Kulturtheorie

 

Die Forschungsstelle wurde im Oktober 2003 an der Universität Konstanz aus Mitteln des Leibnizpreises für Prof. Albrecht Koschorke eingerichtet. Seit 2011 ist sie eine Einrichtung des Exzellenzclusters "Kulturelle Grundlagen von Integration". Programmatisch knüpft sie an die Tradition der Allgemeinen Literaturwissenschaft in Konstanz an. Sie soll jedoch deren analytisches Instrumentarium vorrangig auf Gegenstände richten, die außerhalb der (im Sinn von: Dichtung verstandenen) Literatur liegen. Text, Code, Narrativ, Fiktion sind Kategorien, deren Verwendung weit über den Bereich der Künste hinausgeht. Der dem linguistic turn folgende cultural turn hat in den zurückliegenden Jahrzehnten die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, welche Rolle sprachlich-rhetorische Mechanismen, etwa in Hinsicht auf die Lenkungswirkung mächtiger Leitmetaphern, bei der Hervorbringung und im Prozessieren von gesellschaftlichem Wissen überhaupt spielen. Wie die neuere Wissenschaftsgeschichtsschreibung zeigt, macht diese Erkenntnis auch vor dem Graben zwischen humanities und sciences, zwischen angeblich ,weichen‘ und angeblich ,harten‘ Wissenskulturen nicht Halt. Dadurch kommt so etwas wie ein kultureller Letzthorizont aller Formen sozialer Wissensproduktion in den Blick. Dies ist eine Entwicklung, auf die eine künftige Kulturtheorie angemessen wird reagieren müssen.

 

,Kultur‘ ist in diesem Zusammenhang nicht zu verstehen als ein abgesonderter und funktionsentlasteter Bereich in Abgrenzung von gesellschaftlichen Funktionssystemen wie Wissenschaft, Wirtschaft, Recht oder Politik. Vielmehr heißt Kultur die Zone des Austauschs zwischen den sich in der Moderne ausdifferenzierenden Wissenswelten – jener Zwischenraum, aus dem heraus sich die unterschiedlichen Rationalitäten überhaupt erst entfalten, in dem sie aufeinander treffen, sich mischen, verstärkend überlagern oder wechselseitig entkräften. Die entscheidenden Prozesse laufen hier nicht nach Maßgabe festgelegter Codierungen ab, weil eben diese Codes selbst auf dem Spiel stehen und in ihrer Anlage wie in ihrem Geltungsradius erst Gegenstand von Aushandlungen sind: Sind Normenkonflikte, wie sie sich etwa aus den Fortschritten der Biotechnologie ergeben, moralisch, wissenschaftlich, rechtlich oder politisch zu entscheiden? Welche Systemreferenz dominiert, und warum? Wie wird mit allfälligen Übergangsformen und hybriden Zuständigkeiten umgegangen? Dieser Raum kultureller Improvisationen, in dem stabile Systemreferenzen sich auflösen oder noch gar nicht greifen, wird durch den Widerstreit von Narrativen der Gründung, Anciennität, (De-)Legitimation, Grenzsicherung und -überschreitung, Kolonisation, Emanzipation etc. sozialer Bedeutungswelten beprägt. Solche Narrative wiederum gehorchen bestimmten textuellen Gesetzmäßigkeiten. Insofern fallen sie in die ,Zuständigkeit‘ einer interdisziplinär erweiterten, sich auf Wissenschafts- und Wissensgeschichte hin öffnenden, auf Prozesse der kulturellen Semiosis im Ganzen aufmerksame und dadurch auch politisierten Literaturwissenschaft.

 

 

Theorie des politischen Imaginären

 

Über lange Zeit wurden imaginäre Prozesse der Geistesgeschichte zugeschlagen und lediglich als Komplementärphänomene zur ,harten‘ gesellschaftlichen Materialität aufgefasst. In den wichtigsten neueren Theorien (Castoriadis, Marin, Iser u.a.) zeigt sich jedoch, dass die soziale und politische Ordnung auf einer Ordnung des Imaginären beruht, die Alternativen vom Typ Basis/Überbau und ihre Nachbar- und Folgedichotomien durchkreuzt. Diese Erkenntnis weist den Text- und Bildwissenschaften auch im Hinblick auf die Analyse politischer Vorgänge eine Schlüsselrolle zu. Wie kommt es dazu, so ist zu fragen, dass imaginäre Entitäten als unhintergehbare gesellschaftliche Wirklichkeit wahrgenommen und kreditiert werden? Wie lassen sich die textuellen, rhetorischen und ikonographischen Strategien entziffern, die das Entstehen und den Fortbestand gesellschaftlicher Realfiktionen zu steuern vermögen?

 

Keine Gesellschaft existiert ohne Institutionen, und Institutionen sind in dem hier bezeichneten Sinn imaginär. Allein damit sich eine Ansammlung von Individuen als kollektiver Agent appräsentieren kann, um sich überhaupt institutionsfähig zu machen, sind eine Reihe von genuin ästhetischen Prozeduren erforderlich. Es müssen imaginäre Integrale geschaffen werden, in denen sich die Beteiligten gleichsam spiegeln und über die sie rückwirkend zu einem (neuen) Selbstverhältnis, zu einem Eigenbild finden. Das gilt schon für kleinere soziale Einheiten wie etwa die antike polis, erst recht aber für politische Leitkategorien wie Volk oder Nation, die ihre Innen/Außen-Grenze mit literarischen bzw. ikonographischen Mitteln justieren (Gründungsmythen, Ausschließungsnarrationen). Besonders folgenreich ist in diesem Zusammenhang die Metapher des sozialen Körpers, deren Wirkungsgeschichte sich von Platon und Paulus bis hin zur Biopolitik des 20. Jahrhunderts erstreckt. Dass solche ästhetischen Konstrukte Eingang in die Systemsteuerung von Gesellschaften finden, zeigt nicht zuletzt der juridische Diskurs, der Vorstellungen vom kollektiven Körper und von dessen fiktiver Person erfolgreich in operative Rechtsgrößen umgemünzt hat.

 

Neben der Institutionenlehre umfasst die Theorie des politischen Imaginären den großen Bereich der Vergangenheitspolitik, das heißt der retrospektiven Herstellung von Tradition und Legitimität politischer Gebilde, wie sie derzeit etwa im Hinblick auf die Europäische Union anhängig ist. Aber nicht minder imaginär als die Bereitstellung von Selbstbildern ist die Konstruktion des Anderen: des Fremden, des Feindes. Die aktuelle Weltpolitik liefert hinreichendes Anschauungsmaterial für die Gewalt des Imaginären. Sie bietet überdies Anlass dazu, nach dem Scheitern der Säkularisationsthese den erneuerten Zusammenhang zwischen Politik und Religion theoretisch zu fokussieren.

 

 

Analyse von Narrativen

 

Programmatische Überlegungen aus dem Arbeitszusammenhang der Forschungsstelle sind in den Einrichtungsantrag des Exzellenzclusters ‚Kulturelle Grundlagen von Integration‘ eingegangen. Sie werden dort – vor allem im Forschungsfeld ‚Erzähltheorie als Kulturtheorie‘ – in größerem Rah­men bearbeitet. Die Forschungsstelle soll aber als eine unabhängige und flexible Ein­heit ihre eigene Agenda weiterverfolgen. Ein Schwerpunkt wird in der kommenden Zeit auf die Analyse von kulturellen Narrativen gelegt. Arbeitsgrundlage ist die Hypothese, dass kulturelle Narra­tive Medien und In­stru­mente sozialer Selbststeuerung sind. Die Untersuchungen konzentrieren sich auf folgende Kom­plexe:

 

- Konfliktnarrative. Hier wird gefragt, welche Rolle kulturelle Erzählungen in Prozessen der Solida­risierung und Abstoßung und damit bei der Herausbildung gesellschaftlicher Konfliktlinien spielen. Mit welchen Mitteln wirken sie auf die Verhärtung von sozialen Grenzen hin, und wo kön­nen sie umgekehrt einen ‚narrativen Grenzverkehr‘ organisieren, der Vermittlungen und Übersetzun­gen möglich macht und so zu einer mentalen Deeskalation beiträgt?

 

- Narrative der Referenz. Die geläufige Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Er­zäh­len verstellt den Blick auf den Sachverhalt, dass auch die Referenzialität von Wissens­ordnun­gen ein Gegenstand narrativer Arrangements sein kann. Die Frage lautet hier also, mit welchen er­zählerischen Techniken sich Diskurse ihrer Welthaltigkeit und ihres Realitätssinns versichern. Noch allgemeiner gefasst, sollen Ansätze zu einem theoretischen Modell dafür entwickelt wer­den, wie Kulturen ihre Fremd­referenz organisieren und welche ihrerseits kulturspezifischen Mechanis­men an dieser Leistung beteiligt sind.

 

- Unbestimmtheit. Was gemeinhin als Mangel einer bloß erzählerischen Verknüpfung von Daten gilt, dass sie nämlich keinen strengen Kriterien folgt, lässt sich unter einem anderen Blickwinkel als kulturelle Leistung eigenen Rechts fassen: Anders als strikt gekoppelte, hochgradig forma­li­sierte und spezialisierte Zeichensysteme befähigt die Plastizität von Erzählungen dazu, in großem Umfang Vieldeutig­keit und Unbestimmtheit zu bewältigen. Von hier aus ergeben sich Anschlüsse an andere For­schungs­gebiete, in denen es gerade um die Funktionalität von Vag­heit, schwachen be­ziehungsweise Mehrfachcodierungen geht.

 

- Narrative im Recht. Ein Musterfall für die Organisationskraft von Narrativen ist das Recht – auf mindestens drei Gebieten: Fallerzählungen, in denen literarische und juridische Darstellungs­weisen in­einander übergehen; Prozesse der Instituierung und Institutionalisierung, denen als Legitimationsbasis eine Ursprungserzählung zugrundegelegt wird; schließlich aber auch an der Peripherie und im ‚Vorhof‘ des Rechts, in denen sich rechtliche Regeln durch Behelfsnarrative ergänzen und gleichsam abfedern.

 

- Selbsterzählungen Europas. In diesem Bereich geht es in Verbindung mit dem neu ein­gerich­teten Studiengang ‚Kulturelle Grundlagen Europas‘ um die master narratives im Prozess der kulturellen und politischen Selbsterfindung Europas. Dazu zählen die Unter­scheidung zwischen dem einen wahren Gott und den vielen Götzen (Referenz Jerusalem); die Unter­scheidung zwi­schen Zivilisation und Barbarei (Referenz Hellas); das Modell der trans­latio imperii und seiner unterschiedlichen historischen Ausgestal­tun­gen (Referenz Rom); schließ­lich die asymmetrischen Moderne-Erzählungen, mit denen Europa sich vom Rest der Welt zu unterscheiden meinte und meint: Aufklärung, Säkula­ri­sie­rung, Menschenrechte, Demokratie, aber auch Kolo­nialismus und Rassismus.