Prof. Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann

Das Thema Gemeinsinn spielt auf ganz unterschiedlichen Ebenen eine Rolle. Welcher Gemeinsinn hält zum Beispiel die goldenen Sterne auf der blauen europäischen Fahne zusammen, die in einem makellosen Kreis so zuverlässig wie Zahlen auf dem Zifferblatt einer Uhr angeordnet sind? In ihrem Buch Der europäische Traum (2018, 2020) hat Prof. Dr. Aleida Assmann sich diese Frage gestellt und mit vier Lehren beantwortet, die die europäischen Staaten aus der Geschichte gezogen haben: das Friedensprojekt, das Demokratisierungsprojekt, eine selbstkritische Erinnerungskultur und die Aktualisierung der Menschenrechte. Diese Lehren, die in Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte nach 1945 errungen wurden, dienen weiterhin als Orientierung für die Zukunft. Sie sind der Maßstab, an dem sich die europäischen Staaten in ihren ökonomischen Verteilungskämpfen und in Prozessen der Entdemokratisierung messen lassen müssen. 

Während es ganze Bibliotheken zum Thema Menschenrechte gibt, gibt es bisher noch nichts zum Thema Menschenpflichten. In ihrem Buch Menschenrechte und Menschenpflichten (2018) rekonstruiert sie ein uraltes aber bislang unbeachtet gebliebenes Weltkulturerbe. Diese Geschichte des Gemeinsinns basiert auf den Regeln eines friedlichen Zusammenlebens und dem Respekt gegenüber dem Anderen; sie ist Jahrtausende alt und in allen Kulturen und Religionen der Welt verbreitet. Ihr Leitsatz ist die goldene Regel: ‚Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu‘. Diese seit der Antike meist unter dem Namen ‚Weisheit‘ überlieferten Grundsätze sind ein ABC des Gemeinsinns ist eine wichtige lebenspraktische Ergänzung zu den Menschenrechten.

In ihrem aktuellen BuchDie Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten, warum wir sie brauchen geht es um die Wiederaneignung des Begriffs der Nation, der aus dem akademischen Diskurs weitgehend verschwunden ist, weil ihn kosmopolitisch orientierte Modernisierungs- und Globalisierungstheoretiker wie Ulrich Beck für obsolet hielten und die Formel ‚methodischer Nationalismus‘ zu einem Schimpfwort wurde. Auf der Ebene der Nation finden jedoch gegenwärtig die erbittertsten Kämpfe um Gemeinsinn statt. Hier gibt es tiefe Gräben und Bruchlinien nicht nur durch ökonomische Ungleichheit und zunehmende Migration, sondern auch durch Identitätspolitiken, neuen Nationalismus und rassistische Praktiken. Dabei steht auch die Geschichte der Nation auf dem Prüfstein, wie der aktuelle Sturz kolonialer Denkmäler zeigt. 

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