Prof. i. R. Dr. Wolfgang Spohn, bis 2018 Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Konstanz. Bild: Universität Konstanz
Prof. i. R. Dr. Wolfgang Spohn, bis 2018 Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Konstanz. Bild: Universität Konstanz

Homo oeconomicus 2.0

Rationales Verhalten reflektiert die eigenen Entscheidungsbedingungen

Der Konstanzer Philosoph Prof. i. R. Dr. Wolfgang Spohn, von 1996 bis 2018 Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Konstanz, ist von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einem Reinhart Koselleck-Projekt in Höhe von 500.000 Euro ausgezeichnet worden. Es befasst sich mit der Ergänzung und Korrektur der Standard-Entscheidungs- und Spieltheorie.

Der Konstanzer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Spohn gehört zu den führenden analytischen Philosophen in Deutschland. Seine Forschungsinteressen reichen von der Epistemologie, Ontologie und Metaphysik, der Sprachphilosophie und der Philosophie des Geistes bis hin zur Philosophie der Logik und Mathematik. Auf dem Gebiet der praktischen Rationalität, insbesondere der Entscheidungs- und Spieltheorie, gilt er als philosophischer Wegbereiter. Im Rahmen eines mit 500.000 Euro dotierten Reinhart Koselleck-Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) kann sich Wolfgang Spohn nun ganz einem Projekt widmen, das ihn bereits seit vielen Jahren beschäftigt: der Ergänzung und Korrektur der in der Entscheidungs- und Spieltheorie bereits seit Langem etablierten Leitfigur des homo oeconomicus. Spohn ist der nunmehr siebte Konstanzer Wissenschaftler, dem ein Koselleck-Projekt zugesprochen wird.

Homo oeconomicus: Normatives Ideal oder Missverständnis?

Reinhart Koselleck-Projekte sind auf fünf Jahre ausgelegt und ermöglichen Pionierarbeit in der Forschung, die „besonders innovativ und im positiven Sinne risikobehaftet“ ist. Spohns Projekt erfüllt beide Kriterien beispielhaft, insofern es eine grundlegende Neueinordnung bzw. Neuformulierung der Entscheidungs- und Spieltheorie zum Ziel hat: „Ich halte beide Standard-Theorien aus normativer Sicht für ergänzungsbedürftig“, so Spohn. Er stellt damit einen seit über 60 Jahren akzeptierten Status Quo in Frage. „Wenn ich mit meinen Annahmen zum Modell des homo oeconomicus richtig liege, dann wird sich dies nicht nur auf die Theorie auswirken, sondern auch Folgen für die empirische Forschung haben: Der Referenzrahmen der Verhaltensökonomie könnte sich deutlich verschieben.“

In den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Mikroökonomie, gilt das Bild des homo oeconomicus als normatives Ideal. „Die Figur des homo oeconomicus beschreibt im weitesten Sinne, wie wir uns als Personen und insbesondere als Wirtschaftsteilnehmer vernünftigerweise verhalten sollen“, erklärt Spohn. „Rationalität ist immer eine Form von Zieloptimierung: Es geht darum, in einer Abwägung möglicher Alternativen eine Entscheidung zu treffen, die den erwarteten Nutzen oder subjektiven Wert maximiert.“ Strittig ist dabei, ob der homo oeconomicus als ein hauptsächlich von Eigeninteressen geleiteter rationaler Agent zu verstehen ist. „Die Unterstellung des Eigennutzes halte ich für ein Missverständnis“, so Spohn. „In einem trivialen Sinn werde ich natürlich nur von eigenen Interessen angetrieben. Das schließt aber überhaupt nicht aus, dass ich auch Wohlwollen gegenüber anderen Menschen aufbringe. Es bedeutet nur, dass es in meinem Ermessen liegt, wem gegenüber ich wieviel Wohlwollen aufbringe; es heißt nicht, dass meine Interessen im Sinne eines strikten Eigennutzens zu verstehen wären. Das zeigen auch klassische Experimente der Spieltheorie wie das Ultimatumspiel, bei dem die Spieler sich durchaus von Fairnessgedanken leiten lassen.“

Während Expertinnen und Experten aus der Verhaltens-, Psycho- und Neuroökonomie bereits seit Langem damit beschäftigt sind, die idealisierte Figur des homo oeconomicus im Hinblick auf tatsächliches menschliches Verhalten zu modifizieren, verfolgt Spohn einen anderen Ansatz: Auf der Basis der Standardtheorien möchte er eine neue, reflexive Entscheidungstheorie formulieren. „Mein Grundgedanke ist, dass die normative Theoriebildung, also der Ausgangspunkt für die Figur des homo oeconomicus, die seit über 60 Jahren unangetastet geblieben ist, nicht stimmt. Die moderne Verhaltensökonomie kann zwar die Diskrepanz zwischen Standardtheorie und Empirie aufzeigen. Ich glaube aber, dass sie insgesamt den falschen Bezugspunkt wählt, dass das normative Bild des homo oeconomicus grundlegend ergänzt und verbessert werden muss.“

Reflexive Entscheidungstheorie

Diese Ergänzung nennt Spohn reflexive Entscheidungstheorie und Spieltheorie. Für die Standard-Entscheidungstheorie, und dementsprechend auch für die Spieltheorie, ist der Strategie-Begriff grundlegend. Sie geht davon aus, dass sich der rationale Agent einen Plan zurechtlegt, anhand dessen er auf verschiedene äußere Umstände reagieren kann. In der Entscheidungstheorie werden dementsprechend nicht nur einzelne Handlungen als optimal bewertet, sondern ganze Strategien. Dabei macht sich der Agent von äußeren Umständen abhängig, auf die er allerdings nur insoweit reagieren kann, als er von ihnen Kenntnis erlangt. Deswegen beschäftigt sich die Entscheidungstheorie auch ausführlich mit der Beschaffung von Informationen. „Wenn man es allerdings genau nimmt, dann stellt sich der Agent nicht direkt auf äußere Bedingungen ein, sondern auf seine künftigen inneren Bedingungen, auf künftiges Wissen“, argumentiert Spohn. „Doch kann und muss man sich rationalerweise auch auf in anderer Weise veränderte künftige mentale Zustände einstellen; Wünsche und Interessen können sich ändern, und man erwirbt nicht nur neue Meinungen, sondern verliert auch alte. Insofern kann ich schon morgen in einer ganz anderen Entscheidungssituation sein, als ich es am Vortag war. Hier kommt die Standardtheorie an ihre Grenzen, geht sie doch von der Optimierung eines einzigen, unveränderlichen Standpunktes aus.“

Für diesen Fall hat Spohn das Konzept des reflexiven Aufstiegs entwickelt. „Die Frage ist doch, was in sich ändernden Entscheidungssituationen noch als vernünftig oder unvernünftig betrachtet werden kann und welche Entscheidungskriterien herangezogen werden müssen, um einen kohärenten Gesamtplan erstellen zu können“, so Spohn weiter. „Dazu gehört, dass ich meine möglichen zukünftigen Wünsche und Überzeugungen, aus denen heraus ich Entscheidungen treffe, ebenfalls konzeptualisiere. In der Standardtheorie ist dieser reflexive Aufstieg nicht systematisch vollzogen worden. Das konstruktive Problem ist, für solche erweiterten Entscheidungsmodelle ein Optimalitätskriterium zu entwickeln.“

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Wünsche und Überzeugungen des Handelnden nicht nur über seine Handlungen, sondern auch auf anderen Wegen, durch Emotionen und Ausdrucksverhalten, auf seine soziale Umwelt einwirken. Diese Form der Interaktion wird in der ökonomischen Literatur bislang nicht angemessen berücksichtigt, obwohl sie Auswirkungen auf rationale Entscheidungen haben kann. Zum reflexiven Aufstieg gehört, auch diese Wirkungsweisen zu berücksichtigen. Die Frage, die es dann nach Spohn zu beantworten gilt, ist, was optimales oder rationales Verhalten unter solchen Umständen bedeutet: „Dieser reflexive Aspekt – dass ich bedenken muss, welche direkten Auswirkungen meine mentalen Zustände jenseits meiner Handlungen haben können – wird auch grundlegende Folgen für die Spieltheorie haben, die ja ganz explizit rationales Verhalten in sozialen Situationen erklären möchte.“

Wolfgang Spohns Reinhart Koselleck-Projekt beginnt im Frühjahr 2020 und läuft bis 2025. Neben zwei Promotionsprojekten mit wirtschaftswissenschaftlichem und mathematischem Fokus wird es Anknüpfungspunkte für interdisziplinäre Kooperationen mit anderen Forscherinnen und Forschern der Universität Konstanz bieten. Auch eine Gesamtpublikation ist geplant.

Faktenübersicht:

  • Konstanzer Philosoph Prof. i. R. Dr. Wolfgang Spohn erhält Reinhart Koselleck-Projekt für ein Forschungsprojekt zur Ergänzung und Korrektur der Standard-Entscheidungs- und Spieltheorie
  • Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
  • Projektlaufzeit: 2020 bis 2025
  • Fördersumme: 500.000 Euro Auszeichnung für „besonders innovative und im positiven Sinn risikobehaftete“ Forschung