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Schulden machen im 20. Jahrhundert

Ein wissenschaftliches Netzwerk mit Beteiligung der Konstanzer Wirtschaftshistorikerin und Juniorprofessorin Dr. Julia Rischbieter untersucht die Bedeutung und die Folgen von Staatsverschuldung anhand konkreter Handlungsweisen von Akteuren.

Die ehemalige Oberbürgermeisterin von Pforzheim und ihre damalige Kämmererin wurden im November 2017 wegen Untreue zu Haftstrafen verurteilt. Sie hatten in den Jahren vor der Finanzkrise mit riskanten Finanzgeschäften versucht, die Zinslast der Stadt zu drücken und dabei gleich auch den städtischen Haushalt auszugleichen. Mit solchem Finanzgebaren waren sie nicht allein: Hunderte von Kommunen bundesweit versuchten zu jener Zeit, sich mithilfe solcher auch als „Casino-Kapitalismus“ geschmähter Finanzinstrumente mit einem Schlag zu sanieren. Herauskamen im Pforzheimer Fall über 50 Millionen Euro Schulden.

Wie konnte es zu solch riskanter Entscheidungen leitender Angestellter kommen? Die Juniorprofessorin Dr. Julia Rischbieter führt diese Fälle finanzwirtschaftlichen Versagens als Beispiel an für das Forschungsfeld des neuen Wissenschaftlichen Netzwerks „Schulden machen. Praxeologie der Staatsverschuldung im langen 20. Jahrhundert“. Die Wissenschaftshistorikerin an der Universität Konstanz ist gemeinsam mit der Historikerin Dr. Stefanie Middendorf von der Universität Halle-Wittenberg die erfolgreiche Antragstellerin des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts aus insgesamt zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz.

Was war Staatsverschuldung in der Geschichte jeweils, und welche Folgen hatte staatliches Schuldenmanagement zu unterschiedlichen Zeiten? Die Forschung des Netzwerkes bringt ihre Fragestellung in Zusammenhang mit konkreten Handlungsweisen und Akteuren. Nicht ökonomische Modelle und statistischen Zeitreihen bilden die Forschungsgrundlage, sondern Entscheidungen von konkreten Menschen in konkreten Situationen. So werden besagte Kämmerer im Rahmen eines der beteiligten Projekte nach dem Umständen befragt, die zur Entscheidung für die Wettgeschäfte führten. „Es sind die Handlungsbedingungen des Schuldenmachens, die die gesellschaftlichen Konsequenzen von Staatsverschuldung wesentlich bestimmen“, sagt Julia Rischbieter.

Die Erforschung der sozialen und politischen Ursachen für die Entwicklung der Staatsverschuldung in der Moderne wird unter den unterschiedlichsten Perspektiven stehen. Julia Rischbieter bringt ihre Forschung zur Internationalen Regulierung von Staatsverschuldungskrisen ein. Stefanie Middendorfs Forschungsgebiet umfasst die deutsche Haushalts- und Schuldenpolitik im 20. Jahrhundert. Andere Projekte arbeiten zur schweizerischen Steuerpolitik im internationalen Kontext, zum Verhältnis von Bankern und Regulatoren im Zuge der Finanzmarktregulierung im 20. Jahrhundert oder zur Kulturgeschichte der Steuermoral.

Das Netzwerk, das von der DFG vom Frühjahr 2018 an für insgesamt sechs Kolloquien über drei Jahre hinweg 50.000 Euro erhält, arbeitet interdisziplinär an der Schnittstelle zwischen geschichts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven. In dieser „Nahsicht auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Staatsverschuldung“ im 20. Jahrhundert wird das Phänomen des Schuldenmachens in seiner ganzen Komplexität und auch Widersprüchlichkeit analysiert. Ziel ist, den Prozesscharakter und historischen Wandel des Umgangs mit öffentlichen Schulden zu erklären, so etwa auch aufzuzeigen, wie sich grundsätzliche Prinzipien internationaler Schuldenwirtschaft – insbesondere von Zahlungsverpflichtungen – im Laufe der Zeit änderten.

Das Netzwerk wird zum Abschluss eine deutschsprachige Textsammlung mit Beiträgen ihrer Mitglieder zur Verfügung stellen. Damit soll zum einen eine interdisziplinäre Debatte angestoßen werden. Zum anderen soll die Thematik einem breiteren Publikum innerhalb der Geschichtswissenschaft und in der universitären Lehre zugänglich gemacht werden.

Faktenübersicht:

  • Projekt „Schulden machen. Praxeologie der Staatsverschuldung im langen 20. Jahrhundert“
  • Als Wissenschaftliches Netzwerk mit 50.000 Euro durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert
  • Antragstellerinnen Dr. Stefanie Middendorf, Universität Halle-Wittenberg, und Juniorprofessorin Dr. Julia Rischbieter, Universität Konstanz
  •  Zwölf Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz an der Schnittstelle zwischen geschichts-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven
  • Förderdauer von Frühjahr 2018 bis Frühjahr 2021