Ausschnitt des Buchcovers
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Behördenversagen mit Todesfolge

Der Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel untersucht in seinem Buch „Verwaltungsdesaster“ behördliche Abläufe, die zu Katastrohen wie der Loveparade in Duisburg führen konnten

Im Dezember 2017 wurde der Strafprozess gegen zehn Menschen eröffnet, die angeklagt sind, für die Planungsfehler verantwortlich zu sein, die zu der Katastrophe bei der Loveparade 2010 in Duisburg geführt haben. Darunter befinden sich sechs Verwaltungsmitarbeitende des damaligen Bauamtes der Stadt Duisburg, die an der Organisation der Großveranstaltung beteiligt waren. Der Konstanzer Verwaltungswissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Seibel geht der Frage nach: Wie konnte es dazu kommen, dass unter Verstoß gegen eindeutige gesetzliche Sicherheitsbestimmungen die Genehmigung für die Veranstaltung erteilt wurde? In dem Buch „Verwaltungsdesaster. Von der Loveparade bis zu den NSU-Ermittlungen“ rekonstruiert er gemeinsam mit den Ko-Autoren Kevin Klamann und Hannah Treis den Fall „Loveparade“ und drei weitere Fälle von Behördenversagen mit tragischem Ausgang.

Neben der Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten ist dies der Einsturz der Eislaufhalle in Bad Reichenhall 2006 mit 15 Toten, der Tod der dreijährigen Yagmur 2013 in Hamburg und das Versagen der polizeilichen Ermittlungen bei der Aufklärung der NSU-Anschläge mit zehn Mordopfern zwischen 2000 und 2007. Drei der vier vorgestellten Fallstudien gehen auf studentische Seminar- und Abschlussarbeiten zurück.

Dass Fälle mit solch desaströsem Ausgang selten sind, liegt laut Seibel daran, dass gängige Schwächen von Verwaltungen – wie etwa Koordinations- und Kommunikationsprobleme oder Rivalitäten um Zuständigkeiten – bekannt sind und entsprechende Vorschriften dagegen geschaffen worden sind. Es kann aber vorkommen, dass bei starken Gegenanreizen solche Vorschriften missachtet werden. So war sowohl in Duisburg als auch in Bad Reichenhall die Politisierung von Fachentscheidungen ein wichtiger Faktor, wie im Buch rekonstruiert wird. In Duisburg war es die politische Vorgabe, die Loveparade trotz des ungeeigneten Veranstaltungsgeländes durchzuführen. In Bad Reichenhall war es der politische Wille, in eine Halle, die ohnehin abgerissen werden sollte, nicht noch 20.000 Euro für ein Gutachten über die Standfestigkeit zu stecken und sogar einen Sanierungsbeschluss des Stadtrates zu missachten.

Im Fall des dreijährigen Mädchens Yagmur, die aufgrund von Misshandlungen durch ihre Mutter zu Tode kam, und der NSU-Morde an Kleinhändlern mit Migrationshintergrund, die aufgrund mangelnder Koordination der Ermittlungen von Bundes- und Landespolizei lange als Milieutaten missinterpretiert wurden, vermutet Seibel noch einen anderen entscheidenden Wirkmechanismus. Obwohl es in beiden Fällen offensichtliche Hinweise auf Misshandlungen des Kindes beziehungsweise auf terroristische Anschläge gab, wurden ihnen nicht in erforderlichem Maß nachgegangen. Die mangelnde Sorgfalt bei der Behandlung der Fälle kann auch darin ihre Erklärung finden, dass in beiden Fällen die Opfer nicht oder nur wenig artikulationsfähig waren. 

Zwei Hypothesen stehen somit im Raum: Gefahr droht zum einen von organisatorischen Arrangements, die dazu neigen, Verantwortlichkeiten zu verzerren. Gefahr besteht zum anderen auch bei folgender Situation: Der Druck auf die Verwaltungsangestellten ist groß, die Wahrscheinlichkeit, verantwortlich gemacht zu werden, aber relativ klein.

Weil solche Fälle behördlichen Versagens selten sind, werden sie von Seibel als „Schwarze Schwäne“ bezeichnet. Für seine Forschung wurde dem Verwaltungswissenschaftler eine Förderung im Rahmen des Reinhart Koselleck-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zugesprochen. Reinhart Koselleck-Projekte sind bestimmt für besonders ausgewiesene Wissenschaftler, die innovative und „im positiven Sinne risikobehaftete“ Forschungen betreiben. Für die kommenden fünf Jahre erhält Seibel 550.000 Euro, um die kausalen Mechanismen von Behördenversagen mit tragischem Ausgang aufzudecken. 

Faktenübersicht:

  • Buch: Wolfgang Seibel, Kevin Klamann, Hannah Treis: Verwaltungsdesaster. Von der Loveparade bis zu den NSU-Ermittlungen. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2017
  • Rekonstruktion von vier Fällen von Behördenversagen mit tragischem Ausgang
  • Weitere Fälle von Verwaltungsversagen werden in dem Reinhart Koselleck-Projekt „Schwarze Schwäne in der Verwaltung: Seltenes Organisationsversagen mit schwerwiegenden Folgen“ untersucht
  • Förderung durch die Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Höhe von 500.000 Euro plus Programmpauschale.