Ein Sterlet (Acipenser ruthenus). Bild: Andreas Hartl

Lebendes Fossil mit bewegter Genomevolution

Der Evolutionsbiologe Axel Meyer von der Universität Konstanz war an der Entschlüsselung des riesigen Erbguts des Störs beteiligt

Störe lebten bereits vor 300 Millionen Jahren auf der Erde und haben sich äußerlich seitdem kaum verändert. Einem Forschungsteam der Universitäten Würzburg und Konstanz sowie des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin ist es jetzt gelungen, ihr höchst komplexes, weil vielfach verdoppeltes Erbgut zu entschlüsseln. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben damit ein bislang fehlendes Puzzleteil zum Verständnis der Genomevolution der Wirbeltiere geliefert. In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Ecology and Evolution vom 30. März 2020 stellen sie die Ergebnisse ihrer Arbeit vor. 

Sie werden bisweilen auch „Methusalem der Süßwasserfische“ genannt: Störe und ihre nahen Verwandten. Fossilienfunde beweisen, dass sie bereits vor 250 Millionen Jahren existierten und sich seitdem zumindest rein äußerlich nur wenig verändert haben. Kein Wunder, dass schon Charles Darwin sie als „lebende Fossilien“ bezeichnete. Dennoch sind sie innerlich durch fundamentale Umstrukturierungen des Genoms gekennzeichnet: Sie haben ihren Chromosomensatz mehrfach verdoppelt. Forschenden der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) und des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) ist es mit Unterstützung des Konstanzer Evolutionsbiologen Prof. Dr. Axel Meyer und seines wissenschaftlichen Mitarbeiters Dr. Joost Woltering sowie aus Frankreich und Russland gelungen, das Genom einer Störart, des Sterlets (Acipenser ruthenus), zu entschlüsseln.  

Vorfahren der Wirbeltiere
„Stör-Genome sind ein wichtiges Puzzleteil, um die Abstammung von Wirbeltieren zu verstehen. Das hat uns bisher gefehlt“, erklärt Prof. Dr. Manfred Schartl die Gründe, warum sich die Wissenschaft für diese Fischart interessiert. Manfred Schartl ist Hauptautor der jetzt veröffentlichten Studie. Störe gehören entwicklungsgeschichtlich zu den ältesten Lebewesen auf der Erde. Sie sind die uralten Vettern von mehr als 30.000 heute vorkommenden Knochenfischarten und damit von mehr als 96 Prozent aller lebenden Fischarten sowie etwa der Hälfte aller bekannten Wirbeltierarten. Die Zeit scheint Störe vergessen zu haben.  

Wie die Forscher zeigen konnten, hat sich die Linie der Störe irgendwann vor zirka 345 Millionen Jahren während des Oberdevon oder der Karbonzeit von der Entwicklungslinie anderer Arten abgespalten. Dass sich die Fische seitdem äußerlich nur wenig verändert haben, spiegelt sich nicht in ihrem Erbgut, ihrer DNA, wider. Um das zu überprüfen, mussten die Genetiker einen genauen Blick auf die Proteine werfen, die von den Genen des Sterlets kodiert werden. Tatsächlich zeigen ihre Berechnungen eine extrem langsame Geschwindigkeit dieser sogenannten Proteinevolution. Die Rate der Proteinentwicklung des Sterlets gleicht der des Quastenflossers oder der Haie – zwei Fischarten, die ebenfalls seit mehr als 300 Millionen Jahren beinahe unverändert durch die Meere schwimmen. 

Umfangreiche Genomveränderung vor 180 Millionen Jahren
120 Chromosomen, rund 47.500 proteinkodierende Gene, 1,8 Milliarden Basenpaare: Diese Werte konnte das Forschungsteam für den Sterlet ermitteln. Was es ebenfalls zeigen konnte: Vor gut 180 Millionen Jahren hat sich dessen Erbgut verdoppelt, die meisten Gene werden daher vierfach abgelesen – Störe sind in der Sprache der Wissenschaft tetraploid. Dass sich das Erbgut verdoppelt, ist eine große Überraschung: „Die Entwicklung des Genoms von Wirbeltieren wurde nur sehr selten durch solche Prozesse, aber dann extrem stark beeinflusst“, sagt Manfred Schartl. Axel Meyer ergänzt: „Schon unsere ganz alten Fischvorfahren erlebten im Laufe der Evolution zwei Runden von ‚Ganzgenom-Duplikationen‘, aber der Vorfahre der modernen Fische machte diesen Prozess ein drittes Mal durch.“ Das hatte sein Labor an der Universität Konstanz schon vor etwa 20 Jahren gemeinsam mit dem Labor von Manfred Schartl in Würzburg herausgefunden. 

Überraschend hingegen war für die Wissenschaftler die Tatsache, dass die neu entdeckte Verdopplung des Genoms bei den Stören schon so lange zurückliegt. „Bei diesem langen Zeitraum hätten wir stärkere Veränderungen des Erbguts erwartet, denn bei tetraploiden Lebewesen gehen im Laufe der Zeit häufig Genabschnitte verloren, werden stummgeschaltet oder bekommen eine neue Funktion“, so der Evolutionsbiologe Axel Meyer. 

Genforschung für den Artenschutz
Die Entschlüsselung des Genoms ist eine wichtige Grundlage für den Schutz der Störarten. In Zukunft wird es möglich sein, mit genetischen Analysen das Geschlecht der Tiere bestimmen zu können, was die Nachzucht erheblich erleichtert. So kann die Fortpflanzung gesteuert und die Bewirtschaftung von Brutbeständen unterstützt werden – ein Meilenstein für Bemühungen, diese uralten Arten auch im Hier und Jetzt zu erhalten.  

Störe sind in subtropischen bis hin zu subarktischen Flüssen, in Seen und an Küstenlinien Europas, Asiens und Nordamerikas verbreitet. Sie sind extrem langlebig und vermehren sich erst spät, in der Regel nicht vor dem zehnten Lebensjahr. Bei vielen Störarten wandern die erwachsenen Tiere wiederholt aus dem Meer ins Süßwasser, um zu laichen. Begehrt sind die Fische vor allem wegen ihrer Eier, die unter dem Namen Kaviar bekannt sind.  

Die Zerstörung von Lebensräumen, die fehlende Verbindung zu Flüssen, die Verschmutzung der Meere und die zweitausend Jahre alte Kaviarproduktion haben dazu geführt, dass die meisten Störarten heute vom Aussterben bedroht sind. Da Wildkaviar nicht mehr legal gehandelt werden darf, hat die Stör-Aquakultur eine hohe wirtschaftliche Bedeutung erlangt und kann ihrerseits zum Schutz der Wildpopulationen beitragen, indem sie eine sichere Marktversorgung gewährleistet.

Faktenüberblick:

  • Originalpublikation:The sterlet sturgeon genome sequence and the mechanisms of segmental rediploidization. Du Kang, Matthias Stöck, Susanne Kneitz, Christophe Klopp, Joost Woltering, Mateus Adolfi, Romain Feron, Dmitry Prokopov, Alexey Makunin, Ilya Kichigin, Cornelia Schmidt, Petra Fischer, Heiner Kuhl, Sven Wuertz, Jörn Gessner, Werner Kloas, Cedric Cabau, Carole Iampietro, Hugues Parrinello, Chad Tomlinson, Laurent Journot, John H. Postlethwait, Ingo Braasch, Vladimir Trifonov, Wesley C. Warren, Axel Meyer, Yann Guiguen and Manfred Schartl. Nature Ecology & Evolution, https://doi.org/10.1038/s41559-020-1166-x
  • Projekt zur Entschlüsselung der Stör-DNA an den Universitäten Konstanz und Würzburg sowie dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), Berlin
  • Unter der Leitung von Prof. Dr. Manfred Schartl von der Universität Würzburg und mit Beteiligung des Evolutionsbiologen Prof. Dr. Axel Meyer von der Universität Konstanz.