Programm und Ziele des
Forschungsprojekts (Kurzfassung)
1. Zusammenfassung
In vielen kulturwissenschaftlich
relevanten Theorien des 20. Jahrhunderts spielen Dreierkonstellationen
eine auffallende Rolle. Das Spektrum reicht von der soziologischen Arithmetik
Georg Simmels und von der Psychoanalyse als Theorie affektiver Triangulierungen
bis zu den Differenztheorien der neuesten Zeit (Luhmann, Derrida, Serres),
die auf epistemologischem Niveau dritte Größen einführen, durch die gängige
dichotomische Unterscheidungs- und Ordnungsschemata unterlaufen werden.
Die gender-Theorie verwendet zur Überwindung der Geschlechterpolarität
den Begriff des dritten Geschlechts, während Konzepte von third space
und kultureller Hybridität durch die Debatte um Postkolonialismus und
Globalisierung Aktualität erlangt haben. Trotz unterschiedlicher Kontexte
zeichnet sich dabei eine allen Ausprägungen gemeinsame Doppelkonditionierung
des Dritten ab. Er ist ein Zwitterwesen, das ebenso trennt wie verbindet,
sowohl als Störer wie als Mittler fungiert und dadurch gleichermaßen aus
der Ordnung ausgeschlossen wie in sie eingeschlossen ist - eine Charakteristik,
die es erlaubt, von der Figur des Dritten zu sprechen.
Die Literatur ist mit diesem Phänomen auf doppelte Weise befaßt. Zum einen
hat sie es seit jeher mit dem zweideutigen Personal von Rivalen, Boten,
Dolmetschern sowie mit dem weiten Feld sprachlicher Techniken des Sowohl-als-auch,
der Ambivalenz und Paradoxierung zu tun und läßt sich deshalb im Hinblick
auf eine historische Semantik der Figurationen des Dritten befragen. Im
Weiteren treten jedoch die subversiven Effekte, die durch Intervention
dritter Instanzen hervorgebracht werden, auch in außerliterarischen Wissensordnungen
auf. Sie legen generelle Mechanismen der kulturellen Semiosis frei, die
mit dem Instrumentarium der Literaturwissenschaft untersucht werden können.
Das Thema verbindet also zwei Dimensionen: das Studium entsprechender
literarischer Narrative leitet dazu an, den kulturellen Umgang mit kategorialen
Zwischenzonen und Mischformen überhaupt einer rhetorisch-narratologischen
Analyse zu unterziehen.
Das geplante Kolleg ist durch Kooperationen mit den Universitäten Zürich,
Basel, der Johns Hopkins University und der University of Chicago international
ausgerichtet. Es soll die Graduierten von der Basis literaturwissenschaftlicher
Themenstellungen aus in Zusammenhänge einer kulturtheoretischen Grundlagenforschung
einführen. Das schließt eine disziplinär fundierte Transdisziplinarität
ein. Sie dient dem Ziel, über die Stammkompetenz der beteiligten Fächer
hinaus die Funktionsweise kultureller Codes in der Wissensgesellschaft
zu reflektieren.
2. Forschungsprogamm
2.1 Übersicht
Auf der Bühne der Epistemologie
ist es im 20. Jahrhundert zu einer signifikanten Umbesetzung gekommen.
Ins Rampenlicht der Theoriebildung tritt eine Gestalt, die bis dahin weitgehend
zu einer Existenz off stage verurteilt war. Wenn überhaupt, dann
durfte sie nur kurze Gastspiele geben, die meist mit einem Eklat endeten.
Das hat sich geändert, seit neue Theorien den Spielplan bestimmen. Aus
dem einstigen Spukwesen ist eine Schlüsselfigur geworden, die zwar ihren
Mitspielern nicht ganz geheuer ist, aber von ihnen nichtsdestoweniger
auf fast ehrerbietige Weise anerkannt wird.
Es handelt sich um die Figur des Dritten. Während die klassische
abendländische Episteme binär organisiert war und das Dritte regulär nur
in der Form des Übergangs oder der Verbindung zu höherer Einheit zu denken
vermochte - und nicht als Größe, die neben den beiden Termen dualistischer
Semantiken vom Typ wahr/falsch, Geist/Materie, Gott/Welt, gut/böse, Kultur/Natur,
innen/außen, eigen/fremd bestehen bleibt -, räumen alle neueren Theorien,
die sich auf der Ebene der kulturellen Semiosis bewegen, der Instanz des
Dritten eine entscheidende Rolle ein. Das gilt für den Begriff des Parasiten
bei Michel Serres; für die Einführung dritter, den Binarismus der Metaphysik
unterwandernder Größen in der Dekonstruktion (différance, Spiel usw.);
für Niklas Luhmann und seine kybernetische Systemlogik, die in Erweiterung
oder gar Überwindung der aristotelischen Logik ein "tertium datur" zu
denken versucht und auf diese Weise einen neuen Umgang mit systemischen
'Fehlermeldungen' (Paradoxie, Tautologie) ermöglicht.
Dieser epistemologische Regiewechsel erfaßt auch auf weniger abstraktem
Niveau die kurrenten Theorien des Psychischen und Sozialen. Denn auch
die Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen ist nicht mehr aus Gegensätzen
und der Dynamik ihrer Schlichtung, sondern aus persistenten, in keine
Einheit rückführbaren, sich vielmehr selbstähnlich fortpflanzenden oder
multiplizierenden Dreiecken zusammengebaut. Und auch hier gilt, daß der
Dämon der alten Welt der Heros der neuen ist - was nicht bedeutet, daß
man seine dämonischen Ursprünge vergißt. Die Störfaktoren von gestern
haben sich in soziale Operatoren von heute verwandelt.
Die Liste der neuen Protagonisten ist lang. So wurde der Trickster,
jener unzuverlässige, listige, teils bösartige und teils schelmische Doppelagent
zwischen zwei Welten, den jedes einigermaßen geordnete Götterregiment
auszuschalten versuchte, inzwischen zur Ikone des Interkulturalitätsparadigmas
erhoben. Der Bote, der sich eigenmächtig verhält und sich dadurch
als verfälschenden Dritten zwischen Absender und Empfänger ins Spiel bringt,
hat einen Ehrenplatz in den gängigen Medientheorien erhalten. Der Dolmetscher,
dessen Übersetzungen auf ihrem Eigensinn insistieren und dadurch die intendierte
Verständigung gefährden, kann sich mittlerweile zur Avantgarde der Sprachtheorie
zählen. Und schließlich hat der Rivale, der seit jeher das Duett
der Liebenden in Mißklang versetzte und dafür zumeist mit dem Leben bezahlte,
die Schlüsselrolle in den Theorien des Begehrens eingenommen. Kein Liebesbündnis
und kein erotisches Begehren, die nicht in einer triangulären Dynamik
prozessiert würden, in der die Figur des Nebenbuhlers die Hauptrolle spielt.
Die Psychoanalyse wird inzwischen in Richtung auf eine allgemeine Theorie
der Triangulierung weitergeschrieben; und mit René Girard ist der Rivale
ins Zentrum der sozialanthropologischen Modellbildung getreten.
Girard deutet mit seinem ersten, inzwischen ins Deutsche übersetzten Buch
'Mensonge romantique et vérité romanesque' (Paris 1961) auf die literarische
Genealogie einer solchen Logik des Dritten hin. In der Tat ist die
Affinität dieses die großen Systematiken verunreinigenden Zwitterwesens
zu literarisch-künstlerischen Darstellungsweisen augenfällig. Das liegt
zum einen daran, daß an den Rändern des systematisierten Wissens die Übergänge
zwischen diskursivem und narrativem Sprechen fließend werden. Zum anderen
wohnt triangulären Konstellationen aller Art seit jeher eine beträchtliche
poetische Produktivität inne. Die Literaturgeschichte verfügt über
einen eigenen, reichen Erfahrungsschatz im Umgang mit komplexen triadischen
Strukturen, was seit jeher andere Wissensfelder, die den epistemologischen
Irritationen dritter Instanzen der Ordnung/Unordnung ausgesetzt sind,
zum 'Import' ihrer sprachlich-erzählerischen Verfahren veranlaßte. Entsprechend
sind hier auch die Analyseverfahren der Literaturwissenschaft gefordert.
Wie in der Theorie ist in der Literatur der/die/das Dritte eine sowohl
produktive als auch prekäre Figur. Sie eignet sich deshalb in besonderem
Maß als Kategorie einer einläßlichen Rekonstruktion von Begehrens- und
Übertragungsbeziehungen innerhalb von Erzählwerken und Dramen. Dies hat
in epochenübergreifender, komparatistischer Perspektive zu geschehen.
Die Untersuchung literarischer bzw. bild- und medienästhetischer Dreierkonstellationen,
die nicht nur die Handlungsebene, sondern auch Struktur und mediale Verfaßtheit
von Kunstwerken einbezieht, wird den Arbeitsschwerpunkt des geplanten
Graduiertenkollegs bilden. Sie soll der Ausbildung einer textanalytischen
Kernkompetenz und damit eines methodischen Instrumentariums dienen, die
sodann auf allgemeinere kultursemiologische Zusammenhänge anwendbar sind.
2.2 Epistemologie. Historische
Semantik des Dritten
Differenztheoretisch
entstehen 'Effekte des Dritten' immer dann, wenn intellektuelle Operationen
nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren,
sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem
wird. Zu den jeweils unterschiedenen Größen tritt die Tatsache der Unterscheidung
wie ein Drittes hinzu, das keine eigene Position innehat, aber die Positionen
auf beiden Seiten der Unterscheidung ins Verhältnis setzt, indem sie sie
zugleich verbindet und trennt - ein Drittes, das binäre Codierungen allererst
möglich macht, während es selbst als konstituierender Mechanismus gewöhnlich
im Verborgenen bleibt.
Als Arbeitshypothese soll gelten, daß diese Wendung der Perspektive auf
das konstituierende Dritte 'zwischen' binär aufeinander bezogenen Größen,
mit anderen Worten: die Problematisierung der Unterscheidung als Unterscheidung,
ein Phänomen darstellt, das in der Moderne besonders vordringlich geworden
ist. Systemtheoretisch gesprochen geht es hier um Beobachtung zweiter
Ordnung, das heißt um die Beobachtung von Beobachtungsweisen, die auch
in den Periodisierungen der Luhmann-Schule ein Charakteristikum der Moderne
darstellt. Das bedeutet keineswegs, daß nicht auch vormoderne Semantiken
eine hohe Sensibilität für die Paradoxieanfälligkeit binärer Ordnungen,
für Probleme der Grenzziehung, des Übergangs und der Vermischung zwischen
opponierenden Bedeutungsfeldern besaßen. Indessen ist ihr allgemeiner,
sozusagen offizieller Integrationsmodus von einer Art gewesen, die das
Problem des Dritten im differenztheoretischen Sinn - als Eingeschlossenes/Ausgeschlossenes
der Unterscheidung - nicht im gleichen Ausmaß aufgeworfen zu haben scheint.
Traditionelle duale Semantiken gewährleisten die Einheit ihrer Unterscheidungen
dadurch, daß jeweils eine Seite das Ganze mitrepräsentiert: die scheinbare
Parität zwischen den Gegensätzen (die auf Unentscheidbarkeit hinauslaufen
würde) wird von einer funktionellen Asymmetrie durchbrochen, insofern
einer der beiden Werte als großer Term figuriert, der den anderen, kleinen
Term, dem er gegenübersteht, zugleich auch umschließt.
So tritt in theologischer Perspektive Gott als Schöpfer der Welt aus sich
heraus und schafft damit allererst die Möglichkeit zur Differenz, das
heißt zum Entstehen diskreter Wesenheiten; aber die Spaltung zwischen
Schöpfer und Schöpfung ist in der Universalität Gottes zugleich von Anbeginn
aufgehoben. Entsprechend beruhen die klassischen Morallehren darauf, daß
der Gegensatz und die wechselseitige Relativierung von gut und böse ihrerseits
eingefaßt sind in einer guten und ordnungsgemäßen Einrichtung der Welt,
auf die das Handeln des Menschen normativ verpflichtet werden kann. Auf
gleiche Weise stellen metaphysische Systeme die Einheit der Welt sicher,
indem sie in ihren begrifflichen Dualitäten jeweils einen Term privilegieren
- etwa den Geist, der seinen Gegensatz, die Materie, umgreift und so die
Welt davor bewahrt, manichäisch in zwei unversöhnliche Gegenkräfte zu
zerfallen. Noch die Dialektik des deutschen Idealismus begreift Differenz
als Ausfaltung einer (vorgängigen) Einheit, die in einer der beiden Seiten
des dialektischen Widerspruchs - Vernunft, Ich, Subjekt - potentiell schon
enthalten ist und sich nach Durchlaufen eines geistigen bzw. weltgeschichtlichen
Aneignungsprozesses in actu vollzieht. Politisch virulent werden solche
Formen konfliktueller Einheitsstiftung spätestens dann, wenn sie auf die
Differenz Eigenes/Fremdes Anwendung finden. Die kulturelle Konfrontation
zwischen Europa und der nichteuropäischen Welt waren nach diesem Schema
modelliert, das sich im Kolonialdiskurs, angefangen von der christlichen
Missionierung bis hin zu noch heute anhängigen normativen Vorstellungen
von Zivilisation und 'Entwicklung', manifestierte.
Eine Semantik, die dem heterarchischen und polyzentrischen Charakter moderner
Gesellschaften Rechnung trägt, kann nicht mehr auf solchen hegemonialen
Unifizierungen aufbauen. Hält sie am Grundmuster binärer Codierung fest,
so wird es ihr doch unmöglich, zwischen dem einen Term der jeweils getroffenen
Unterscheidung und der Einheit der Unterscheidung ein Verhältnis der Synekdoche
zu konstruieren. Damit ist das herkömmliche Schema der Inklusion der Teile
ins Ganze überhaupt außer Geltung gesetzt. Umso schärfer stellt sich nun
die Frage nach dem konstituierenden, sowohl verbindenden wie trennenden
Dritten der Zweiheit.
Die alteuropäische Semantik hatte mit ihren Dualismen stets eine hochelaborierte
Metaphysik der Dreizahl mitgeführt: vom christlichen Dogma der Trinität
bis hin zu den neuplatonischen Triaden, die in der Renaissance wieder
zu großer Bedeutung gelangen [Samsonow]. In dieser Zahlensymbolik war
die Dreizahl gewöhnlich dazu ausersehen, die Entzweiung der Welt zu überwinden
und eine als vorgängig verstandene Einheit restituieren. Das gilt ebenso
für die Dreischrittmodelle, die von der Aufklärung bis zum Marxismus in
zeitlicher Extension, nämlich geschichtsphilosophisch, grundlegend sind.
Daneben gab es das Dritte durchaus auch als Kategorie einer kritischen,
die Ordnung der Welt bedrohenden Größe: überall dort, wo Mischungen und
Bastardisierungen binärer Zurechnungskategorien, groteske Mißbildungen,
monströse Zwittergeschöpfe und -welten auf den Plan traten. Bestimmte
Strömungen und Epochen, insbesondere der europäische Manierismus, scheinen
geradezu davon besessen, die Organisationskraft dualistischer Begriffs-
und Wertordnungen durch Konstruktion 'dritter Fälle' an ihre Grenze und
darüber hinauszutreiben.
Alles in allem jedoch blieben dies Ausnahmen in einem Universum von Regeln,
das in seinem Bestand nicht oder nur sporadisch-krisenweise gefährdet
war. Abweichend verhält es sich mit den Denkweisen des Dritten, die das
20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Hier wird der Ausnahmezustand gewissermaßen
auf Dauer gestellt. Wenn in der Begegnung zweier Parteien keine von beiden
Seiten einen hegemonialen Anspruch mehr geltend machen kann - einen Anspruch,
der das Andere in das Eigene zurückführt und den Gegensatz als Derivat
einer übergreifenden Ordnung ansieht, die mit der eigenen übereinstimmt
- dann ist eine neue Grammatik kultureller und epistemologischer Verhandlungen
notwendig, die mit herkömmlichen Mitteln nicht zu gewinnen ist. Daß der
'epistemologische Ausnahmezustand', den das späte 20. Jahrhundert ausgerufen
hat, nicht als bloßes Durchgangsstadium von einer identitären Ordnung
zur anderen aufgefaßt werden kann, kann ein semantikgeschichtlicher Vergleich
zeigen. Während neuzeitliche Kategorien wie Monstrosität oder Groteske
ihren Sinn oder Unsinn daher beziehen, daß sie aus der Ordnung der Dinge
ausscheren (in Form taxonomischer Verwirrung oder eines karnevalesken
Zwischenspiels), ist das etymologisch ja verwandte Konzept der Hybridität,
wie es heute weltweit diskutiert wird, ganz anders geartet: es versteht
'Zwischen-Sein' auf allen soziokulturellen Ebenen als Signum einer paradoxen,
weil nicht mehr normierbaren 'Normalität' der (Post-)Moderne.
Wie grundlegend dieser Wandel ist, läßt der Abstraktions- und Komplexitätsgrad
der theoretischen Modelle erkennen, die so etwas wie eine transbinäre
Grammatik dritter Räume zu entwerfen versuchen. Es gibt Grund zu der Vermutung,
daß die entscheidende epistemologische Bruchlinie, was die deutsche Philosophiegeschichte
betrifft, irgendwo zwischen Hegel und Marx einerseits, Kierkegaard und
Nietzsche andererseits verläuft. Was den Umbau hierarchisch gestufter
Kategoriensysteme zu Modellen einer pluralen und heterarchischen Wissenslandschaft
betrifft, ist Wittengensteins Theorie des Sprachspiels zu nennen, auf
die Lyotard in seinem programmatischen Buch 'La condition postmoderne'
zurückgreift. Im angelsächsischen Raum kommen der Übersetzungstheorie
(Quine) und insbesondere Peirces Semiotik Bedeutung zu - Peirce hat man
ja unlängst sogar "Triadomania" vorgeworfen [Spinks 1991; vgl. Vortrag
Baltzer]. Peirces Quantorenlogik dürfte unter allen Entwürfen einer dreiwertigen
Logik derjenige sein, der sich am ehesten mit kulturwissenschaftlichen
Denkformen verbinden ließe. Im theoretischen Orbit des Poststrukturalismus
schließlich ist die Referenzdichte auf Figuren/Strukturen des Dritten
besonders hoch - angefangen von Lévinas' Meditationen über Alterität bis
hin zu den zahlreichen identitäts- und metaphysikkritischen Konzepten,
die derzeit die Methodenreflexion der Kulturwissenschaften beherrschen.
Es ist aber innovativer und wird das in der Thematik enthaltene Risiko
eines fruchtlosen Theorie-Selbstläufertums reduzieren, wenn man der Vielzahl
und den konkreten Gegebenheiten der epistemischen Regimes Rechnung trägt,
die gleichsam vom Gespenst des Dritten heimgesucht werden. Hier öffnet
sich das Thema einer wissenschaftsgeschichtlichen Bestandsaufnahme, die
trotz der Diversität der einzelnen Wissensmilieus vermutlich allenthalben
ganz ähnliche Probleme antreffen wird.
Von der Soziologie als einem sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstituierenden
Fach kann mit geringer Übertreibung gesagt werden, daß sie ihren Gegenstandsbereich
der Dreizahl verdankt. Gründungsurkunde der soziologischen Figur des Dritten
sind Georg Simmels 'Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung'
von 1908. Simmel sieht die Zweierbeziehung als vorsoziale Relation
an. Erst das Hinzutreten des Dritten läßt Gesellschaft als Gesellschaft
emergieren und setzt Prozesse sozialer Objektivation in Gang, die über
die Sphäre einer reziproken, jederzeit auf Personen zurechenbaren Interaktivität
hinausgehen. Auf Simmels Typologie des Dritten - er diskutiert den Unparteiischen,
den Vermittler, den tertium gaudens, das Prinzip des divide
et impera im Hinblick auf die "Zahlverhältnisse der Vergesellschaftung"
(Simmel 1908, S. 98) - greifen Studien zur Gruppen- und Familiensoziologie
[Allert 1998] und neuerdings mentalitätsgeschichtliche Arbeiten zurück
[Fett 2000].
Von besonderem Interesse sind Simmels 'Untersuchungen' jedoch nicht nur
wegen ihres inhaltlichen Ertrags, sondern weil sie sich als Text
in die Bewegung des Dritten verstricken, die sie zu beschreiben versuchen.
Während Simmel nämlich einerseits die Schwelle zum Sozialen als Schritt
von der Zwei- zur Dreizahl markiert, muß er andererseits einräumen, daß
die Ehe, die er als Prototyp der gesellschaftlich relevanten, aber eben
noch vorsozialen Zweierbeziehung ansieht, ihrerseits im Regelfall von
einem Dritten gestiftet wurde - eine Tatsache, die der Literatur eine
Fülle an Erzählanlässen geboten hat. Aus der Schwellenkonstruktion wird
auf diese Weise eine Zirkelstruktur, die den Dritten nur ableiten kann,
indem sie ihn bereits voraussetzt: ein Hinweis auf den irritierenden selbstinvolutiven
Charakter derartiger Triaden, der im Zusammenhang von Ursprungsnarrationen
immer wieder zutagetritt. Daß der Dritte nicht nur die gesellschaftliche,
sondern auch die logische Ordnung stört und daß eine entsprechende Theorie
es mit neuartigen Subversionspotentialen zu tun hat, die das eigene Theoriedesign
mitbetreffen, ist nicht die geringste Erkenntnis, die aus Michel Serres'
'Der Parasit' zu gewinnen ist. Dieses Buch führt - mit weit radikaleren
Ergebnissen - Simmels Ansatz weiter.
Auch für die Analyse affektiver Strukturen ist die Dreizahl wesentlich.
Die Psychoanalyse eröffnet eine Wissenschaftstradition, in der die menschliche
Ontogenese, insoweit sie den Bereich des Seelenlebens betrifft, als Resultat
von Triangulierungen erscheint. Während Freud sich mit der Konstruktion
des Ödipuskomplexes weitgehend auf den familialen Rahmen beschränkte,
hat René Girard als kritischer Freud-Leser den Mechanismus des mediated
desire zum affektiven Mechanismus der Soziogenese im ganzen erklärt
- nicht ohne die Freudsche Affektgrammatik umzukehren und zum Verfolgermythos
der Väter zu erklären, was bei Freud noch aggressives Begehren der Söhne
war, nämlich Inzest und Vatermord. Diese theoretische Bezugnahme und zugleich
Umkehrung macht auf exemplarische Art deutlich, daß Triangulierungen unruhige,
jederzeit affektiv umbesetzbare und hermeneutisch umdeutbare Formationen
darstellen, weil sie sich, je nach Perspektive, ihrerseits in drei gegenstrebige
2+1-Relationen auflösen lassen. Es dürfte kein Zufall sein, daß gerade
diese Unruhe zum Movens literarischer Experimentalanordnungen geworden
ist - in erotischen Dreiecksgeschichten, in den Familiendreiecken des
bürgerlichen Trauerspiels und nicht zuletzt etwa in den expressionistischen
Vatermord-Dramen, die den psychoanalytischen Ödipus-Mythos mit und gegen
Freud ausagieren. Inzwischen werden Überlegungen angestellt, die das trianguläre
Schema über die Ebene der Narration hinaus auf das Dreieck Text-Leser-Autor
ausdehnen [Bentz].
Wenn von der Figur des Dritten die Rede ist, dann ist - dies sollte deutlich
geworden sein - 'Figur' nicht in einem personalen Sinn zu verstehen. Zwar
mögen sich Figuren des Dritten in literarischen Helden inkorporieren,
aber noch grundsätzlicher geht es dabei um die Bildung grundlegender kognitiver,
affektiver und sozialer Strukturen. Es kennzeichnet derartige Strukturen,
daß sie nicht allein in sich unruhig sind, sondern auch auf Seiten des
Beobachters wandernde Blickpunkte und insofern eine nicht zu reduzierende
Mehrdeutigkeit erzwingen. Dieser Effekt der Polyvalenz und Polyglossie,
der sich im Zeichen des Dritten zuträgt, ist zumal in den Theorien des
ausgehenden 20. Jahrhunderts wichtig geworden. Wenn von Figur die
Rede ist, handelt es sich also immer auch um Figuration. Die aktuellen
Debatten um Konzepte wie third spaces (Homi Bhabha), um hybride
Kulturen (Elisabeth Bronfen), schließlich um die in den gender studies
entworfene Utopie des dritten Geschlechts deuten auf die Aktualität dieser
Figuration und öffnen den Figur-Begriff als solchen einer umfassenden
rhetorischen Analyse.
Thirdness und third space sind jedoch nicht nur politische
Phänomene, die sich aus anschwellenden Migrationsströmen, der damit verbundenen
Interkulturalitätsproblematik und der Auflösung nationalstaatlicher wie
ethnischer Identitätsbeglaubigungen im Zusammenhang der Globalisierung
ergeben. Auch die Rechtsentwicklung befindet sich in einer Phase, in der
durch die Auflösung nationalstaatlicher Rechtsnormenhierarchien bisher
verdeckte Paradoxien auftauchen und der "ausgeschlossene Dritte [...]
sich deutlich bemerkbar" macht [Teubner 1996, S. 236; vgl. Luhmann, 'Third
Question']. Das Recht reagiert darauf bezeichnenderweise mit Verfahren,
die dem Fundus der Rhetorik entstammen: durch Herstellung von Analogien,
dirty practices persuasiver Selbstvalidierungen, kühnen, wenngleich
bodenlosen als-ob-Konstruktionen, sprachlichen Dissimulationen und anderes
mehr.
Dieser Prozeß einer gewissermaßen unfreiwilligen Kulturalisierung streng
systematischer Lehrgebäude erfaßt inzwischen sogar die Selbstbeschreibung
der Naturwissenschaften, die bisher durch die Zwei-Kulturen-Lehre vor
derartigen Hybridformen gefeit schienen. Bruno Latour verbindet mit den
von ihm so genannten immutable mobiles eine Theorie des Transfers
zwischen unterschiedlichen Gegenstandswelten und Wissensordnungen [Latour].
Peter Galison entwickelt aus seinen Feldforschungen zur Kommunikation
zwischen naturwissenschaftlichen Labors das Konzept der trading zone,
eines dritten Bereichs an den Rändern und Übergängen der jeweiligen disziplinären
Systematiken, in dem Wissen unter selbst ad hoc erst noch zu verhandelnden
epistemologischen Konditionen ausgetauscht wird [Galison]. Dies sind nur
zwei Beispiele dafür, daß das Vokabular von displacement und Dislozierung,
Transposition und Translokalität wie überhaupt die Mode der Präfixe "trans",
"inter", "para" bzw. "par" die Geschichtsschreibung der Naturwissenschaften
infiltriert hat.
2.3 Narratologie
Der unter 2.2 abgeschrittene
Parcours berührt den genuinen Gegenstandsbereich der Literatur-, Kunst-
und Medienwissenschaften zum Teil nur mittelbar. Während soziale und emotionale
Dreiecke schon immer ein prominenter Gegenstand der Text- und Bildproduktion
waren und während der third space des Postkolonialismus eine reiche
Literatur hervorgebracht hat (auf diesem Gebiet wird eine Kooperation
mit dem Münchner Graduiertenkolleg 'Postcolonial Studies' angestrebt),
werden nicht viele künstlerische Werke zu finden sein, die sich etwa mit
den Besonderheiten postmoderner Laborkommunikationen und deren Hybridisierungseffekten
befassen - womit existierende Arbeiten, etwa die Videoinstallationen von
Matthew Barney, nicht marginalisiert werden sollen. Es liegt indessen
nicht in der Natur des Gegenstands, das analytische Interesse auf themenrelevante
Werke der Literatur- und Kunstgeschichte einzugrenzen. Im Gegenteil lädt
das Thema 'Figur des Dritten' dazu ein, sich durch kulturwissenschaftlich
informierte Lektüren Aufschluß über die mediale, textuelle und narratologische
Verfaßtheit auch nichtliterarischer Wissensformationen zu verschaffen
und auf diesem Weg einen Beitrag zu einer Forschungsrichtung zu leisten,
die sich - im Anschluß an die Diskursanalyse Foucaults - mit der "Poetologie
des Wissens", das heißt den po(i)etischen Bedingungen der Möglichkeit
von Wissen befaßt [Vogl].
Man muß sich nicht auf die Kultur-als-Text-Debatte (Clifford Geertz u.a.)
beziehen, um darauf aufmerksam zu werden, daß die Öffnung dritter, codetechnisch
nicht einheitlich zu regulierender Zwischenräume innerhalb und zwischen
verschiedensten Wissensgebieten Formen epistemologischer Improvisation
stimuliert, die sehr oft einen verkappt erzählerischen Charakter annehmen.
Läßt sich Kultur als ein Raum definieren, in dem nicht nur vielfältige
Kommunikationen stattfinden, sondern die Codes der Kommunikation
selbst Gegenstand von Verhandlungen sind, dann bilden die Zonen des Dritten,
die sich an den Geltungsgrenzen kultureller Normierungen bzw. wissenschaftlicher
Systematiken auftun, neuralgische Produktionsstätten der Kultur. Liegt
die spezifische Leistung von Texten darin, daß sie Komplexität selbst
unter Bedingungen diskursiver Mehrfachcodierungen, Mischformen, Hybridbildungen
zu organisieren vermögen, dann ist es lohnend, literaturwissenschaftliche
Verfahren auch außerhalb ihres angestammten Gegenstandsbereiches auf Knotenpunkte
gesellschaftlicher Textproduktion zu beziehen. Mit der 'Figur des Dritten'
kommen Mechanismen der kulturellen Codierung in den Blick, die, insofern
sie einen narrativen Kern in sich bergen, in die natürliche Zuständigkeit
einer genuin literarischen Analyse fallen. Während das Thema einerseits
fest in der literarischen Phänomenologie verankert ist und zum Gegenstand
minutiöser Literaturanalysen einlädt - weder das Romanwerk Goethes noch
die Inzest-Utopie, der sich Musils 'Mann ohne Eigenschaften' hingibt,
sind ohne Rücksicht auf solche ternäre Beziehungsprozesse adäquat zu verstehen
-, reicht sie andererseits ins Zentrum einer auf Fragen der sozialen
Intelligibilität gerichteten Kulturtheorie.
Auf vielen Feldern der sozialen Semantik werden ästhetische Motive in
Anspruch genommen, die eine vieldeutige dritte Größe ins Spiel bringen:
immer dort, wo von Schwellen, Ursprüngen, Enden und Grenzen die Rede ist
und sich mit der Bildung und Auflösung von Polaritäten vom Typ Innen/Außen,
Vorher/Nachher zugleich die Frage nach Vermittlern, diskursiven Doppelagenten
und Grenzposten stellt. Nicht zufällig wurde die Diskursanalyse in den
letzten Jahren durch den Begriff des trickster discourse angereichert
[Vizenor u.a.], um solchen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.
Mag der Trickster eine subversive Figur sein, so bringt doch auch das
Bedürfnis, gesellschaftliche Gegebenheiten politisch-juridisch zu legitimieren,
erzählerische Grenzgängerschaften hervor. Rousseaus 'Contrat social' etwa
ist ein Meisterstück der narrativen Bewältigung des streng logisch
nicht zu bewältigenden Problems, daß der Gesetzgeber, der den Übergang
der Menschheit vom Natur- zum Gesellschaftszustand bewerkstelligen soll,
seiner eigenen Zeit voraus sein muß, um dieses Amt zu erfüllen. Die Lehre
vom Gesellschaftsvertrag hat ohnehin eine ganze Serie von ausgeschlossenen/eingeschlossenen
Dritten avant la lettre hervorgebracht. In ihrer unmittelbaren
Nachbarschaft gilt Ähnliches für die regulativen Fiktionen der Politik.
Wie der Gesetzgeber ist der Souverän eine Figur des Dritten, insofern
er zugleich innerhalb und außerhalb der politischen Ordnung agiert - dem
Trickster nicht unähnlich, obwohl er doch eine vollkommen konträre Rolle
zu spielen hat. Eine politische Lektüre der europäischen Herrscherdramen
des 17. und 18. Jahrhunderts könnte zeigen, daß die Literatur auf diesem
Feld Paradoxien ausschreibt, die das zeitgenössische Rechts- und Staatsdenken
um seines Funktionierens willen kaschiert. Die Dichtung zeitigt hier gerade
kraft ihrer scheinbar funktionsentlasteten Fiktionalität einen Genauigkeitsgewinn,
der durch keine andere Textsorte zu erzielen ist. Das läßt erwarten, daß
eine literaturwissenschaftlich armierte Textanalyse auch die sich vervielfältigenden
Fiktionalisierungseffekte heutiger sozialer Regelungssysteme aufzuspüren
vermag.
Mit der Rekonstruktion 'kryptoliterarischer' Textstrategien in nichtliterarischen
Diskursen ist jeweils nur der halbe Weg abgeschritten. Für die eigentlich
literaturwissenschaftliche Arbeit werden die ermittelten Befunde vor allem
dadurch belangvoll, daß sie sich wiederum auf die Lektüre poetischer Texte
zurückbeziehen lassen. Da die Poesie ihre Versuchsanordnungen vorzugsweise
über Situationen epistemologischer Offenheit oder gar Unentscheidbarkeit
errichtet, kann der Blick auf fiktionale Strukturen durch die Erfahrungen
mit jener gewissermaßen unfreiwilligen Literarizität innerhalb von Funktionsdiskursen
geschärft werden. Man wird genauer als bisher auf die Probleme performativer
Selbstvalidierung, zirkulärer Beglaubigungsformen, auf Einschlüsse/Ausschlüsse
und andere 'Infektionsherde' des Dritten in der Dichtung selbst aufmerksam
sein. Zwischen inner- und außerliterarischen Narrativen findet also ein
Austausch in beiden Richtungen statt. Wenn Michel Serres seine Theorie
des Parasiten, die auch eine Wirtschafts- und Geldtheorie ist, aus einer
(eigenwilligen) Interpretation der Fabeln Lafontaines entwickelt, dann
eignet sich umgekehrt der Begriff des Parasiten dazu, der Symbolökonomie
von Dichtungen neue Aspekte abzugewinnen. Weitgehender noch haben Kategorien
der Dekonstruktion, die im Rahmen einer philosophischen Kritik an metaphysischen
Binarismen entwickelt wurden, auf das tiefere Verständnis poetischer Zeichenprozesse
zurückgewirkt. Schwelle, Liminalität, rite de passage, Hybridisierung,
Mittler, Trickster schließlich sind umlaufende Stichworte, die im Dreieck
zwischen Ethnologie, Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften und literarischer
Erzähltechnik vielfache Resonanzen erzeugen. Hier kann eine teilweise
out of area operierende Literaturwissenschaft ihre ureigenen analytischen
Instrumente in verfremdetem Licht wiederfinden.
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