Aleida Assmann

Gemeinsinn fördern heißt in die Zukunft zu investieren 

Eine Veranstaltung am 2. Mai 2022 im Wolkensteinsaal in Konstanz

Die Schule als ein Lernort der Demokratie hat mich schon immer fasziniert. Während meiner Schulzeit hatte ich eine sehr konkrete Vorstellung davon, als ich ein Jahr als Austauschschülerin an einer kalifornischen High-School verbrachte. Vieles lief da ganz anders. Es begann mit dem täglichen Eid auf die Fahne – eine für mich als Deutsche absolut exotische Praxis. In den USA dagegen verband dieser Ritus Schüler:innen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe. Die Schule führte auch unterschiedliche soziale Schichten und Bildungsniveaus zusammen: jedes Fach wurde in drei Schwierigkeitsgraden unterrichtet. Man konnte zwischen dem allgemeinen Standard, etwas einfacher oder anspruchsvoll wählen. Die Schule war aber nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch ein Ort der Freizeitgestaltung. Freitag Abends fanden organisierte Parties in der Turnhalle statt. Die Schule präsentierte sich übrigens wie ein Sportverein – es gab ein Wappen und feste Farben für Schals und Pullover. Und obendrein war die Schule auch ein Ort des Demokratielernens. Die Schülerselbstverwaltung kopierte das staatliche Parlament im Kleinen. Man übte sich in der Kunst des freien Sprechens und Argumentierens und lernte nebenbei die Grundregeln politischer Kommunikation: Wie werden Abstimmungen durchgeführt? wie schreibt man ein Protokoll? Wie organisiert man Wahlen?

Seit Anfang 2020 unterstützt die Dr. K. H. Eberle Stiftung an der Universität Konstanz ein Forschungsprojekt zum Thema ‚Gemeinsinn – was ihn bedroht und was man dafür tun kann‘, in dem ich mit einer Reihe von Kolleginnen zusammenarbeite. Dass man an Schulen Entscheidendes dafür tun kann, habe ich von Günther Hennig, einem hoch engagierten und erfahrenen Pädagogen gelernt. Er hat das Konzept ‚Gemeinsam leben lernen‘ für die Schulpraxis entwickelt. Aus der langen Erfahrung dieser Zusammenarbeit ist inzwischen eine Publikation hervorgegangen, zu der unser Projekt auch beitragen durfte.  Das Buch heißt: Gemeinsinn in der Klasse schaffen und wurde am 2. Mai 2022 im Kulturzentrum Wessenberg in Konstanz von Eckhard Feige, einem langjährigen Weggefährten von Günther Hennig, vorgestellt. Feige hat unter anderem ein Zentrum für unterstützende Pädagogik geleitet und war bis vor Kurzem Leiter einer inklusiven Oberschule in Bremen.   

Über Jahre hinweg haben Günther Hennig und Eckhard Feige zusammen mit anderen Unterrichtsmaterialien für die Klassenstufen 1 bis 13 erarbeitet und sie dabei mit Lehrer:innen vor Ort im konkreten Arbeitsalltag beständig weiterentwickelt. Ihre Themenschwerpunkte sind soziales und interkulturelles Lernen, kooperatives Lernen und Elemente der Demokratiepädagogik. Das neue Buch setzt diese abstrakten Themen und Ziele in einzelne konkrete Lernschritte um. Denn es ist die Überzeugung der Autoren, dass Gemeinsinn eine Praxis ist, die jeder lernen kann, wenn sie regelmäßig wiederholt und eingeübt wird. Diese Praxis ist die Basis, auf der sich dann durch Erfahrung und Gewöhnung Fähigkeiten und Erfolge aufbauen können, die in eine soziale Haltung münden. Hier gilt: der Weg ist das Ziel. Das Buch bietet für den Unterricht im Jahrgang 5 insgesamt 144 Übungen; Lehrer:innen und Schüler:innen müssen sich im Durchgang durch diese spielerischen Übungen das Pensum gemeinsam und interaktiv erarbeiten. Eine praktische Probe solcher Übungen gab Eckhard Feige, als er das Publikum in Bewegung setzte und zu einem Kennenlern-Spiel mit ‚speed-dating‘ aufforderte.

„Um ein Kind zu erziehen braucht es ein ganzes Dorf.“ Dieses afrikanische Sprichwort ist das Motto, das im Aufbau des Buches bildlich umgesetzt und mit pointierten Illustrationen unterstützt wird. Das Lernen schreitet innerhalb eines imaginierten Dorfs von Haus zu Haus fort, wobei jedes für einen eigenen Themenkomplex mit konkreten Übungen steht. Um gemeinsam am Gemeinsinn zu arbeiten, werden die Schüler durch ein ‚Aktivheft‘ unterstützt, in dem sie selbständig arbeiten können, während ein Lehrerheft Aufgaben versammelt und Kopiervorlagen bereitstellt.

Das Projekt, Gemeinsinn in der Klasse zu schaffen, stellt Forderungen an eine Schule, die bereit sein muss, sich darauf einzulassen. Es braucht seinen Raum in der Schule und muss auch im Stundenplan regelmäßig mit einer Wochen-Stunde zu Buche schlagen. Darüber hinaus fordert es ein Lehrerkollegium dazu heraus, sich gemeinsam auf diese Aufgabe einzulassen und die Grundlagen des sozialen Lernens immer wieder in ihren Unterricht einzuschließen. Der Mehrwert dieses Aufwandes ist jedoch mit Händen zu greifen. Das soziale Lernen nimmt dem Fachunterricht nichts weg, sondern führt und hält die Klasse zusammen und macht sie dabei aufnahmebereiter für ihre Fächer.

Was den Schülerinnen auf diese Weise zusätzlich angeboten wird, ist etwas Unschätzbares, nämlich Persönlichkeitsbildung. Diese sollte bereits im Kindergarten beginnen und je kontinuierlicher die eine Stufe auf der anderen aufbauen kann, desto stabiler und nachhaltiger kann diese Bildung werden. Sie umfasst Eigenschaften wie Aufgeschlossenheit, Kontaktfreude, Zuwendung und Empathie, Selbstbewusstsein und Urteilsfähigkeit, Verantwortungsübernahme und Konfliktfähigkeit. Die Schule ist ja nicht nur ein Lernort, sondern auch der Ort des Wachsens und der Entfaltung individueller Persönlichkeiten.

Die Buchvorstellung wurde von zwei weiteren Programmpunkten gerahmt. In einem Kurzvortrag fasste Steffen Mingenbach aus dem Bildungsbüro der StädeRegion Aachen die Ergebnisse seiner soeben abgeschlossenen Dissertation über „Demokratiezufriedenheit unter Schüler:innen in Zeiten von Corona“ zusammen. Auch er betonte die Bedeutung der Persönlichkeitsbildung und unterstützte das Projekt Gemeinsinn an Schulen, das Schülern mit Lernproblemen in schwierigen Entwicklungsphasen mehr Raum gibt und Begleitung ermöglicht. Am Schluss der Veranstaltung stellte sich die neue Gemeinschaftsschule Gebhard in Konstanz vor. Mit ihrer Lehrerin Janine Firges hatte die Klasse 5d für unsere Veranstaltung einen Kurzfilm produziert, in dem sich Schüler:innen gegenseitig interviewen. Die Befragten zeigten einen hohen Grad an Gemeinschaftsschulzufriedenheit und bewiesen damit, dass der lange Vorlauf dieses einmaligen pädagogischen Experiments in Baden- Württemberg seine Früchte zeigt. Sie lobten den Unterricht, der in einem Klassenzimmer den Stoff auf verschiedenen Niveaus anbietet und damit zugleich einen Prozess des gegenseitigen Lernens und Lehrens in Gang setzt. Ebenso gut kam bei ihnen an, dass sie nicht mit Noten geplagt sind, ihre Hausaufgaben bereits in der Schule machen und ihre Lehrer als ‚Coach‘ und ‚Begleiter‘ anreden. Ob es denn irgendetwas gebe, womit sie nicht einverstanden sind? wurde auch gefragt. Hier wurde nur bemängelt, dass die Schule auf Campus A, B und C verteilt ist und man nicht immer alle seine Freunde um sich hat. Marcus Göbeler, der seit einem Jahrzehnt an der Entwicklung dieses Schultyps beteiligt ist, konnte aus seiner reichen Erfahrung berichten und bestätigen, dass die Gemeinsinn-Idee, die unser Projekt von Schulleitern aus dem Norden importiert hat, längst auch im Süden unseres Landes angekommen ist.  

So wie einst meine amerikanische Schule ein lebendiger Teil der amerikanischen Demokratie war, so sind heute die deutschen Schulklassen ein Spiegel der diversen Gesellschaft. In ihnen sind die Herausforderungen täglich spürbar, die mit Globalisierung und unaufhaltsamer Migration verbunden sind. In einer Zeit, in der Spannungen und Polarisierung zunehmen und der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist, ist die Pflege des sozialen Gemeinsinns wichtiger denn je, denn Achtung und Anerkennung der Mitmenschen ist das A und O des gemeinsamen Überlebens. In einer Klasse, in der Vertrauen und Selbstbewusstsein in täglicher Praxis aufgebaut wird, können sich Schüler:innen gegenseitig stärken. Dieses Selbstbewußtsein schafft auch Distanz gegenüber dem Dauerreiz digitaler Medien und  ist ein Schutz gegen Verführungen  politischer Ideologien der Stärke, die auf klare Feindbilder setzen. Gemeinsinn zu stärken heißt deshalb konkret, in junge Menschen und in die Zukunft zu investieren.  

Buch: Gemeinsam in der Klasse schaffen

Autoren: Günther Hennig, Eckhard Feige, Bianca Radimersky, Martin Anacker

Aktivheft für Schüler: Erforsche Dich und Deine Gedanken

Autoren: Marlene Assmann, Günther Hennig, Eckhard Feige, Valerie Assmann

Verlag: BurckhardtHaus- Verlag

Hier gelangen Sie zum Mitschnitt der Buchvorstellung.


Für Burak Yilmaz ist der Kampf gegen Judenhass eine „Ehrensache“

In Konstanz diskutiert der Pädagoge sowie Buchautor Burak Yilmaz im Rahmen des Gemeinsinn-Projektes mit zwei Schulklassen der Gebhard-Gemeinschaftsschule über das Thema Erinnerungsarbeit.  Der Titel seines Vortrages lautete „Erinnern an den Holocaust – was hat das mit mir zu tun?“.

Der Südkurierer berichtete am 09. Juni über die Veranstaltung. Hier gelangen Sie zum Online-Artikel.