Informationsquellen : Newsletter : Ausgabe 18 [10.05.2000]


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Ausgabe 18 [10.05.2000]

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* Untersuchungen der Woche
* Diskussionsbeitrag: Was ist Online-Forschung?
* Irgendetwasbesonderes

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Untersuchungen der Woche

-> Umwelt 2000 WebSurvey - Internationales Umfrageprojekt
http://www.or.zuma-mannheim.de/issp/u2000nl.asp

-> Untersuchung zum Thema ´Seitenspruenge´ bzw. ´Fremdgehen´
an der Universitaet Zuerich ;-)
http://www.genpsylab.unizh.ch/33211/13132/start.html


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Diskussionsbeitrag: Was ist Online-Forschung?

Ulf-Dietrich Reips
Universitaet Zuerich
Allgemeine und Entwicklungspsychologie
ureips@genpsy.unizh.ch


Ist es berechtigt, bei der Online-Forschung von einer eigenen
Wissenschaft zu sprechen? Was macht Forschung zur Online-
Forschung? Wie laesst sie sich systematisieren? Wie definieren?
Ein zwar nicht ausreichendes, aber einigermassen definierendes
Kriterium der Online-Forschung ist ihre Ausrichtung auf die
Erforschung menschlichen Verhaltens in und mit Computer-
netzwerken. Dieser Fokus kann inhaltlich, technisch oder
pragmatisch motiviert sein.

** Fachdisziplinen: Die Wurzeln der Online-Forschung

Wenn man eine Systematik der Online-Forschung aufstellen will, so
bieten sich verschiedene Wege dazu an. Beispielsweise kann eine
Klassifizierung ueber das Fach derjenigen erfolgen, die von sich
sagen, dass sie Online-Forschung betreiben. Im deutschsprachigen
Raum sind sehr viele dieser Personen in der German Internet
Research Mailingliste, kurz: gir-l,
(http://www.online-forschung.de/index.htm/gir-l/) eingeschrieben
(Buck, 1999).
Zu den Herkunftsfaechern bzw. -bereichen gehoeren einerseits
ueberwiegend anwendungsorientierte wie die Marktforschung, die
Meinungsforschung, die Wirtschaftswissenschaften, die Informatik
und generell die Privatwirtschaft, andererseits die eher
grundlagenorientierten wie zum Beispiel die Umfrageforschung, die
Sozialwissenschaften, die Verhaltenswissenschaften, die
Medienwissenschaft und die Kommunikationswissenschaft.
Naturgemaess wird Online-Forschung hier jeweils so betrieben,
dass die Vorgehensweise moeglichst im eigenen Fach akzeptiert
wird. Der Zwang dazu, sich nur von besonders sicherem
methodischen Boden aus auf technisches Neuland zu wagen, macht
also eine Einteilung nach dem Kriterium fachspezifischer Methoden
weiterhin recht sinnvoll.
Wegen der Eigenschaften der ´zeitaufhebenden´ und ´raumver-
kuerzenden´ Kommunikation in Netzen und dem Meta-Charakter der
Online-Forscher-Kommunikation (wir debattieren und forschen
IM Netz UEBER das Netz) entwickelt sich sehr schnell
ein interdisziplinaeres und integrativ wirkendes Fach, mit
eigenen Termini und einem breiten Methodenspektrum. Methoden aus
den Herkunftsfaechern der Online-Forscher muessen spezifisch
technisch umgesetzt werden. Im Dialog ueber die notwendigerweise
zum Grundwissen aller Online-Forscher gehoerende Netztechnik wird
gewissermassen ´en passant´ das Wissen ueber die Methoden der
anderen Faecher erweitert und in einen gemeinsamen Fundus
´gewebt´. Speziell in der Online-Forschung findet also nicht wie
moeglicherweise in anderen Wissenschaften eine ´Balkanisierung´
(Van Alstyne & Brynjolfsson, 1996), sondern ein ganz
entgegengesetzter, integrativer Prozess statt.

**Online-Technik: netzfokussiert!

Wie angedeutet, scheint das einzige einigermassen trennscharfe
Kriterium fuer Online-Forschung ihr Fokus auf Computernetze zu
sein. Technische Kriterien sind wesentliche Elemente dieser
Netzwerke, also sind sie auch bestimmend fuer die Forschung.
Sinnvolle technische Kriterien, nach denen man die
Online-Forschung unterteilen koennte, sind
1. der benutzte Dienst (E-Mail, News, IRC, Telnet, Gopher, Ftp,
WWW beziehungsweise die in diesem integrierten Unterdienste
WWW-Chat etc.);
2. die eingesetzten Medienkanaele, also Text, Bild, Ton,
Bewegtbild (unterteilbar in Animation und Video), Panoramas /
Objekte, VRML, Haptik und deren synchronisierte Kombinationen;
3. der Ort der Datensammlung: Clientseitig, Serverseitig,
Zwischendrin (Proxy-Analyse, s. z.B. Berker, 1999), bei
Drittagent (Suchmaschine etc.);
4. die Art der Rekrutierung: Selbstselektion, gezielte Werbung an
bestimmten "Informationsorten" (offline und/oder online), feste
oder zufallsmodulierte Auswahl des n-ten Zugriffs (Pfleiderer,
1997), gezielte Werbung ausgewaehlter Personen, Bereitstellung
von Computern und Internetzugaengen fuer eine zufaellig gezogene
Bevoelkerungsstichprobe (Nie & Erbring, 2000);
5. die Art der abhaengigen Variable, also Textantwort, Auswahl
von Antwortalternativen (Radiobuttons, Pop-up Menues, Checkboxes,
Links), Makro-Navigation, Mikro-Navigation, Zeitmessung
(Reaktionszeiten, Antwortzeiten, Blickzeiten).

** Ziele

Jenseits einer technikbasierten Kategorisierung laesst sich auch
fragen: wozu wird Online-Forschung betrieben? Also der Versuch
einer Klassifizierung ueber das Ziel der Datensammlung. Hier ist
etwa zu denken an die Ueberpruefung einer Theorie, die
Erforschung der Marktlage, oder der Wunsch, Auskunft ueber
Meinungen zu erhalten. Soweit ist das aber noch nicht
Online-Forschungs-spezifisch, sondern gilt allgemein fuer
Forschung. Etwas genauer und sinnvoller unterteilen wir die
Online-Forschung nach den Forschungszielen am besten
folgendermassen:
* Forschung unter Einsatz von Online-Medien betreiben (z.B.
Birnbaum, 1999; Musch & Klauer, in press);
* Online-Verhalten und -Medien beforschen (z.B. Bandilla &
Bosnjak, im Druck; Utz, 1996), hier waere auch eine
Online-Nutzungsforschung einzuordnen (Wenzel, 1999);
* Beforschung der Online-Forschungsmethoden unter Einsatz
traditioneller Methoden (z.B. Polkehn & Wandke, 1999);
* Beforschung traditioneller Forschungsmethoden (z.B. Reips,
2000).

** Untersuchungsformen und Erhebungsverfahren

Vergleicht man nun Online- und Offline-Forschung hinsichtlich der
verwendeten Untersuchungsformen, dann faellt eine erstaunliche
Parallelitaet ihrer Eigenschaften auf. Das, was offline die
Spuren-/Archiv-Forschung ist, ist online die
(Proxy-)Logfileanalyse angehaeufter Zugriffsdaten und -pfade:
beides non-reaktive Datensammlung. Ebenso: Das Experiment wird
zum Web-Experiment, die Befragung wird zur Online-Befragung,
Laengsschnittstudie bleibt Laengsschnittstudie, Inhaltsanalyse
bleibt Inhaltsanalyse, Ethnographie wird Online-Ethnographie,
Beobachtung bleibt Beobachtung, Fallstudie Fallstudie, wenn doch
online stets technisch vermittelt.
Auch in den Unterformen bleiben diese Methoden online und offline
sehr aehnlich. Beobachtungsformen zum Beispiel: Korrelative
Beobachtung offline entspricht Korrelativer Online-Beobachtung,
Naturalistische Beobachtung ist Lurkende Beobachtung, Verdeckte
Beobachtung entspricht gleichzeitiger Logfileanalyse. Bei
Web-Experimenten genauso: Feldexperimente werden zu verdeckten
Web-Experimenten (Haenze & Meyer, 1997), Laborexperimente
entsprechen offenen Web-Experimenten (Reips, 1995, 2000) - die
gleichen Versuchsplaene sind duchfuehrbar, im Web lediglich mit
geringerem Aufwand. Fuer die Vergleichbarkeit der Daten aus
Online- und Offline-Untersuchungen und damit der Aehnlichkeit der
verwendeten Methoden sprechen auch die Ergebnisse der Metaanalyse
von Krantz und Dalal (2000). Erst die technischen und
pragmatischen Eigenschaften der Online-Formen fuehren zu
Unterschieden, die es zu untersuchen gilt und in denen viele
Vorteile stecken (Reips, 2000), zum Beispiel der schnelle Zugang
zu vielen Personen, die Kostenersparnisse, die Vermeidung von
Versuchsleitereffekten, die Unabhaengigkeit von Zeit und Ort.

** Konsequenzen fuer den Wissenschaftsprozess

Die Online-Forschung kann nicht ohne Seitenblicke auf andere
wissenschaftliche Taetigkeiten betrachtet werden. Wer online
forscht, wird naturgemaess auch eher als Andere daran denken,
online zu publizieren (sic!) und das Internet stark fuer die
wissenschaftliche Kommunikation zu nutzen. Sogar die Beschaffung
von Forschungsmitteln (Deutsche Forschungsgemeinschaft, 2000;
Schweizerischer Nationalfonds, 2000), das Abhalten von
Konferenzen (Bremer & Fechter, 2000) und das Begutachten von
Forschungsarbeiten verlagert sich ins Netz. Insofern fuehrt
netzbasierte Forschung zu einer groesseren Integration der
Komponenten des Forschungsprozesses (Reips, 1997).

** Schlussfolgerung

Online-Forschung laesst sich unkompliziert in den vorhandenen
Methodenkanon einordnen und foerdert interdisziplinaeren
Austausch von Methodenwissen. Ihr bestimmendes Merkmal (der
Netzcharakter) und die resultierenden Eigenschaften bergen
Fehlerquellen bzw. Unterschiede zu traditionellen
Forschungsmethoden, mit denen sich ein Teil der Online-Forscher
beschaeftigt. Andere interessieren sich fuer die Auswirkungen des
Internet und seiner Dienste auf Verhalten und Gesellschaft oder
nutzen es einfach als eine Erweiterung ihrer Werkzeugkiste. In
jedem Falle ist Online-Forschung interdisziplinaer und
integrativ.

** Literatur

Bandilla, W. & Bosnjak, M. (im Druck). Online Surveys als
Herausforderung fuer die Umfrageforschung - Chancen und Probleme.

Berker, T. (1999). WWW-Nutzung an einer deutschen Hochschule -
Computer, Sex und eingefuehrte Namen. Ergebnisse einer
Protokolldateienanalyse. In B. Batinic, A. Werner, L. Graef, & W.
Bandilla (Hrsg.): Online Research: Methoden, Anwendungen und
Ergebnisse. Goettingen: Hogrefe.

Birnbaum, M. H. (1999). Testing critical properties of decision
making on the Internet. Psychological Science, 10, 399-407.

Bremer, C. & Fechter, M. (Hrsg.)(2000). Die Virtuelle Konferenz -
neue Moeglichkeiten fuer die politische Kommunikation:
Grundlagen, Techniken, Praxisbeispiele. Essen: Klartext.

Buck, H. (1999). Kommunikation in elektronischen
Diskussionsgruppen. Networx, Arbeiten im Netz zum Thema Sprache
und Internet, Nr. 11. [WWW document]. URL
http://www.websprache.uni-hannover.de/networx/docs/networx-11.pdf

Deutsche Forschungsgemeinschaft (2000, 1. Mai). DFG-Verzeichnis
der Merkblaetter und Vordrucke [WWW document]. URL
http://www.dfg.de/foerder/formulare/index.html

Haenze, M., & Meyer, H. A. (1997). Feldexperimente und
nicht-reaktive Messung im World Wide Web. In D. Janetzko, B.
Batinic, D. Schoder, M. Mattingley-Scott, & G. Strube (Hrsg.),
CAW-97. Beitraege zum Workshop Cognition & Web (S. 141-148).
Freiburg, Germany: IIG-Berichte 1/97.

Krantz, J. H. & Dalal, R. (2000). Validity of Web-based
psychological research. In M. H. Birnbaum (Ed.), Psychology
Experiments on the Internet. San Diego, CA: Academic Press.

Musch, J. & Klauer, K. C. (in press). Psychological experimenting
on the World-Wide Web: Investigating Content Effects in
Syllogistic Reasoning. In B. Batinic, U.-D. Reips & M. Bosnjak,
Online Social Sciences. Seattle: Hogrefe & Huber.

Nie, N. & Erbring, L. (2000, May 1). Internet and society: A
preliminary report [WWW document]. URL http://www.stanford.edu/
group/siqss/Press_Release/Preliminary_Report-4-21.pdf

Pfleiderer, R. (1997, November). Repraesentative Daten fuer
Web-Sites: Nth Viz. Vortrag auf der 1. German Online Research
Konferenz, Koeln. URL des Abstract:
http://infosoc.uni-koeln.de/girlws/abstracts/fr_05.html

Polkehn, K. & Wandke, H. (1999). Web-unterstuetztes
Experimentieren: Das Netz im Labor? In U.-D. Reips, B. Batinic,
W. Bandilla, M. Bosnjak, L. Graef, K. Moser, & A. Werner
(Eds./Hrsg.), Current Internet science - trends, techniques,
results. Aktuelle Online Forschung - Trends, Techniken,
Ergebnisse. Zuerich: Online Press. [WWW document]. URL:
http://dgof.de/tband99/

Reips, U.-D. (1995). Methodisches zu Web-Experimenten [WWW
document]. URL
http://www.psych.unizh.ch/genpsy/Ulf/Lab/WWWExpMethode.html

Reips, U.-D. (1997). Forschen im Jahr 2007: Integration von
Web-Experimentieren, Online-Publizieren und
Multimedia-Kommunikation. In D. Janetzko, B. Batinic, D. Schoder,
M. Mattingley-Scott, & G. Strube (Hrsg.), CAW-97. Beitraege zum
Workshop Cognition & Web (S. 141-148). Freiburg, Germany:
IIG-Berichte 1/97. URL
http://www.psych.unizh.ch/genpsy/reips/papers/CAW97Paper.html

Reips, U.-D. (2000). The Web experiment method: Advantages,
disadvantages, and solutions. In M. H. Birnbaum (Ed.), Psychology
experiments on the Internet. San Diego, CA: Academic Press.

Schweizerischer Nationalfonds (2000, 1. Mai). Schweiz.
Nationalfonds - Service [WWW document]. URL
http://www.snf.ch/Serviceframeset_d.html

Utz, S. (1996). Kommunikationsstrukturen und
Persoenlichkeitsaspekte bei MUD-Nutzern [WWW document]. URL http:
//www.tu-chemnitz.de/phil/psych/professuren/sozpsy/Mitarbeiter/Ut
z/Diplom1.htm

Van Alstyne, M. & Brynjolfsson, E. (1996). Wider access and
narrower focus: Could the Internet balkanize science? Science,
274/5291.

Wenzel, O. (1999). Re: [gir-l] Klassifikation der
Online-Nutzungsforschung. Mailingliste: gir-l@dgof.de (99-12-08).


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Irgendetwasbesonderes

-> Buchprojekt ´Online Social Sciences´
http://www.or.zuma-mannheim.de/oss/

-> Portalsite zur Online Forschung
http://www.online-forschung.de

-> Marktforschungstudien ueber das Internet
http://www.wuv.de/studien/overview.html

-> Ein fuer den privaten Gebrauch kostenloses ´Multimedia-
Betriebssystem´ ... und das ohne Pinguin drauf ...
http://free.be.com


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Internet-Umfragen-Newsletter
gemeinschaftlich herausgegeben von der
Arbeitsgruppe OnlineResearch des
Zentrums fuer Umfragen, Methoden und Analysen in Mannheim
(or.newsletter@zuma-mannheim.de)
und Dipl.-Psych. Bernad Batinic, Universitaet Erlangen-Nuernberg
(bernad.batinic@wiso.uni-erlangen.de).

Autoren dieses Newsletters:
Dr. Ulf-Dietrich Reips
Dipl.-Psych. Michael Bosnjak
Dipl.-Psych. Bernad Batinic

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