Stichlingsschwarm im Bodensee bei Konstanz. (Foto: Jolle W. Jolles)

Wie Individualität das Gruppenverhalten von Fischschwärmen bestimmt

Forscher aus Konstanz und Cambridge ermitteln den Einfluss der „Persönlichkeit“ einzelner Schwarmtiere auf das kollektive Verhalten der Gruppe

Inwiefern beeinflusst die „Persönlichkeit“ von Tieren – individuelle Charakterzüge einzelner Tiere – das kollektive Verhalten und Zusammenspiel von Tiergruppen wie Fischschwärmen? Eine aktuelle Studie zeigt den Einfluss individueller Charaktereigenschaften auf Tierschwärme, unter anderem auf deren Zusammenhalt, Führungskultur, Bewegungsdynamik und Gruppenleistung. Das gemeinsame Forschungsprojekt der Universität Konstanz, des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell und der Universität Cambridge liefert neue Einsichten, um die Entstehung komplexer Verhaltensmuster von Tierschwärmen auf sozialer und ökologischer Ebene zu erklären und vorherzusagen. Die Forschungsergebnisse sind unter anderem relevant für den Naturschutz und die Fischerei und könnten potenziell zur Entwicklung von biologisch inspirierten Roboterschwärmen beitragen. Darüber hinaus könnten sie dabei unterstützen, auch das menschliche Gesellschafts- und Teamverhalten besser zu verstehen. Die Forschungsergebnisse sind ab Donnerstag, 7. September 2017 in der aktuellen Ausgabe von Current Biology veröffentlicht und unter folgendem Link verfügbar: dx.doi.org/10.1016/j.cub.2017.08.004.

Seit Jahrhunderten sind Wissenschaftler und Öffentlichkeit gleichermaßen von der Schönheit und Komplexität von Tierschwärmen und ihren kollektiven Verhaltensweisen fasziniert, zum Beispiel von Vogel- und Fischschwärmen oder großen Ansammlungen von Herdentieren. Tiere finden sich oft in Gruppen zusammen, stimmen sich ab und koordinieren ihr Verhalten, weil ihnen dies Schutz vor Jägern bietet und die Futtersuche erleichtert. Wie Forschungsergebnisse aus der empirischen und theoretischen Forschung belegen, gehen diese komplexen Verhaltensmuster häufig aus einfachsten Verhaltensregeln der einzelnen Gruppenmitglieder hervor.

Im letzten Jahrzehnt wurde deutlich, dass individuelle Charakterunterschiede im Tierreich allgegenwärtig sind. Einzelne Tiere derselben Art unterscheiden sich häufig in ihren Verhaltensmerkmalen; diese Unterschiede werden auch „Tierpersönlichkeit“ genannt. Bislang konnte allerdings der Einfluss dieser Charakterunterschiede auf das Gruppenverhalten nicht exakt ermittelt werden.

In einem aktuellen Forschungsbeitrag im Journal Current Biology liefert nun ein Forschungsteam der Universität Konstanz, des Max-Planck-Instituts für Ornithologie und der Universität Cambridge experimentelle und theoretische Nachweise, dass individuelle Charaktereigenschaften eine grundlegende Rolle für die Gruppendynamik von Tierschwärmen spielen. Die Studie zeigt damit erstmalig auf, wie sich das Gruppenverhalten aus den individuellen Charaktereigenschaften der einzelnen Tiere herleiten lässt. Die Forschungsergebnisse liefern wichtige Erkenntnisse, wie das Verhalten einzelner Tiere innerhalb der Gruppendynamik auf Grundlage ihrer Tierpersönlichkeiten vorhergesagt werden kann.

Dr. Jolle Jolles, Hauptautor der Studie, erklärt: „Um nachvollziehen zu können, wieviel Einfluss Individuen auf das kollektive Verhalten von Gruppen ausüben, haben wir einzelne Stichlinge zunächst auf ihre individuellen Verhaltensmuster getestet. Anschließend  setzten wir sie in Gruppen zusammen und beobachteten ihr Verhalten in verschiedenen ökologischen Umgebungen. Dabei wurden ihre Position und Bewegungen ständig genauestens verfolgt“, so Jolles.

„Wir fanden heraus, dass diejenigen Fische, die mehr Zeit in der Nähe ihrer Artgenossen verbrachten, weniger schnell waren, sich eher im Zentrum der Gruppe aufhielten und dazu neigten, anderen Fischen des frei schwimmenden Schwarms zu folgen“, führt Jolle Jolles aus. „Gruppen, die hauptsächlich aus solchen Individuen bestanden, wiesen einen deutlich höheren Zusammenhalt auf, bewegten sich aber weniger und waren unkoordinierter als solche Gruppen, deren Mitglieder hingegen zu weniger sozialem Zusammenhalt und schnellerer Fortbewegung neigten“.

Dr. Andrea Manica von der Universität Cambridge und Mitautorin der Studie fügt hinzu: „Indem wir die Schwärme in verschiedenen Umgebungen mit verborgenen kleinen Futterreservoirs testeten, fanden wir zudem heraus, dass es eine Kombination aus Erkundungsdrang und Schnelligkeit innerhalb der Gruppe ist, die entscheidend für ihre Leistung bei der Nahrungssuche ist – und zwar sowohl bei Individuen als auch bei Gruppen.“

Professor Iain Couzin, Professor für Biodiversität und Kollektivverhalten an der Universität Konstanz und Direktor des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell, ergänzt: „Wir entwickelten darüber hinaus ein einfaches, handlungsbasiertes Computermodell sich selbst-organisierender Gruppen. Damit konnten wir nachweisen, dass diese vielschichtigen Gruppenprozesse ganz von selbst aus dem lokalen Zusammenspiel einzelner Individuen hervorgehen, die sich schlicht und ergreifend in ihrer bevorzugten Fortbewegungsgeschwindigkeit unterscheiden.“ Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass individuelle Unterschiede bei der Geschwindigkeit einen einfachen, selbst-organisierenden Mechanismus liefern können, aus dem kollektive Verhaltensmuster und das Zusammenspiel der Gruppe hervorgehen können, ohne dass einzelne Tiere ein ganzheitliches Wissen über das Verhalten aller Gruppenmitglieder benötigen.

„Unsere Studie verbindet zwei sehr unterschiedliche Ansätze aus den Forschungsfeldern der Tierpersönlichkeit und des Kollektivverhaltens. Sie liefert damit eine einfache, in sich stimmige Erklärung dafür, wie individuelle Unterschiede den Variantenreichtum sowohl innerhalb wie auch zwischen Gruppen bestimmen können und wie Gruppenstruktur, Führungskultur, Bewegungsdynamik und die Leistung bei der Futtersuche zustande kommen", resümiert Dr. Jolles.

Originalveröffentlichung:

Jolle W. Jolles, Neeltje J. Boogert, Vivek H. Sridhar, Iain D. Couzin & Andrea Manica: Consistent individual differences drive collective behaviour and group functioning of schooling fish, Current Biology, online veröffentlicht am 7. September 2017

DOI: 10.1016/j.cub.2017.08.004
Link: http://dx.doi.org/10.1016/j.cub.2017.08.004

Faktenübersicht:

  • Finanziert durch: Biotechnology and Biological Sciences Research Council (Graduate Research Fellowship von Dr. Jolle W. Jolles)
  • Methodik: Mithilfe zwei verschiedener Persönlichkeitstests bestimmten die Forscher die individuellen Verhaltensneigungen von 125 Stichlingen und fassten die Tiere anschließend nach dem Zufallsprinzip in 25 Gruppen zusammen. Diese Gruppen wurden wiederholt in drei verschiedenen Situationen getestet, die verschiedenen ökologisch-relevanten Szenarien nachempfunden waren (z. B. Erkundung, Nahrungssuche). Die Forscher benutzten hochsensible Tracking-Technik, um die Positionen der einzelnen Fische innerhalb der frei schwimmenden Schwärme nachzuverfolgen, und zeichneten deren Position und Bewegungen über den Zeitraum der Studie hinweg präzise auf. Zur Einschätzung und Erklärung der beobachteten Verhaltensmuster nutzten sie zudem ein handlungsbasiertes Computermodell.
  • Forschungspartner: Universität Konstanz, Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell, Cambridge University