Dr. Christiane Bertram

Die Aura der Zeitzeugen

Die Konstanzer Juniorprofessorin Dr. Christiane Bertram forscht zum Einsatz von Zeitzeugen in der historisch-politischen Bildung.

Zeitzeugen spielen im Alltag, in der öffentlichen Erinnerungskultur und insbesondere im Geschichtsunterricht in den Schulen eine nicht zu überschätzende Rolle. Dr. Christiane Bertram, Juniorprofessorin für Fachdidaktik in den Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz, hat in einer experimentellen Studie nachgewiesen, dass Zeitzeugen allerdings auch ein Risiko mitbringen: Schülerinnen und Schüler zeigten sich nach dem Besuch eines Zeitzeugen im Unterricht zwar sehr motiviert, im Vergleich aber auch unkritischer bei der Einordnung von Darstellungen als persönliche Sichtweisen auf die Vergangenheit. Die neue Konstanzer Juniorprofessorin richtet am 18. Mai 2017 den „Tag der Zeitzeugen“ an der Universität Tübingen aus, zu dem auch die interessierte Öffentlichkeit eingeladen ist.

Wie können Zeitzeugen in Zukunft für die historische und politische Bildung genutzt werden? Diese Frage, die über dem „Tag der Zeitzeugen“ an der Universität Tübingen steht, geht auf die Ergebnisse der experimentellen Studie zurück, die jüngst im American Eduacational Research Journal veröffentlicht wurden. Christiane Bertram hat im Rahmen ihres Dissertationsprojektes am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung in insgesamt 30 Klassen erforscht, welche Wirkungen die Arbeit mit lebendigen Zeitzeugen auf den Unterrichtserfolg hat – im Vergleich zur Arbeit mit Zeitzeugenvideos und mit schriftlichen Niederlegungen von Zeitzeugeninterviews.

Das Ergebnis der experimentellen Interventionsstudie bestätigt, was die Forschung zuvor nahegelegt hatte: Die Schülerinnen und Schüler in der Live-Gruppe waren „emotional ergriffen“, es mangelte ihnen aber an kritischer Distanz. „Sie haben im Vergleich zu den Video- und Text-Gruppen weniger gut verstanden, dass Geschichten über die Vergangenheit dekonstruiert werden müssen und dass Zeitzeugen perspektivisch sind. Jedoch waren sie fest davon überzeugt, dass sie methodisch und inhaltlich viel gelernt hätten“, fasst Christiane Bertram zusammen. Tatsache ist aber auch: Sie hatten sehr viel Spaß an der Unterrichtseinheit.

Beim „Tag der Zeitzeugen“ treffen Fachwissenschaftler und Multiplikatoren in der historisch-politischen Bildung zusammen, um sich über den Status Quo der Forschung und über die zukünftige Arbeit mit Zeitzeugen in der historisch-politischen Bildung auszutauschen. Mit den Keynotes des Zeithistorikers Prof. Dr. Martin Sabrow von der Universität Potsdam und der Fachdidaktikerin Christiane Bertram werden die geschichtswissenschaftlich-theoretische und die fachdidaktisch-empirische Seite des Themas abgedeckt. Auf dem Podium diskutieren die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Aleida Assmann, der Fachdidaktiker Prof. Dr. Martin Lücke, der Gedenkstättenleiter Dr. Jörg Skriebeleit und – als Vertreter der „Oral History“ – Prof. Dr. Alexander von Plato.

Am Abend wird anhand der Vorstellung eines Filmes und einer Buchlesung gezeigt, wie Zeitzeugen dabei helfen, die Vergangenheit zu erforschen und für uns heute lebendig zu machen. Ziel der Tagung ist, Wege aufzuzeigen, wie die Erfahrungen der Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts genutzt werden können, um die Lernenden auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten.

Die Aura der Zeitzeugen ist zu beachten, wenn man sie in der historisch-politischen Arbeit einsetzt. Zeitzeugen, die live im Unterricht ihre Erfahrungen schildern, entwickeln eine besondere Überzeugungskraft. Diese wird in der Forschung dafür verantwortlich gemacht, dass den Schülerinnen und Schülern zentrale Einsichten in die Methode der Geschichtswissenschaft schwerer fallen: Dass Zeitzeugenerzählungen perspektivisch sind und der Dekonstruktion bedürfen. „Der lebendige Zeitzeuge scheint eine ‚Aura’ zu entfalten, die es den Schülerinnen und Schülern womöglich erschwert, zu den Erzählungen des Zeitzeugen die notwendige kritische Distanz zu halten“, sagt Christiane Bertram.

Dies bedeutet nicht, Zeitzeugen aus dem Geschichtsunterricht zu verbannen. Im Gegenteil: Im Zentrum einer zukünftigen Studie steht eine Fortbildung der Lehrkräfte, die auf einen gut überlegten Einsatz der Zeitzeugenmethode im Unterricht abzielt. Die Lernenden sollen Einsichten in die methodischen Grundlagen von Geschichteerhalten – und darüber hinaus für das jeweilige Thema interessiert werden. Christiane Bertram: „Damit bringen wir die Ergebnisse unserer ersten Studie an die Schulen zurück.“ Die Binational School of Education an der Universität Konstanz mit ihrer Anbindung an die empirische Bildungsforschung und mit ihrem Netz an Kooperationsschulen sieht Christiane Bertram als große Chance.

Faktenübersicht:

  • Zeitzeugen-Studie der Konstanzer Bildungsforscherin Dr. Christiane Bertram in: Bertram, C., Wagner, W. & Trautwein, U. (2017). Learning historical thinking with oral history interviews: A cluster randomized controlled intervention study of oral history interviews in history lessons. American Educational Research Journal. doi: 10.3102/0002831217694833 http://journals.sagepub.com/doi/full/10.3102/0002831217694833
  • „Tag der Zeitzeugen“: 18. bis 19. Mai 2017, Universität Tübingen: http://bit.ly/2m3OwvS
  • Verbundprojekt der Universitäten Konstanz und Tübingen: „Zeitzeugen im Geschichtsunterricht als Maßnahme zur Förderung historischer Kompetenzen: Eine cluster-randomisierte kontrollierte Interventionsstudie“