Bild: Universität Konstanz

Wandernde Formen

Die Nomis Foundation fördert neues literaturwissenschaftlich-anthropologisches Projekt „Traveling Forms“ an der Universität Konstanz

Nicht nur Menschen sind mobil, sondern auch kulturelle Güter bewegen sich über die Zeit von Ort zu Ort. Das interdisziplinäre Projekt „Traveling Forms“ an der Universität Konstanz verbindet in vier Teilprojekten literaturwissenschaftliche und anthropologische Perspektiven auf die Mobilität kultureller Formen. Die Untersuchungen beziehen sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart. Darüber hinaus wird der kulturwissenschaftliche Grundbegriff der „Form“ weiterentwickelt werden. Die Schweizer Nomis Foundation wird das Projekt ab Oktober 2020 mindestens vier Jahre lang mit rund 1,2 Millionen Euro fördern. Projektsprecherin ist die Konstanzer Germanistin Prof. Dr. Juliane Vogel.

Wenn sich Menschen begegnen, erschaffen und nutzen sie Formen. Dabei passen sie die Formen der jeweiligen Situation an und reisen mit ihnen durch Raum und Zeit. In Zeiten der Globalisierung hat sich die Mobilität der Formen verstärkt, traditionelle Formbegriffe müssen neu gefasst werden. Das Projekt „Traveling Forms“ konzentriert sich dabei auf Formen, die sich über kulturelle und soziale Grenzen hinweg bewegen. Wie wandern zum Beispiel literarische Gattungen? Möglich sind unterschiedliche Überlieferungsformen und Publikationswege. Wanderschaften können über ganz unterschiedliche Institutionen oder Akteure laufen. „Shakespeares Tragödien sind in Deutschland durch wandernde Theatergruppen eingeführt worden, die durch die Länder gezogen sind und einen verballhornten, komischen, nicht-tragischen Shakespeare in Wirtshäusern präsentiert haben“, gibt Juliane Vogel Einblick in ihr eigenes Teilprojekt „Traveling Tragedy“. Sie vergleicht darin die unterschiedlichen Reiseformen der volkstheaternahen Shakespeareschen Tragödien und der höfischen und stark kodifizierten Tragödien der französischen Klassik.  

„Wir möchten herausfinden, inwieweit sich kulturelle, literarische, ästhetische und institutionelle Formen durch Wanderschaft und Migration stabilisieren und entstabilisieren“, erklärt Juliane Vogel, die gerade mit einem der sehr renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preise für das Jahr 2020 ausgezeichnet wurde. Dabei geht „Traveling Forms“ von der These aus, dass Formen immer wieder erneuert und abgewandelt werden müssen, um lebendig zu bleiben. Dies geschieht durch Wanderung, Migration und Grenzüberschreitung. Wie entstehen überhaupt Formen, welche Rolle spielen Prozesse wie die Herauslösung von Formen aus einem Kontext und ihre Wiedereinführung an einem anderen Ort? Juliane Vogel: „Wir wollen wissen: Was passiert ganz konkret, wenn eine Form, die, wie hier, aus England kommt und im Deutschland des 18. Jahrhunderts wieder aufgenommen wird? Was entsteht, wenn sie in Berührung mit anderen ansässigen Formen kommt?“ 

Inhaltlich eng damit verknüpft ist das Teilprojekt „Migration of Tragedy“ der Konstanzer Anglistin Prof. Dr. Christina Wald, das Tragödien-Formen im postkolonialen Raum des 20. und 21. Jahrhunderts untersucht und sich damit der globalen Gegenwart zuwendet. Zu welchen Formgebilden kommt es, wenn diese einerseits europäische, andererseits auch antike Form in afrikanische oder asiatische Zusammenhänge eintritt und auf dort ansässige Formen trifft? Die postkoloniale Tragödie wird auch als Form des politischen Widerstands verstanden und fragt nach den politischen Auswirkungen des Zusammentreffens westlicher und indigener Theaterformen. 

Um politischen Widerstand geht es ebenfalls im Teilprojekt „Activism as a Traveling Aesthetic Form“ des Konstanzer Anthropologen Prof. Dr. Thomas Kirsch, der Formwanderungen unter aktuellen medienpolitischen Bedingungen beobachtet. Grundlage seiner Forschung sind eigene ethnografische Aufzeichnungen zu Tanz-Formen, die von Widerstandsbewegungen aufgegriffen, abgewandelt und weitergegeben werden. Hier versprechen sich die Forschenden auch Erkenntnisse dazu, wie die Form-Transformationen vor sich gehen und inwiefern das Lebendige der Form in einem Verhältnis zwischen Konstanz und Variation besteht. „Auf der einen Seite ist die Frage, was das Wiedererkennbare ausmacht, auf der anderen Seite bleibt die Form niemals gleich, sondern lebt erst dann und dadurch, dass sie abgewandelt und weitergegeben wird“, so Juliane Vogel. 

An der Schnittstelle zwischen Literatur und Anthropologie arbeitet der Konstanzer Kulturwissenschaftler Dr. Marcus Twellmann. Mit seinem Teilprojekt „Forms in Translation“ wird er aus seiner interdisziplinären Forschung heraus eine allgemeingültige Theorie zu „Formprozessen“ entwickeln, von der alle Teilprojekte profitieren werden. Dabei geht der Privatdozent und Koordinator des Projektes von dem kulturanthropologischen „Assemblage“-Modell aus, wonach Formen keinen ineinandergefügten Organismus darstellen, sondern die Struktur von etwas Zusammengesetztem haben – aus Elementen unterschiedlicher Richtungen und Kulturen, die in einen flüchtigen, zeitlich begrenzten Zusammenhang eintreten, in dem sie sich zusammenfinden, aber auch wieder auflösen können. Damit wird beschreibbar, wie sich global zirkulierende Formen lokal verankern, indem sie Elemente der neuen Umgebung integrieren und sich auf diese Weise anpassen. 

Das Projekt „Traveling Forms“ hat sich aus der Konstanzer kulturwissenschaftlichen Forschung zur Mobilität entwickelt.  

Die Nomis Foundation ist eine private Schweizer Stiftung, die Wissenschaft in allen Disziplinen unterstützt. Sie fördert Forschungsprojekte in aller Welt, die radikal andere Ansätze oder neue Perspektiven verfolgen.
 

Faktenüberblick:

  • Nomis Foundation fördert Projekt „Traveling Forms“ an der Universität Konstanz
  • Vier Teilprojekte aus Literaturwissenschaft und Kulturanthropologie
  • Sprecherin ist die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Juliane Vogel
  • Förderung von 1,2 Millionen Euro ab Oktober 2020 über eine Laufzeit von mindestens vier Jahre.