstrafe (Schaubild 3).


Schaubild 3:
Schaubild 3 (he179s3)

1882, zu Beginn des statistisch überblickbaren Zeitraumes, betrug der Anteil der unbedingt verhängten freiheitsentziehenden Sanktionen 76,8%. Lediglich bei 22,2% der Verurteilten war auf Geldstrafe erkannt worden. Der Anteil der auf Todesstrafe lautenden Urteile betrug 0,03%; in der Folgezeit schwankte dieser Anteil zwischen 0,01% und 0,05% (1939). Die sonstigen Sanktionen spiegeln die Sanktionierungspraxis gegenüber jungen Menschen (bis 1923) bzw. im Jugendstrafrecht wider. "Das mächtige Überwiegen der Freiheitsstrafe stand", wie Exner (Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, Leipzig 1931, S. 18) zutreffend bemerkte, "nicht nur auf dem Papier, es war lebendes Recht. Sicher ist aber auch, daß sich von da ab das Verhältnis allmählich und in erstaunlicher Gleichförmigkeit verschoben hat ..."

1950, dem ersten Jahr mit statistischen Ergebnissen für die Bundesrepublik Deutschland, betrug der Anteil unbedingt verhängter freiheitsentziehender Sanktionen noch 39,1%; 1997 entfielen hierauf lediglich noch 7,8% aller Verurteilungen. Von sämtlichen nach allgemeinem und nach Jugendstrafrecht Verurteilten wurden 1997 72,5% zu einer Geldstrafe verurteilt. Weitere 12,6% wurden zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt, 7,1% nach Jugendstrafrecht zu ambulanten Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln. Das volle Ausmaß der Zurückdrängung stationärer zugunsten ambulanter Sanktionen zeigt sich indes erst, wenn auch die Einstellungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG berücksichtigt werden, die ja 1882 alle zur Verurteilung führten. Denn dann dürften gegenwärtig (Stand: 1997) lediglich noch 3,8% aller sanktionierbaren Personen zu einer unmittelbar mit Freiheitsentziehung verbundenen Sanktion verurteilt worden sein.

Dem ultima ratio-Prinzip zur Vermeidung einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe ist damit die Praxis in beachtlichem Maße näher gekommen, beachtlich auch deshalb, weil in sämtlichen Straftatbeständen des Besonderen Teils des StGB weiterhin Freiheitsstrafe - zumindest neben Geldstrafe - angedroht ist. Die Praxis folgt also "der Erkenntnis, daß unter generalpräventiven Gesichtspunkten weitgehend auf vollstreckte Freiheitsstrafen verzichtet werden kann und daß diese unter Resozialisierungsaspekten ungünster sind als alle anderen Sanktionsalternativen" (Schöch, Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C zum 59. Deutschen Juristentag, München 1992, C 21 f.).

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1.2 Bedeutungsgewinn informeller Sanktionen im Allgemeinen Strafrecht und im Jugendstrafrecht

Die Entwicklung des Hauptstrafensystems des StGB ist aber nicht nur gekennzeichnet durch die Zurückdrängung stationärer zugunsten ambulanter Sanktionen, sondern auch durch den zunehmenden Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten aufgrund von Opportunitätsvorschriften, also der deutschen Variante von Diversion in Form verfahrensrechtlicher Entkriminalisierung.

Wegen der Notwendigkeit, sowohl die verfahrensbezogenen Daten der StA-Statistik und - bis 1988 - auch der Justizstatistik auf Personen "umzurechnen" als auch die bis 1989 für einzelne Bundesländer fehlenden Angaben der StA-Statistik auf die (alten) Bundesländer "hochzurechnen" wie schließlich wegen der zeitlich versetzten Einbeziehung von Berlin-Ost, handelt es sich freilich bei den Zahlen über "informell Sanktionierte" um begründete Schätzwerte.

Unter dieser Einschränkung läß sich sagen, daß die Praxis von StA und Gericht die Möglichkeiten, das Verfahren gegen hinreichend tatverdächtige Beschuldigte unter den Voraussetzungen der §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG einzustellen, voll angenommen hat, freilich zu Lasten materiell-rechtlicher Instrumente, wie Absehen von Strafe (§ 60 StGB) oder Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB), die praktisch bedeutungslos geblieben sind. Den Anstieg der Zahl der sanktionierbaren Personen hat die Praxis durch den vermehrten Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten aufgefangen; auf diese Weise konnte die absolute Zahl der Verurteilten in etwa konstant gehalten werden (Schaubild 4). Weniger als die Hälfte aller sanktionierbaren Personen werden derzeit auch verurteilt; der Anteil der nach allgemeinem oder nach Jugendstrafrecht Verurteilten an den sanktionierbaren Personen ging von 63,7% (1981) auf 49,0% (1997) zurück (Schaubild 5).

Schaubild 4:
Schaubild 4 (he179s4)

Schaubild 5:
Schaubild 5 (he179s5)

Träger dieser Diversionsentscheidungen ist vor allem die Staatsanwaltschaft. Anfang der 80er Jahre wurden knapp zwei Drittel aller Diversionsentscheidungen durch die StA ausgesprochen; dieser Anteil ist inzwischen auf rd. 83% gestiegen. Die quantitative Bedeutung zeigt die Gegenüberstellung der absoluten Zahlen für 1997: Rd. 682.000 Personen, deren Verfahren durch die StA gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, § 45 JGG eingestellt worden war, standen rd. 923.000 Personen gegenüber, die entweder formell sanktioniert (N=787.040) oder deren Verfahren durch das Gericht gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, § 47 JGG (N=136.000) eingestellt worden war. In relativen Zahlen heißt dies, daß 42% aller formell oder informell Sanktionierten durch die StA sanktioniert worden waren.

Gegen diese Verschiebung von Sanktionskompetenz auf die StA werden in der Strafrechtswissenschaft rechtliche und kriminalpolitische Bedenken erhoben. So sehen manche das Gewaltenteilungsprinzip und den Grundsatz der Unschuldsvermutung als verletzt an. Kritik wird ferner an der Unbestimmtheit der Einstellungsvoraussetzungen laut: Aufgabe des Gesetzgebers, nicht aber der Exekutive, sei es, diese Voraussetzungen zu präzisieren. Durch die Opportunitätsvorschriften werde ein "exekutivisches Recht" geschaffen, ein durch Weisungen beeinflußtes Sonderstrafrecht, das flexibel den Bedürfnissen der Strafrechtspflege, kriminalpolitischen Strömungen und politischen Programmen angepaßt werden könne. Befürchtet wird ferner, mittels §§ 153 ff. StPO werde auch in Fällen sanktioniert, in denen früher mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden sei ("Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle"). Zu den Bedenken gehört schließlich, durch § 153a StPO würden intellektuell und finanziell höherstehende Beschuldigte bevorzugt ("Freikaufverfahren", "Reichenprivileg"), der "deal" sei nicht mehr aufzuhalten. Die in empirischer Hinsicht vorgetragenen Bedenken, insbesondere das einer Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle, konnten durch die bisherigen Forschungen für den Rechtszustand und für die Sanktionierungspraxis der Bundesrepublik Deutschland nicht bestätigt werden.

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2. Entwicklung und Stand der Sanktionierungspraxis im allgemeinen Strafrecht

2.1 Informelle Sanktionen

§§ 153, 153a, 153b StPO sind im allgemeinen Strafverfahrensrecht die Mittel der verfahrensrechtlichen Entkriminalisierung, die sich dadurch auszeichnet, daß nicht die Strafbarkeit, sondern lediglich der Verfolgungszwang eingeschränkt ist. Die Verfahrenseinstellung dient nicht nur den justizökonomischen Zielen der Verfahrensbeschleunigung und der Justizentlastung, sondern sie ist in den Dienst der präventiven Aufgaben des Strafrechts gestellt worden. Dem liegt die Einsicht zugrunde, daß zur "persönlichen Abschreckung des Täters ... häufig bereits der Umstand genügt, daß gegen ihn wegen einer Straftat ermittelt wurde" (Schäfer, Gerhard: Praxis der Strafzumessung, 2. Aufl., München 1995, S. 2 f. Rdnr. 5). Während von der Warte der Justiz aus bei der Einstellung gem. § 153 StPO von "Sanktionsverzicht" gesprochen werden kann, weil auf die Auferlegung eines weiteren Übels verzichtet wird, stellt sich aus der Sicht des Beschuldigten (in sozialwissenschaftlicher Betrachtung) die Problematik von "Sanktion durch Verfahren", weshalb hier - aus sozialwissenschaftlicher Perspektive - Personen, deren Verfahren gem. §§ 153, 153a, 153b StPO eingestellt worden sind, als "informell Sanktionierte" bezeichnet werden.

Informelle Sanktionen sind nicht nur im Jugendstrafrecht, sondern auch im allgemeinem Strafrecht quantitativ bedeutsam. Durch den vermehrten Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153, 153a, 153b StPO ist es der Praxis gelungen, trotz des Anstiegs der Zahl der sanktionierbaren Personen die Zahl der Verurteilten in etwa konstant zu halten (Schaubild 6). Relativ gesehen heißt dies, daß der Anteil der formell Sanktionierten an allen (informell und formell) Sanktionierten deutlich rückläufig ist. 1981 dürften noch 66% formell sanktioniert worden sein, 1997 lediglich noch 52% (Schaubild 7).

Schaubild 6:
Schaubild 6 (he179s6)

Schaubild 7:
Schaubild 7 (he179s7)

Die Zunahme der Opportunitätsentscheidungen beruht weitestgehend auf den Einstellungen ohne Auflage gem. §§ 153, 153b StPO (Schaubild 6). Innerhalb der Opportunitätsentscheidungen ging der Anteil der unter Auflagen eingestellten Verfahren von 57% (1981) auf 40% (1997) zurück. Die Einstellung unter Auflagen/Weisungen ist faktisch eine pekuniäre Denkzettelsanktion, denn auf die Geldbußenauflage entfallen rd. 98% aller Auflagen/Weisungen.

Träger der Opportunitätsentscheidung ist vor allem und in wachsendem Maße die Staatsanwaltschaft. Von allen Einstellungsentscheidungen wurden 1997 lediglich 15% durch das Gericht getroffen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Cannabis-Entscheidung von 1994 die Entscheidung des Gesetzgebers, den Verfolgungszwang prozessual einzuschränken, verfassungsrechtlich nicht beanstandet, vorausgesetzt, das "Prinzip der Gesetzlichkeit der Strafbarkeit" und der "Grundsatz der Bestimmtheit der Strafvorschrift" würden gewahrt (BVerfGE 90, 145 [191]). Deshalb wurden die Länder für verpflichtet erklärt, "für eine im wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften zu sorgen" (BVerfGE 90, 145 [190]). Wie der Zeitreihenvergleich zeigt, werden die zwischen den Ländern bestehenden Unterschiede im Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten jedoch nicht geringer, sondern sogar deutlich größer (Schaubild 8). Die Spannweite der Diversionsraten betrug 1981 11%, 1997 hingegen bereits 23%. Die Bandbreite der Diversionsrate reichte 1997 von 38% (Bayern) bis 61% (Schleswig-Holstein), d.h. von 100 nach allgemeinem Strafrecht sanktionierbaren Personen wurde in Bayern bei 38 das Verfahren eingestellt, 62 wurden verurteilt, in Schleswig-Holstein erfolgte hingegen bei 61 Personen eine Einstellung, lediglich 39 wurden verurteilt.


Schaubild 8:
Schaubild 8 (he179s8)

Zwischen den Ländern bestehen Unterschiede nicht nur hinsichtlich des "Ob", sondern auch hinsichtlich des "Wie" der Einstellung (Schaubild 9). In Bayern wird relativ selten eingestellt (1997: 38,1%), und wenn eingestellt wird, dann überwiegend unter Auflagen/Weisungen (1997: 24,1% mit, 14,0% ohne Auflagen). Den Gegensatz bildet Schleswig-Holstein, wo relativ am häufigsten (1997: 60,6%) und wenn, dann zumeist ohne Auflagen/Weisungen (1997: 18,5% mit, 42,1% ohne Auflagen) eingestellt wird. Die Wahrscheinlichkeit, daß das Strafverfahren folgenlos eingestellt wird, war deshalb 1997 in Schleswig-Holstein dreimal so groß wie in Bayern.


Schaubild 9:
Schaubild 9 (he179s9)

Ob deshalb die Einstellungspraxis der StA als "im wesentlichen uneinheitlich" anzusehen ist, kann aufgrund der für die StA-Statistik erhobenen Daten nur ungefähr und nicht hinreichend differenziert festgestellt werden. Die Unterschiede können durch eine unterschiedliche Tat- oder Täterstruktur beeinflußt sein; hierüber enthält die StA-Statistik keine Angaben.

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2.2 Formelle Sanktionen

2.2.1 Bedeutungsgewinn der Geldstrafe

Ihren Bedeutungsgewinn verdankt die Geldstrafe vor allem den Geldstrafengesetzen von 1924 sowie dem 1. StRG von 1969, durch das die kurze Freiheitsstrafe zugunsten der Geldstrafe weiter zurückgedrängt wurde (§ 47 StGB).

Geldstrafe ist inzwischen die Hauptstrafe der Gegenwart. Seit der Strafrechtsreform von 1969 werden jährlich mehr als 80% der Verurteilten lediglich noch zu Geldstrafe verurteilt; von den 1997 nach allgemeinem Strafrecht 692.723 Verurteilten waren es 565.714 (81,7%) (Schaubild 10). Beachtlich ist, daß die Geldstrafe seit 1970 diesen hohen Anteil von über 80% halten konnte, und zwar trotz der in den letzten Jahrzehnten erfolgten deutlichen Zunahme der Diversionsentscheidungen. Vor allem bei den Straßenverkehrsdelikten, bei leichteren und mittelschweren Delikten der klassischen Kriminalität, bei Umweltstraftaten und bei Verstößen gegen das Ausländergesetz wird Geldstrafe verhängt.


Schaubild 10:
Schaubild 10 (he179s10)

Die volle quantitative Bedeutung pekuniärer Sanktionen im gegenwärtigen Sanktionensystem wird freilich erst dann deutlich, wenn berücksichtigt wird, daß 1997 zu den über 565.000 Verurteilungen zu Geldstrafen noch hinzukommen die rd. 250.000 Einstellungen von Strafverfahren durch Staatsanwaltschaft und Gericht gegen Zahlung eines Geldbetrages (§ 153a StPO), ferner die 17.154 im Jugendstrafrecht als Zuchtmittel verhängten Geldauflagen sowie die bei Strafaussetzung nach allgemeinem Strafrecht verhängten 46.000 Bewährungsauflagen, die regelmäßig ebenfalls die Zahlung eines Geldbetrages beinhalten. Noch deutlicher würde die dominierende Rolle pekuniärer Sanktionen werden, würden auch die in Ordnungswidrigkeitenverfahren verhängten Geldbußen berücksichtigt. Die Gesamtzahl der Geldbußen wird als rd. fünfmal so hoch geschätzt wie die Zahl der Geldstrafen (vgl. Jescheck, Die Geldstrafe als Mittel moderner Kriminalpolitik in rechtsvergleichender Sicht, in: Festschrift für Würtenberger, Berlin 1977, S. 259).

Trotz dieser Dominanz der Geldstrafe werden die mit ihr gegebenen Möglichkeiten zur Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe (§ 47 StGB) nicht vollständig ausgeschöpft. Zwar hat die Praxis ihre anfängliche äußerste Zurückhaltung gegenüber 30 Tage übersteigenden Tagessätzen etwas aufgegeben (Schaubild 11), aber immer noch verzichtet sie weitestgehend darauf, die Geldstrafe im oberen Bereich der kurzen (!) Freiheitsstrafe einzusetzen, also zwischen 3 und 6 Monaten. Obwohl als Regelstrafrahmen bei Geldstrafe 5 bis 360 Tagessätze (§ 40 Abs. 1 StGB) zur Verfügung stehen, überstieg die Mehrzahl aller Geldstrafen (1976: 78,2%, 1997: 52,0%) noch nicht einmal 30 Tagessätze, war also überhaupt keine Konkurrenz zur Freiheitsstrafe (Mindeststrafe: 1 Monat - § 38 Abs. 2 StGB). 1997 lagen lediglich 42,3% der Geldstrafen im Bereich zwischen 31 und 90 Tagessätzen. 94,3% aller Geldstrafen blieben 1997 folglich im unteren Viertel des Strafrahmens; auf mehr als 180 Tagessätze entfielen lediglich 0,5% aller Geldstrafen. Geldstrafen von mehr als 90 Tagessätzen konzentrieren sich auf schwere Formen von Eigentums- und Körperverletzungsdelikten.


Schaubild 11:
Schaubild 11 (he179s11)

Unzureichend ausgeschöpft werden aber nicht nur die Möglichkeiten hinsichtlich der Zahl der Tagessätze, sondern auch hinsichtlich der oberen wie der unteren Höhe der Tagessätze. Zwar wurde auch hier die anfängliche Zurückhaltung gegenüber Tagessätzen von mehr als 50 DM (1976: 4,9%) etwas aufgegeben (1997: 20,6%), allerdings bei gleichzeitiger Zunahme des Anteils der Tagessätze bis 20 DM einschließlich (1976: 29,7%; 1997: 33,7%) (Schaubild 12). Aber immer noch werden lediglich 1,1% der zu Geldstrafe Verurteilten zu Tagessätzen von mehr als 100 DM verurteilt. Ein monatliches Nettoeinkommen (§ 40 Abs. 2 StGB) von mehr als 3.000 DM dürfte aber bei mehr als 1,1% der Verurteilten anzunehmen sein, insbesondere bei solchen der Verkehrs- oder Wirtschaftskriminalität. Das eigentliche Kernproblem der Geldstrafe ist indes die Bemessung der Tagessatzhöhe bei wirtschaftlich schwachen Personen, bei denen regelmäßig nur der Mindestsatz von 2 DM in Betracht kommen kann. Der Anteil der Entscheidungen mit einer Tagessatzhöhe bis 10 DM schwankte seit 1976 zwischen 6,8% (1980) und 14,5% (1993), 1997 betrug er 9,8%. Dieser Anteil müßte höher sein, weil anzunehmen ist, daß etwa ein Drittel der zu Geldstrafe Verurteilten nur über ein Einkommen im Sozialhilfebereich verfügt (vgl. Villmow, Kurze Freiheitstrafe, Ersatzfreiheitsstrafe und gemeinnützige Arbeit, in: Festschrift für Kaiser, Berlin 1998, S. 1301 m.w.N.).


Schaubild 12:
Schaubild 12 (he179s12)

Druckmittel für die Zahlung der Geldstrafe war und ist die ersatzweise zu verbüßende Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB). Der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafe verbüßenden Geldstrafenschuldner ist, auch wenn die Daten der Strafvollzugsstatistik wegen der Stichtagszählung insgesamt nur beschränkt aussagekräftig sind, gegenüber den 70er Jahren gestiegen, obwohl die Gerichte "ratenzahlungsfreundlich" sind und, empirischen Untersuchungen zufolge, fast ein Drittel der Geldstrafen in Raten bezahlt wird. Gemessen an den Zugangszahlen der westdeutschen Vollzugsanstalten dürften in den 70er und 80er Jahren zwischen 5% und 6% der jährlich zu Geldstrafe Verurteilten zumindest einen Teil der Geldstrafe in Form der Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, seit 1994 sind es mehr als 7%, seit 1996 sogar mehr als 8%. Die Gründe für diesen Anstieg dürften vornehmlich in einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage, als Folge von Arbeitslosigkeit, zu suchen sein. Im Ergebnis gelangen deshalb wohl immer mehr sozial Schwache und/oder Randständige in den Vollzug.

Um bei verstärkter Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafe das Reformziel der Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe nicht zu gefährden, wurde den Verurteilten ermöglicht, die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch "freie Arbeit" abzuwenden (Art. 293 EGStGB); diese Einrichtung ist inzwischen auch in den neuen Bundesländern eingeführt worden. Die Reichweite dieses Instituts der "freien" bzw. "gemeinnützigen Arbeit" ist jedoch, entgegen den Erwartungen des Gesetzgebers, sehr begrenzt. Eine 1987/88 durchgeführte Untersuchung einer Stichprobe von fast 8.000 Verfahren mit "uneinbringlichen" Geldstrafen, d.h. solchen, bei denen Vollstreckungsmaßnahmen eingeleitet worden waren, kam zum Ergebnis, daß nur in 5,8% der sog. Uneinbringlichkeitsfälle eine Erledigung durch gemeinnützige Arbeit stattfand; die Ersatzfreiheitsstrafe kam mit 11,5% deutlich häufiger vor als die gemeinnützige Arbeit (Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, Wiesbaden 1991, S. 70). Der hohe Anteil von Zahlungen (immerhin 82,7%), der in dieser Untersuchung festgestellt wurde, deutet darauf hin, welch hohes Maß an Druck von der Androhung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe ausgeht. Seit dem EGStGB 1974 ist es dem Gericht möglich, den Aufschub der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe anzuordnen, wenn die Vollstreckung ein "unbillige Härte" wäre (§ 459f StPO). Diese Härteklausel erwies sich indes in den Uneinbringlichkeitsfällen als "ohne Bedeutung" (Feuerhelm aaO., S. 70). In der rechtspolitischen Diskussion wird deshalb teilweise empfohlen, de lege ferenda die Möglichkeit der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung vorzusehen (vgl. Dölling, Dieter: Die Weiterentwicklung der Sanktionen ohne Freiheitsentzug im deutschen Strafrecht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 104, 1992, S. 276).

Wie der Anstieg der absoluten und relativen Zahlen der Ersatzfreiheitsstrafe Verbüßenden zeigt, greifen die Alternativen zum Ersatzfreiheitsstrafenvollzug nicht in dem erwarteten und erwünschten Maße. Deshalb wird seit geraumer Zeit über Modifikationen der Ersatzfreiheitsstrafe nachgedacht; die Praxis ist unter dem Druck der Verhältnisse bereits eigene Wege gegangen, indem der Umrechnungsschlüssel "Stunden gemeinnütziger Arbeit pro Tagessatz" geändert wurde und/oder eine Vollzugslösung erprobt wird. In Baden-Württemberg wurde z.B. durch AV d. JuM vom 3.3.1998 (Die Justiz, S. 144) der bisherige Umrechnungsschlüssel von 6 Stunden gemeinnütziger Arbeit pro Tagessatz auf vier Stunden geändert, ferner wird die Vollstreckung nach Verbüßung der Hälfte der Ersatzfreiheitsstrafe gem. § 455a StPO für ein Jahr unterbrochen, bei Bewährung wird die Reststrafe gnadenweise erlassen.

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2.2.2 Zurückdrängung der Freiheitsstrafen

2.2.2.1 Rückgang in der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen

Die Sanktionierungspraxis hinsichtlich der verhängten Freiheitsstrafen nach ihrer Dauer zu beobachten, ist wegen des Wechsels der Kategorien, in denen die Dauer ausgewiesen wird, erst für die Zeit ab 1970 möglich; erst seitdem wird die Kategorie "bis unter 6 Monate" ausgewiesen. Zwischen 1967 und 1969 standen nur Angaben über Strafen "bis einschließlich 6 Monate" zur Verfügung. Für die Zeit davor waren Zuchthaus- bzw. Gefängnisstrafen nur entweder mit einer Dauer bis 3 Monate oder bis 9 Monate einschließlich ausgewiesen, die 6-Monats-Grenze war statistisch nicht erfaßt worden.

Die Umsetzung der Strafrechtsreform hinsichtlich der Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe (bis unter 6 Monate) läßt sich deshalb nur annähernd anhand des Vergleichs der Anteile der Freiheitsstrafen mit einer Dauer bis 6 Monate einschließlich (bis unter 6 Monate, 6 Monate genau) bestimmen. 1967, vor der Strafrechtsreform, lautete noch jedes dritte Urteil auf eine freiheitsentziehende Sanktion bis sechs Monate einschließlich, 1996 dagegen nur noch jedes elfte. Dieser erhebliche Rückgang zugunsten der Geldstrafe ist der bleibende Erfolg der Strafrechtsreform 1969.

Dennoch: Zur erstrebten "Ausnahme" ist die kurze Freiheitsstrafe nicht geworden. Denn 1997 waren 38,8% aller verhängten Freiheitsstrafen kürzer als 6 Monate (Schaubild 13). Es ist eine Frage der Bewertung, ob damit bereits das Ziel des Reformgesetzgebers von 1969 erreicht ist, kurze Freiheitsstrafen zur "ultima ratio" werden zu lassen. Die Geldstrafe bildet aus Sicht der Praxis, wie ihre weitgehende Nicht-Anwendung im Bereich zwischen 91 und 180 Tagessätzen zeigt (1997: 5,2% aller Geldstrafen), lediglich im unteren Bereich eine Alternative zur kurzen Freiheitsstrafe.


Schaubild 13:
Schaubild 13 (he179s13)

Ebenfalls nicht zur Ausnahme geworden sind die unbedingt verhängten, d.h. nicht zur Bewährung ausgesetzten, kurzen Freiheitsstrafen (Schaubild 14). Zwar wurden sie auf ein Zehntel ihres Umfanges von 1968 zurückgedrängt, aber immer noch sind knapp 27% aller nicht ausgesetzten Freiheitsstrafen kürzer als 6 Monate. Nicht zur Bewährung ausgesetzte kurze Freiheitsstrafen zählen demnach auch weiterhin zu den von den Gerichten nicht nur ausnahmsweise verhängten freiheitsentziehenden Sanktionen.


Schaubild 14:
Schaubild 14

Schon gar nicht sind vollstreckte kurze Freiheitsstrafen zur Ausnahme geworden. Ziel der Strafrechtsreform war es ja, aufgrund der Einsicht in die Resozialisierungsfeindlichkeit kurzer Freiheitsstrafen nicht nur deren Verhängung, sondern vor allem deren Vollstreckung einzuschränken. Dies ist nur zum Teil gelungen, weil sich infolge unbeabsichtigter Nebenfolgen bei der Vollstreckung anderer Sanktionen die Zahl von zu vollstreckenden kurzen Freiheitsstrafen deutlich erhöht hat. Derartige Nebenfolgen sind eingetreten durch

Nach einer begründeten Schätzung dürften 1967/1968 rd. 137.700 Strafgefangene mit einer realen Vollzugsdauer von unter sechs Monaten inhaftiert gewesen sein, 1981/1982 dagegen immerhin noch 66.400 (Heinz, Strafrechtliche Sozialkontrolle - Beständigkeit im Wandel? Bewährungshilfe 31, 1984, S. 32), d.h. ein Mehrfaches der knapp 10.000 Personen, die derzeit jährlich zu einer unbedingten kurzen Freiheitsstrafe verurteilt werden.

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2.2.2.2 Relative Konstanz von mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen

Die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe beruhte auf der Einsicht in die Resozialisierungsfeindlichkeit dieser Strafart. Daraus konnte und sollte aber nicht abgeleitet werden, der Gesetzgeber messe den mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen besondere, die Resozialisierung begünstigende Wirkungen bei. Erwartbar war vielmehr, daß die "Krise präventiven Strafdenkens" (Jescheck, Die Krise der Kriminalpolitik, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 91, 1979, S. 1037 ff.) hinsichtlich stationärer Sanktionen auch die Sanktionierungspraxis bei den anderen Freiheitsstrafen beeinflussen würde. Diese Erwartungen wurden enttäuscht. Bezogen auf die nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten werden heute sogar mehr mittel- und langfristige Freiheitsstrafen verhängt als noch zu Beginn der 70er Jahre. Der Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung im Bereich bis zu 2 Jahren Freiheitsstrafe hat im Ergebnis lediglich dazu geführt, daß insgesamt nicht mehr unbedingte Freiheitsstrafen verhängt werden. Der Anteil der bereits im Urteil zur Vollstreckung angeordneten Freiheitsstrafen ist heute - nach dem 1990 erreichten niedrigsten Stand von 1,8% - wieder größer als vor der Strafrechtsreform: 1960 wurden 2,1% der Verurteilten zu einer nicht ausgesetzten Freiheitsstrafe von mehr als 1 Jahr verurteilt, 1997 waren es 2,3%.

Allerdings bleibt bei einer solchen Betrachtungsweise unberücksichtigt, daß wegen des hohen und zunehmenden Anteils der aus Opportunitätsgründen eingestellten Verfahren, empirisch gesehen, die "leichteren" Fälle nicht mehr zur Verurteilung gelangen, weshalb sich unter den Verurteilungen der relative Anteil der "schweren", eher mit Freiheitsstrafe zu sanktionierenden Fälle deutlich erhöht. Die deshalb an sich erforderliche Bezugnahme auf die "sanktionierbaren Personen", d.h. die Personen, die entweder verurteilt worden sind oder bei denen das Verfahren gem. §§ 153, 153a, 153b StPO eingestellt worden ist, ist jedoch erst seit Führung der StA-Statistik möglich. Hierbei zeigt sich, daß der Anteil der insgesamt verhängten Freiheitsstrafen bis 1993 leicht zurückgegangen ist (1981: 11,7%, 1993: 8,4%), seitdem steigen die Raten wieder leicht an (1997: 9,5%). Der Rückgang bis 1993 beruht auf einer deutlichen Abnahme des Anteils der Freiheitsstrafen bis 12 Monate. Der Anteil der Freiheitsstrafen von mehr als 12 Monaten ist bis Ende der 80er Jahre konstant geblieben, seitdem erfolgt ein leichter Anstieg (Schaubild 15).


Schaubild 15:
Schaubild 15 (he179s15)

Noch vor Jahren wäre dieser Befund positiv aufgenommen worden. Inzwischen ist die Freiheitsstrafe jedoch aus mehreren Richtungen unter verstärkten Legitimationsdruck geraten. Hierzu zählt vor allem der Stand der Forschung zur spezial- und generalpräventiven Effizienz von Sanktionen, der zugespitzt in der These von der "Austauschbarkeit und Alternativität" (vgl. hierzu zuletzt und eingehend Kerner, Erfolgsbeurteilung nach Strafvollzug, in: Kerner/Dolde/Mey [Hrsg.]: Jugendstrafvollzug und Bewährung, Bonn 1996, 3-95) der Sanktionen zum Ausdruck kommt. Danach ist im Grundsatz davon auszugehen, daß unterschiedliche Sanktionen keine differenzierende Wirkung auf die Legalbewährung haben, daß die Sanktionen vielmehr weitestgehend austauschbar sind. Als Ergebnis seiner Auswertung der europäischen Rückfalluntersuchungen hat Kerner jüngst zusammengefaßt: "Immerhin reicht die Mehrheit der internationalen Befunde für die Schlußfolgerung, daß im Bereich der großen Zahl verschiedene Sanktionen ähnliche Effekte nach sich ziehen, wenn man sie gegen zumindest angenähert vergleichbare Gruppen von Personen einsetzt, die wegen Straftaten verfolgt werden. Dieses Phänomen der spezialpräventiven Austauschbarkeit von Sanktionen ... wird unterstützt von der Einsicht, daß auch generalpräventiv nicht schon von der Rücknahme schwerer Sanktionen als solcher ein Verlust an Innerer Sicherheit befürchtet werden muß ... Die Devise 'im Zweifel weniger' hat also immerhin viel empirische Evidenz für sich. Daraus folgt schon heute für eine Kriminalpolitik und generalisierte Sanktionspraxis, die dem Anspruch auf Rationalität (jedenfalls mit) genügen wollen, die Pflicht zur offenen Begründung (etwa Schuld, Sühne, Gerechtigkeit), wenn man auf bestimmte Delikte oder Tätergruppen stärker als mit der spezialpräventiv geeigneten Mindestreaktion reagieren will. In der Einzelfallbehandlung käme es auf die genaue Abwägung der Kriterien und eine Begründung dahingehend an, warum ein intensiverer Zugriff entweder unvermeidlich ist oder sogar gerade doch präventiv aussichtsreich erscheint" (Kerner aaO., S. 89). Deshalb wird gegenwärtig die Freiheitsstrafe kriminalpolitisch toleriert "nur noch faute de mieux für die Fälle, in denen (noch) keine anderen geeigneten Sanktionen zur Verfügung stehen. Die Eingriffsschwere der Freiheitsstrafe, verbunden mit ihrer mangelnden rückfallprophylaktischen Effizienz, zwingt geradezu zur kontinuierlichen Suche nach Möglichkeiten zu ihrer Ersetzung durch andere Mittel, die den sozialen Zwecken der Strafe besser dienen können" (Weigend, Sanktionen ohne Freiheitsentzug, Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1992, 349). Dieser Legitimationsdruck schlägt auch auf die Praxis durch, von der die Beachtung einer "Beweislastumkehr" angemahnt wird, die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt. Das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit besagt nämlich, "daß eine Maßnahme unter Würdigung aller persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalles zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich sein muß, das heißt, daß das Ziel nicht auf eine andere, den einzelnen weniger belastende Weise ebenso gut erreicht werden kann, und daß der mit der Maßnahme verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des bestehenden Tatverdachts stehen darf" (Hill, Verfassungsrechtliche Gewährleistungen gegenüber der staatlichen Strafgewalt, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.]: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI: Freiheitsrechte, Heidelberg 1989, Rdnr. 22). Unter der Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist danach im Urteil zu begründen, weshalb im Einzelfall - in spezialpräventiver Betrachtung - Anhaltspunkte dafür bestehen, daß durch eine in die Freiheit des Verurteilten intensiver eingreifende Sanktion die Rückfallwahrscheinlichkeit günstiger beeinflußt werden kann als durch eine eingriffsschwächere Sanktion. Ferner werfen kriminologische Befunde, wonach ein erheblicher Teil der Gefangenenpopulation eine Freiheitsstrafe verbüßt, obwohl das Gericht eine Verbüßung nicht intendierte, die Frage nach geeigneteren Alternativen auf, die den Urteilsspruch besser zu verwirklichen erlauben. Zu denken ist hierbei insbesondere an Fälle der uneinbringlichen Geldstrafe (Ersatzfreiheitsstrafe) oder wenn die aus sozialpädagogischen Gründen erwünschte Maßnahme - Unterstellung unter einen Bewährungshelfer - im gegenwärtigen Sanktionensystem des allgemeinen Strafrechts nur bei Verhängung einer Freiheitsstrafe erreichbar ist, die (im Nicht-Bewährungsfall) den unerwünschten und kontraproduktiven Effekt der Freiheitsstrafenverbüßung nach sich zieht.

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2.2.3 Bedeutungsgewinn von Strafaussetzung zur Bewährung und Bewährungshilfe

Strafaussetzung zur Bewährung ist in dem spezialpräventiven Konzept des Gesetzgebers der Strafrechtsreform von 1969 nicht mehr die ausnahmsweise zu gewährende, besonders zu rechtfertigende Vollstreckungsmodifikation, sondern hat sich - als Regelfall bei verhängter Freiheitsstrafe - zu einer "besonderen 'ambulanten' Behandlungsart" (< A HREF="sanks97g.htm#BGHSt">BGHSt 24, 40 [43]) fortentwickelt. Dieses Konzept hat die Praxis voll umgesetzt. Der Anteil der Strafaussetzungen gem. § 56 StGB an den Freiheitsstrafen hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt (Aussetzungsrate - bezogen auf insgesamt verhängte Freiheitsstrafen - 1954: 30,2%; 1997: 69,0%).

Derzeit werden drei Viertel (1997: 74,7%) der aussetzungsfähigen Strafen, also der Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren, zur Bewährung ausgesetzt. Die Aussetzungsrate (bezogen auf die jeweils aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen) ist zwar umso höher, je kürzer die Freiheitsstrafe ist, aber auch bei Freiheitsstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren ist - jedenfalls seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre - die Aussetzung die Regel (1997: 63,8%) und nicht mehr die Ausnahme (Schaubild 16). Von daher stellt sich die Frage nach der Erweiterung des Anwendungsbereichs der Strafaussetzung zur Bewährung auf Strafen von mehr als zwei Jahren.


Schaubild 16:
Schaubild 16 (he179s16)

Flankierend zur Strafaussetzung werden in immer stärkerem Maße auch Auflagen und Weisungen angeordnet. 1997 wurden 58,5% der Strafaussetzungen mit einer Auflage und 44,8% mit einer Weisung verbunden. Insbesondere wird von der fakultativen Möglichkeit, den Verurteilten einem Bewährungshelfer zu unterstellen, vermehrt Gebrauch gemacht. Wegen der nicht in gleichem Maße steigenden Zahl der Bewährungshelfer ist in den letzten Jahren die Fallbelastungszahl auf ca. 70 Probanden pro Bewährungshelfer gestiegen, wobei die Situation sich weiter dadurch verschärft, daß die Unterstellung von mehr problembelasteten Probanden einen höheren Betreuungsaufwand erfordert.

Durch die stetige Verlagerung auf informelle Sanktionen und auf Geldstrafen verbleiben für die Freiheitsstrafe und damit für die Strafaussetzung zur Bewährung zunehmend mehr "problematische Fälle", was insbesondere am Anstieg des Anteils der erheblich vorbelasteten Probanden ablesbar ist (Schaubild 15). Unter den einem hauptamtlichen Bewährungshelfer unterstellten Probanden sind deutlich angestiegen sowohl die Zahlen der Probanden, die bereits zuvor schon mindestens einmal verurteilt worden waren, als auch derjenigen, die bereits zuvor unter Bewährungsaufsicht standen.

Beachtlich ist deshalb das Maß der "Bewährung der Strafaussetzung zur Bewährung". Die Daten der Bewährungshilfestatistik zeigen, daß das gesetzgeberische Experiment der Anhebung der Obergrenze und das Experiment der Praxis, vermehrt vom Institut der Straf- und der Strafrestaussetzung Gebrauch zu machen, erfolgreich ist, jedenfalls gemessen an der abschließenden richterlichen Entscheidung über Widerruf oder Straferlaß. Die Öffnung der wStrafaussetzung für die bisherigen traditionellen Zielgruppen des Strafvollzugs führte nämlich nicht, wie aufgrund der damit verbundenen Zunahme einer nach "klassischen" prognostischen Kriterien "schwierigen" Klientel zu vermuten war, zu einem Anstieg der Widerrufsraten. Die Ausdehnung der Strafaussetzung ging vielmehr einher mit einer deutlichen Erhöhung des Anteils der besonders risikobelasteten Probandengruppe (Schaubild 17) und mit einem deutlichen Anstieg der Straferlaßquote, namentlich bei den als besonders risikobelastet geltenden Gruppen (Schaubild 18). Die Strafaussetzung bei gleichzeitiger Unterstellung unter einen Bewährungshelfer wird in weniger als einem Drittel (1991: 29,5%) der nach allgemeinem Strafrecht erfolgten Unterstellungen widerrufen; in den sonstigen, den prognostisch eher günstigeren Fällen - Strafaussetzung ohne Unterstellung unter einen Bewährungshelfer - dürfte die Widerrufsrate sogar noch geringer sein.


Schaubild 17:
Schaubild 17 (he179s17)


Schaubild 18:
Schaubild 18 (he179s18)

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2.2.4 Bedeutungslosigkeit der sonstigen ambulanten Sanktionen - Absehen von Strafe und Verwarnung mit Strafvorbehalt

Die beiden durch die Strafrechtsreform von 1969 eingeführten Rechtsinstitute des Absehens von Strafe und der Verwarnung mit Strafvorbehalt sind quantitativ bedeutungslos geblieben:

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2.2.5 Untersuchungshaft

Untersuchungshaft ist ein Grundrechtseingriff, der legitimiert wird durch Zwecke der Verfahrens- und Vollstreckungssicherung und der durch den Grundsatz der Unschuldsvermutung begrenzt wird. Wegen des Grundrechtseingriffs ist im Einzelfall immer abzuwägen zwischen dem Bedürfnis nach wirksamer Strafverfolgung und dem Freiheitsrecht und -anspruch des einzelnen. "Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen (ist) ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv (entgegenzuhalten). Dies bedeutet: Die Untersuchungshaft muß in Anordnung und Vollzug von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht werden" (BVerfGE 19, 342 [347]). Durch das Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1964 wurde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der als allgemeiner, aus dem Rechtsstaatsprinzip sich ergebender Rechtsgrundsatz für alle Maßnahmen des Staates gegenüber dem Bürger gilt, ausdrücklich für die Untersuchungshaft kodifiziert. Untersuchungshaft darf gem. § 112 Abs. 1 S. 2 StPO "nicht angeordnet werden, wenn sie ... zu der zu erwartenden Strafe ... außer Verhältnis steht". Sonst würde die angeordnete - und regelmäßig auch vollzogene - Untersuchungshaft stärker in das Freiheitsrecht des als unschuldig Geltenden eingreifen als die Reaktion, die aus der Verurteilung des als schuldig Erkannten folgt. Daraus folgen:

Wegen dieser Abhängigkeit der Untersuchungshaftanordnung von der Sanktionsprognose war deshalb an sich zu erwarten, daß im Gefolge der Strafrechtsreform von 1969 sowohl die Untersuchungshaftraten als auch der Anteil der Untersuchungsgefangenen, der lediglich zu ambulanten Sanktionen verurteilt wird, deutlich zurückgehen würden. Eine derartige Erwartung war deshalb begründet, weil sonst durch die Untersuchungshaftpraxis die Wertentscheidung des im materiellen Strafrecht verwirklichten Reformprogramms vereitelt werden würde. Die Überzeugung, daß die kurze Freiheitsstrafe in aller Regel spezialpräventiv mehr schadet als nützt, hat den Gesetzgeber bewogen, die Verhängung und den Vollzug dieser Strafe soweit als möglich auszuschließen. Diese Entscheidung würde durchkreuzt, würde gleichwohl gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft angeordnet werden. Zwar haben Untersuchungshaft und Freiheitsstrafe verschiedene Aufgaben, die Eingriffsintensität und die Folgen sind bei Untersuchungshaft aber nicht selten stärker als bei der Freiheitsstrafe. Diese kennt vielfältige Möglichkeiten der Lockerung, die bei der Untersuchungshaft wegen ihrer Sicherungsfunktion in der Regel gerade nicht bestehen. Untersuchungshaft wirkt infolgedessen nicht selten persönlich destabilisierender und sozial wie beruflich desintegrierender als Freiheitsstrafe.

Die Erwartung, daß die Untersuchungshaftraten, d.h. die Anteile der Untersuchungsgefangenen an den jeweiligen Verurteilten eines Berichtsjahres, parallel zum Rückgang stationärer Sanktionen zurückgehen würden, hat sich nicht erfüllt. Die Untersuchungshaftraten der nach allgemeinem Strafrecht Verurteilten blieben weitgehend konstant; erst Mitte der 80er Jahre erfolgte, nicht zuletzt unter dem Einfluß von Wissenschaft und Öffentlichkeit, ein deutlicher Rückgang auf zuletzt 3,7%; seit 1990 steigen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Reaktion auf Ausländerkriminalität, die Untersuchungshaftraten wieder deutlich an (1997: 4,9%) (Schaubild 19).


Schaubild 19:
Schaubild 19 (he179s19)

Erwartungswidrig wird ferner nur jeder zweite (1997: 49,6%) nach allgemeinem Strafrecht verurteilte Untersuchungsgefangene zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt (Schaubild 20). Ein ganz erheblicher Teil der Verurteilten erlebt deshalb den Freiheitsentzug nur in seiner resozialisierungsfeindlichsten Form, nämlich in der der Untersuchungshaft.


Schaubild 20:
Schaubild 20 (he179s20)

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Letztes Update am 28.07.1999
Bearbeitet von: Martina Schulz