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Manfred Weinberg & Martin Windisch
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Einleitung
Uwe Jochum
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Die Bibliothek als locus communis
Mit Leibniz beginnt in den Bibliotheken die lange Geschichte der Verdrängung rhetorischer Wissensordnungen zugunsten eines Kalküls, der die Elemente des Wissens berechenbar machen wollte und in der virtuellen Bibliothek realisiert scheint. Daß aber in den Datenbanken nichts Relevantes mehr gefunden werden kann, ist das Menetekel der seit Lcibniz betriebenen Verfahrenstechnik des Wissens, die uns in der Befreiung von Irrelevantem eine technisch verfügbare Präsenz des Wissens versprach. Nach ihrem Scheitern bleibt einzig der Rückgang auf rhetorische Ordnungen des Wissens, wie sie in den Bibliotheken immer schon aufgebaut wurden.
The displacement of the libraries’ old rhetorical order of knowledge with a calculus whose promises seem to be fulfilled in our modern ‘virtual’ libraries was initiated by Leibniz. But the portent is already visible today: instead of freeing us from redundant knowledge and giving us instant access to every truth, it is becoming more and more difficult to acquire relevant and reliable information. If the calculus is doomed to failure, the only key to solve the problems of information lies in the rhetorical order that libraries have always provided.
Wolfgang Ernst
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Zwischen Kunst und Archiv: Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg als Medienverbund
Sammeln — Speichern — Übertragen: In seinem Verbund von archivischem Gedächtnis, der Sammlung von Objekten und einer effektiven Bibliothek erfüllt das Projekt eines Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg seit Mitte des 19. Jh. die Kriterien eines Mediums im eigentlichen (kybernetischen) Sinn. Das Unternehmen des Freiherrn von Aufsess, ein General-Repertorium deutscher Kulturgeschichtsquellen bis 1600, zielte auf eine veritable Datenbank, die radikal das archäologische Artefakt (Schriftstück, Objekt) von seiner historischen Information trennt. Indem es virtuell Vannevar Bushs Entwurf eines Memory extender von 1945 vorwegnimmt, lädt das GNM zu einer Relektüre in Begriffen der Medientheorie, der materialen Diskursanalyse und der Dokumentations-wissenschaften ein, wobei das bibliothekarisch-museologisch-archivische Gedächtnis gleichzeitig die Bedingung und die Dekonstruktion des kollektiven, d.h. hier: versam-melnden Geschichtsbewußtseins darstellt.
Collecting — storing — editing: The nineteenth century project of a German national museum of cultural history (Germanisches Nationalmuseum) at Nuremberg, in its juncture of memory in the archives, of the collection of objects, and of the library, matches the criteria of a ‘medium’ in its proper (i.e. cybernetical) sense. The enterprise undertaken by the Freiherr von Aufsess, a repertory of sources on German medieval history, drastically separated (archaeological) monuments and (historical) information. Through this he created a data bank on national history until the year 1600 and, virtually, anticipated Vannevar Bush’s famous design for a Memory extender in 1945. Thus the GNM aks for a re-reading in terms of media theory, discourse analysis and the science of documentation: the (re)construction of the past as a function of its reco(r)dings. Bibliomuseo-archival memory, it will be argued, is at the same time an effect and the deconstruction of (literally) ‘collective’ historical consciousness.
Aleida Assmann
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Gedächtnis-Simulationen im Brachland des Vergessens — Installationen von Gegenwartskünstlern
In einer Welt, die sich zunehmend ihres kulturellen Gedächtnisses entledigt, hat sich die Kunst immer mehr zu einem Medium und Hort dieses Gedächtnisses entwickelt. Der Aufsatz stellt Installationen von vier Gegenwartskünstlern vor, bei denen das Thema Gedächtnis im Mittelpunkt steht und auf sehr unterschiedliche Weise bearbeitet wird: Anselm Kiefer, Sigrid Sigurdsson und das Ehepaar Anne und Patrick Poirier.
In a world that is increasingly ridding itself of its cultural memories, the arts tend to become a prominent medium and locus of such memories. The following essay presents a number of installations by contemporary artists who have chosen memory as a main focus of their work. These installations follow very different aims and tracks; they are from Anselm Kiefer, Sigrid Sigurdsson and the French couple Anne and Patrick Poirier.
Elisabeth von Samsonow
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Die Schöne und das Alphabet: Zur Mnemotechnik des Petrus von Ravenna
Die merkwürdigen Inkonsistenzen der mnemotechnischen Anweisungen des Petrus von Ravenna lassen die Schwierigkeiten erkennen, die die Gedächtniskunst notwendig mit der Ökonomie der Stimulation hat: wenn sie wirklich die Gedächtnisfunktion in Fahrt bringen will, muß sie sich nämlich den Bedingungen der natürlichen Produktion von Unauslöschlichkeit unterwerfen. Die Mnemotechnik des Petrus von Ravenna gerät so zum Projekt zwischen logischer und historischer Konstruktion einerseits und ‚Animation ‘— was heißt: Affekte verheißen Effekte — andererseits. Schließlich schafft der technische Einsatz der geliebten Imago der Junipera aus Pistoia einen Präzedenzfall für ein vielleicht nach wie vor windschiefes bzw. nur bruchstückhaft aufgeklärtes Verhältnis zwischen der ars und ihrer Praxis.
The obvious inconsistency of Petrus of Ravenna’s mnemotechnical advices show the difficulties the art of memory faces in what could be called an ‘economy of stimulation’. If art should be able to turn on memory, it has first to undergo the conditions of producing indelebility in a very natural way. So Petrus of Ravenna’s mnemotechnique is placed between logic and historical construction on the one hand and ‘animation ‘— which means: affects make effects — on the other. Petrus’s technical use of the beloved image of Junipera of Pistoia creates the perhaps still relevant prototype of an oblique and yet only partially revealed relationship between the ars and its praxis.
Martin Windisch
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Metapher, Allegorie und Materialität des Körpers als Medien des nationalen Gedächtnisses in der Frühen Neuzeit
Die theatralische Verkörperung der imagines agentes im Shakespeareschen Oeuvre, die noch für die bildhaften Denkformen bei Thomas Hobbes prägend wirkte, bezieht in Titus Andronicus und in Julius Caesar besondere Suggestivität durch die intertextuelle Einverleibung antiker Nationalerzählungen. Den dramatischen Aufzug bildmagisch aufgeladener Staatskörper konterkarieren bei Shakespeare, genauso wie in der vergleichend herangezogenen Faerie Queene, ikonoklastisch ausgestaltete Gegenbewegungen, die letztlich auf das frühneuzeitliche Dilemma der an Bedeutung überdeterminierten Körperbildlichkeit hinweisen. Die Metaphorik der zwei Körper des Königs implodiert, wo sie — wie schließlich in Hamlet — den Ansprüchen der Legitimation von Herrschaft nicht mehr genügt.
Shakespeare’s theatrical representation of the imagines agentes, which had a major influence on Thomas Hobbes’s visual modes of thought, is especially powerful when the dramatist intertextually incorporates the national narratives of antiquity, as is the case in Titus Andronicus and Julius Caesar. The staging of the body politic in terms of pictorial magic is, however, subverted by iconoclastic countermovements which point towards the early modern dilemma of a body imagery overdetermined with meaning. The metaphor of the king’s two bodies finally implodes, as can be shown in Hamlet, when it no longer meets the demand of legitimizing power.
Birgit R. Erdle
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Vom Verschwinden des Vergessens: Zur Konstellation des Gedächtnisses in einem Bruchstück aus Adornos Minima Moralia
Der Beitrag untersucht, wie Thema und Verfahren des Gedächtnisses in einem Text Adornos ineinander verschränkt sind, der im Herbst 1944 geschrieben wurde. Eine Schicht des Gedächtnisses des Textes ist aus verschwiegenen Zitaten gebildet. Diese sind nicht nur Reminiszenzen, sondern auch Umschriften von theoretischen Konzepten (Freud, Benjamin), die den Zusammenhang von geschichtlicher Erfahrung, Trauma und Gedächtnis beschreiben. Meine Lektüre zeigt, wie der Text als Schockabwehr zu lesen ist, und wie er daher einer Universalisierung des Traumas entgegensteht.
This article explores the entanglement of theme and practice of memory in a text written by Adorno in the fall of 1944. One layer of memory performed by this fragment consists of clandestine citations, which are not only reminiscences but also transformations of theoretic concepts (Freud, Benjamin) describing the connection between historic experience, trauma and memory. My reading illustrates how Adorno’s text can be read as a manner of deflecting shock and as such comes to be pitted against a universalization of trauma.
Doerte Bischoff
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„Mit derselben Geste“ Körpergedächtnis und Repräsentation — eine Freud-Lektüre
In verschiedenen Texten formuliert Freud einen spezifischen Zusammenhang von Körpersprache und Erinnerung. Gilt die Körpersprache der Hysterikerin in ihrem Verweis auf ein traumatisches Ereignis noch als prinzipiell entzifferbar, so manifestiert sich später gerade im körperlichen ‚Agieren ‘ein unüberwindlicher Widerstand gegen die deutende Autorität des Analytikers. Eine eingehende Lektüre von Totem und Tabu zeigt, daß dabei die Unterscheidung von Körpersprache (des Untersuchungsobjekts) und Sprachkörper (des analytischen Textes) zunehmend problematisch wird. Anstatt als eindeutige erweisen sich körpersprachliche Gesten als ambivalente Zeichen, die die Repräsentationsfunktion von Sprache und Gedächtnis in Frage stellen.
In different texts Freud articulates a connection between body language and memory. At first body language (e.g. of the hysteric) is regarded as pointing towards a past traumatic event and the analyst is set up as the authority able to read it. In later texts, however, the ‘acting ‘performed by a traumatized person, is seen as a form of resistance to the interpretive act of the analyst. A close reading of Totem and Tabu demonstrates that it becomes more and more difficult to draw a distinction between body language (as ‘spoken ‘by the object of study) and the ‘performance ‘of the analytic text. Instead of appearing as signs with a clear meaning gestures expose their irreducible ambivalence and thus question the representational function of language and memory.
Stefan Goldmann
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Topik und Memoria in Sigmund Freuds Traumdeutung
Vor dem Hintergrund der auf Aristoteles zurückgehenden philosophischen Topik, die vielfältige Bezüge zur Gedächtniskunst aufweist, wird Freuds topisches Denken innerhalb der Traumdeutung herausgearbeitet.
Freud’s topical thinking in The Interpretation of Dreams is explored against the background of philosophical ‘Topics ‘which, originating from Aristotle, shows many links to mnemotechnics.
Manfred Weinberg
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What Makes A (Wo)man a (Wo)man?
Der Aufsatz versucht darzustellen, wie sich in der Abfolge des ärztlichen Richtspruchs „Es ist ein Junge/Mädchen“, des gesellschaftlichen Zuspruches „Du bist ein& und des davon abgeleiteten Anspruches „Ich bin ein Mann / eine Frau“ sexuelle Identität herausbildet und beschreibt diese Herausbildung als Zusammenspiel von kulturellem Gedächtnis und individueller Erinnerung. Er konfrontiert diese Hervorbringung „ontologisch solider“ (Gesa Lindemann) Geschlechtsidentitäten mit transsexuellen Lebensläufen (vor allem am literarischen Beispiel von Virginia Woolfs Orlando), um an deren vermeintlicher „ontologischen Unsolidität“ die rhetorische Hervorgebrachtheit aller Geschlechtsidentitäten (und sexuellen Orientierungen) zu erweisen.
The article tries to show how sexual identity is formed in the succession of the first sentence a human being is confronted with (“It’s a boy/girl“), the social demand “You are a &“, and the resulting claim “I am a man/woman“. It describes this formation as a co-operation of cultural memory and subjective recollection. The formation of gender identities, taken for ontological givens, is read against the background of transsexual biographies (as for example in Virginia Woolfs Orlando), and it can thus be shown, that gender identities (and sexual preferences) are mere rhetorical constructs.
Julika Funk
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Maske — Grenze — Geschlecht Bemerkungen zur Lesbarkeit von Geschlechterdifferenz im kulturellen Gedächtnis der Moderne
In Diskursformationen der Moderne wird Weiblichkeit eine spezifische Funktion für die Konstitution des kulturellen Gedächtnisses zugeschrieben. In Virginia Woolfs Orlando ist die Frage nach Geschlechterdifferenz verbunden mit der Konstruktion einer kulturellen Identität, in der Weiblichkeit auf einer Grenze, am Schnittpunkt von Vergessen und Erinnern situiert ist. Eine Rhetorik der Weiblichkeit als Maskerade, wie sie auch die zeitgenössische Psychoanalyse konzipiert hat, verweist auf die Bedingung der Möglichkeit der kulturellen Konstruktion von Identität und Gedächtnis sowie deren Subversion.
In modern discursive formations femininity obtains a specific function for the constitution of cultural memory. In Virginia Woolf’s Orlando the question of gender difference is connected with the construction of cultural identity placing femininity on the border of the intersection of forgetting and remembering. A rhetoric of femininity as masquerade, as it was also conceived by contemporary psychoanalysis, points to the conditional framework by which the cultural construction of identity and memory, and of their subversion, are determined.
Erhard Schüttpelz
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Trooping the Colour Besessenheit und Erinnerung in Jean Rouchs Les Maîtres Fous
Jean Rouch dokumentierte 1954/55 im Film Les Maitres Fous einen Besessenheitskult von Wanderarbeitern der Songhay in der britischen Kolonie Gold Coast, den ‚Hauka‘-Kult. Die Inhalte seines Rituals sind einerseits das, was man den ‚Geist ‘der europäischen Kolonisatoren nennen könnte und in Gestalt von Geistern sich im Film manifestieren sieht, andererseits in diesen Geistern etwas, das an einem europäischen Ort als historische Erinnerungsarbeit aufgefaßt würde, „what for us would be memories of experience“ (G. Lienhardt). Die Bilder dieser historischen ‚Erinnerungen ‘verkörpern sich in der Trance von Medien, die selbst keine Erinnerungen an den Ablauf ihrer Trance besitzen sollen und auch die Genealogie der Geister oder Götter keineswegs als Erinnerung begreifen würden — bewußte Erinnerung und Trancebesessenheit bleiben inkompatibel. Wie konnte ein Film dieser für uns paradoxen Gestalt afrikanischer Geister und ihrer historischen (Nicht-) Erinnerungen gerecht werden?
Jean Rouch’s film Les Maitres Fous, shot in 1954 near Accra, Gold Coast, is the documentary of a possession cult that was performed by Songhay migrant workers from the French colony Niger. “Les Maitres Fous, long rejected by the Africans, has now become a historic film giving a very precise image of what British and French colonialism was & this particular film is one of the very rare audiovisual documents of what I might call the ‘concept of colonial power’, as it was understood by adepts of the Hauka cults. It lets us sketch a theory of that concept in nonliterate societies“ (Jean Rouch). The essay focusses on the relationship — the congruence and incompatibility — of historical memory and trance-possession, and on Jean Rouch’s own “concept of colonial power“ as it can be divined from the montage of his film, especially from his and the Hauka cult’s use of the Union Jack, of the colour Red, and of a sacrificial dog. — The commentary takes as its historical axiom that “Religion and strangerhood transform together“ (R.R Werbner).
Günter Butzer
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Pac-man und seine Freunde Szenen aus der Geschichte der Grammatophagie
Der Beitrag behandelt eine komplexe Körpermetapher der Memoria: Das Gedächtnis wird als Magen aufgefaßt, Merken und Erinnern als Einverleibung und Verdauung, Vergessen als Ausscheidung. Wesentliche Stationen der Geschichte dieser Metaphorik werden beschrieben und medientheoretisch interpretiert. Stets bezeichnet das Bildfeld die Aneignung von Schrift im Modus der Oralität. Dabei verweisen die historischen Aus-prägungen dieser intermedialen Metaphorik auf unterschiedliche, z.T. widersprüchliche soziale Rezeptionsnormen für literarische Texte. Durch die kybernetische Körperlichkeit der Computer ist die Grammatophagie an ihr Ende gelangt — das Essen der Schrift ist zum Vergessen geworden.
The paper is about a complex ‘bodily ‘metaphor of memoria: memory is conceived as stomach, while storing and retrieving are represented as incorporation and digestion, oblivion as excretion. Important stages in the history of this metaphor are described and interpreted in the light of media theory. In each case, the image denotes the adoption of writing in an oral mode. The historical variants of this inter-medial metaphor indicate different, partly contradictory, social norms of the reception of literary texts. Through the cybernetic corporeity of computers, grammatophagy has come to an end — the process of eating letters has become a process of forgetting.
Stefan Rieger
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Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne
Der Beitrag gilt dem Verhältnis von Aby Warburgs Gedächtniskonzept und der Mneme-Theorie des Mediziners Richard Semon. Dabei geht es nicht um die Kasuistik eines biographischen Einflusses, sondern um die Umsetzungsverhältnisse unterschiedlicher Wissensfelder im Rahmen einer Theorie von ‚epistemischer Intertextualität‘. Die Übernahme von Gedächtniskonzepten und ihre Anpassung an das theoretische Anliegen Warburgs werden dabei in der Figur einer ‚epistemischen Katachrese ‘rekonstruiert.
The aim of the article is to explore the relationship between Warburg’s concept of memory and Richard Semon’s scientific ‘mneme’-theory. The argument does not focus on the casuistics of biographical influence, but on the specific ways of the transposition of knowlegde by working out a theory of ‘epistemic intertextuality’. This transposition of the concept of memory and its adaptation to Warburg’s theoretical aims are reconstructed in the form of the rhetoric figure of ‘epistemic catachrese’.
Peter Matussek
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Hypomnemata und Hypermedia. Erinnerung im Medienwechsel: die platonische Dialogtechnik und ihre digitalen Amplifikationen
Schon Platon nutzte die intertextuellen Fähigkeiten des literarischen Schreibens zur Subversion der lähmenden Wirkung von Aufzeichnungen im Sinne der Gedächtnisstützen, der Hypomnemata, um den anders gearteten Erinnerungsprozeß der Anamnesis zur Geltung zu bringen. Ironischerweise basiert aber ausgerechnet eines der avanciertesten Hypomnemata unserer Tage auf einer dezentralen, nichtlinearen Struktur, wie sie für das Phänomen der Intertextualität kennzeichnend ist. Die — in der Tat von vielen Theoretikern des neuen Mediums angestrengte — Vermutung liegt also nahe, daß wir es hier mit einer virtuellen Steigerung der Potentiale literarischen Erinnerns im Sinne der Anamnesis Platons zu tun haben. Der Heftbeitrag vertritt die Auffassung, daß eher das Gegenteil zutrifft. Eine intertextuelle Dynamik kann nur aus der Rezeptionserfahrung des Kontrastes zu einer vorgegebenen statischen Textur hervorgehen. Mit jedem seiner Schritte durch das Gewebe eines Hypertextes dekomponiert der Leser diesen illuminierenden Kontrasteffekt. Diese Beobachtung führt zu der Feststellung, daß eine Poetik des Hypertextes, die als literarische Erinnerungstechnik ernst genommen werden könnte, erst noch zu entwickeln wäre.
Plato already used the intertextual ability of literary writing as a subversive potential to undermine any data storing technique staying within the limits of mnemonic devices, the so-called hypomnemata, in order to allow the alternative process of anamnesis to arise. Ironically however, one of today’s most advanced hypomnemata, the hypertext, is based upon the decentralized, non-linear structure that is characteristic of the phenomenon of intertextuality. So, one might ask — as many theorists of the new medium actually do — whether the hypertext is even superior to conventional literature in its capacity to stimulate the process of recollection in the sense of Plato’s anamnesis. Rather, in this article, it will be shown that the opposite is the case. An intertextual dynamic can only arise from the reader’s response to a given static texture. With each step through the ‘web of trails ‘of the hypertext the reader decomposes that illuminating effect. This observation points to the necessity of developing a new poetics of hypermedia.
Peter Krapp
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„Screen Memory“: Hypertext und Deckerinnerung
Die literaturtheoretische Aneignung von Hypertext oszilliert zwischen dem Schock, der Literatur unter den Bedingungen des Computers als etwas radikal Neues empfindet, und der utopischen Hoffnung, eine geschichtliche Vollendung der Medien zu erkennen. Die entsprechenden Konsequenzen, Texte entweder so zu lesen, als seien sie bereits gelesen, oder aber so, als seien sie unlesbar, sind als Symptome zu befragen.
The theoretical appropriation of hypertext tends to oscillate between the shock which registers something radically new in literature under the conditions of the computer and the utopian hope of recognizing a historical fulfilment of media. Consequently, the reading of texts either as if they had already been read, or as if they are unreadable, will have to be interrogated.
Dirk Vaihinger
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Das Gedächtnis als Speicher und die Endlosschleife in der Kybernetik zweiter Ordnung
In medientheoretischen Forschungen zur künstlichen Intelligenz wurden in den letzten Jahrzehnten häufig Positionen vertreten, die von einer funktionalen Äquivalenz von organischem und maschinellem Gedächtnis ausgehen. Verfolgt man die Entstehungsgeschichte dieser Strukturanalogie anhand der Kybernetik, wird die Einseitigkeit dieser Auffassung deutlich. Dies gilt gleichfalls für die „Kybernetik zweiter Ordnung“, weil auch in ihr die lebenswichtige Funktion der Verdrängung vergessen wird, die das menschliche Gehirn im Unterschied zum maschinellen Speicher auszeichnet.
Media theory focussing on artificial intelligence has led over the last decades to positions which rely on the functional equivalence of organic and machine memory. Looking at the cybernetic history of this structural analogy reveals a theoretical deficiency which is also true for the “cybernetics of the second order“, because they both neglect the function of suppression that clearly marks the difference of organic and artificial memory.
Stephan Porombka
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Ankunft im Unverdrängten: Datenbanken als Verkörperung der Phantasie vom virtuell vollständigen Gedächtnis
Im Zeitalter elektronischer Datenbanken soll die digitale Architektur des Gedächtnisses das Figurative des Gedankens und die Dynamik der Assoziation einholen, nachahmen und simulieren, um nicht länger ein Bild, sondern die Sache selbst zu sein. Hinter diesem Unternehmen steht eine Trennungserfahrung, die sich zu einem bedrohlichen Gefühl der Entfremdung ausgeweitet hat, auf das zunehmend mit wahnhaften Einschließungs- und Abschließungsphantasien reagiert wird. Im folgenden Aufsatz wird dargestellt, wie diese Phantasien in Programmen der assoziativen elektronischen Datenbanken verkörpert sind.
In the age of electronic database, digital architectures of memory aim to imitate, stimulate, and finally replace figurative thought and its associative dynamics. They thus turn from metaphor into the thing itself. Behind the digitization of memory there lies the experience of a split, which has expanded into threatening feelings of alienation which in turn increasingly call forth phantasms of inclusion and reclusion. The following paper shows how these phantasms are incorporated and manifested through associative elec-tronic database.
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