Die Ethnologin Maria Lidola arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Lehraufgaben (Lecturer) zu den Schwerpunkten „Migration und Transnationalismus“ und „Ethnographische Methoden“ an der Universität Konstanz. Bild: Inka Reiter

Zeit macht den Unterschied

Rund 18.000 ÄrztInnen aus Kuba kamen als Teil des „Mehr-Ärzte-für-Brasilien-Programms“ zwischen 2013 und 2018 nach Brasilien. Doch das Programm, das den Notstand im öffentlichen Gesundheitssektor dort lindern sollte, stieß zunächst auf überraschenden Widerstand, wie Maria Lidola, Ethnologin an der Universität Konstanz, in Rio de Janeiro beobachtete.

Wenn Länder des Globalen Südens einander helfen, kennen sie die Ausgangslagen besser, weil sie dem eigenen Land ähneln, und begegnen sich auf Augenhöhe. So die Theorie, die Maria Lidola am „Mehr-Ärzte-für-Brasilien-Programm“ überprüfte. Kein leichtes Unterfangen, denn das soziopolitische Klima ist aufgeheizt, als die Ethnologin 2014 ihren ersten Forschungsaufenthalt in Rio de Janeiro antritt.

Die ersten ÄrztInnen aus Kuba, die im Rahmen des Programms nach Brasilien gekommen sind, sind von brasilianischen KollegInnen mit Buhrufen begrüßt worden. Soziale Medien schüren Vorurteile. Einige PatientInnen in den Familienkliniken weigern sich aus rassistischen Gründen, sich von kubanischen ÄrztInnen untersuchen zu lassen. Anders als erwartet stellt sich heraus, dass Süd-Süd-Kooperationen nicht nur von mehr Verständnis für die medizinischen Notstände geprägt sind, sondern auch von Vorurteilen.

Lidola führt ihre Forschung in zwei Favelas mit den dortigen Familienkliniken durch. Sie begleitet die kubanischen ÄrztInnen und das brasilianische Personal in ihrem Alltag, führt zahlreiche Interviews und arbeitet mit teilnehmender Beobachtung. „In diesem sehr politisierten Kontext war es eine große Herausforderung, Vertrauen aufzubauen“, sagt die Ethnologin, „auch für mich als Wissenschaftlerin.“

Wie ändert sich die Situation?

Die kubanischen ÄrztInnen finden schnell heraus, woran es neben finanziellen Mitteln in den Familienkliniken fehlt – an dem Faktor Zeit. Angesichts überlasteter Kapazitäten versuchen die brasilianischen KollegInnen, möglichst viele Fälle in kurzer Zeit abzuarbeiten und Medikamente zu verschreiben. Dagegen nehmen sich die KubanerInnen Zeit für ihre PatientInnen und führen zweimal pro Woche Hausbesuche durch. Lidola beobachtet: „Allein der Umstand, dass jemand zu ihnen nach Hause kommt, zeigt den PatientInnen: Da ist jemand da, der kümmert sich, sorgt sich um dich. So wird ein Gefühl der Wertschätzung vermittelt, das sie zuvor nicht kannten.“ Auf diese Weise wird Vertrauen aufgebaut, sodass sich im Laufe des Programms die Meinung der Bevölkerung von den kubanischen ÄrztInnen mehrheitlich ins Positive kehrt.

Aus den Erfahrungen und den Praktiken der kubanischen ÄrztInnen schließt die Ethnologin: „Zeit ist etwas unheimlich Wichtiges für die Gesundheitsversorgung. Durch ausreichend Zeit wird Wertschätzung vermittelt, was gerade für jene Favela-BewohnerInnen, die sich selbst als minderwertig fühlen, bedeutend ist.“

Der ausführliche Beitrag über das Forschungsprojekt von Maria Lidola ist im Magazin uni’kon der Universität Konstanz frei verfügbar (uni’kon #77): im E-Reader und in der PDF Fassung ( S. 28 )