Schatten im Paradies
Die populäre Installation verführt die Besucher des alten Singener Stadtparks

In den Niederlanden des 17. Jahrhunderts war es üblich, dass Historienmaler in abgeschlossene Landschaftsgemälde erst nachträglich Figuren einfügten, die meist an eine Episode aus der Bibel oder der griechischen Mythologie erinnerten. Mit seinem Kunstbeitrag für Singen ist der russische Künstler Ilya Kabakov, unterstützt von seiner Frau Emilia, ähnlich vorgegangen, nur dass er als Vorgabe kein Gemälde, sondern eine wirkliche Landschaft wählte und diese mit plastischen Objekten bereicherte. Auch sie erzählen eine Geschichte. Ihr Thema ist der Ort selbst, die Hauptrolle aber spielen Besucherinnen und Besucher des Parks, wenn sie sich auf die Arbeit einlassen.

Augenköder
Als Schauplatz für seine Intervention wählte Kabakov einen idyllischen Flecken im historischen Stadtgarten, der ihn bei einem Stadtrundgang sogleich gefangen genommen hatte: eine baumumstandene Rasenfläche an der Spitze der zungenförmigen Halbinsel zwischen den Flussarmen der Aach nahe beim schmiedeeisernen Eingangstor. Das erste, was der Besucher beim Gang über die Kieswege von Kabakovs Arbeit wahrnimmt, sind hellgolden glänzende Kugeln, die der Künstler als Augenköder auf dem Wiesengrund zwischen dem hohen Baumbestand in unregelmässigen Abständen ausgelegt hat. Tritt man näher, erweisen sie sich als pralle, in Metall gegossene Äpfel. In der Mitte steht ein großer länglicher Weidenkorb in patinierter Bronze, als Naturabguss die täuschend echte Darstellung eines wirklichen Korbes. Darin kann man eine Anzahl weiterer goldener Äpfel entdecken.
(Abb. A)

Wer die Frage nach den zunächst nicht sichtbaren Urhebern dieser idyllischen Szene stellt und dabei die Augen schweifen lässt, wird in überraschender Weise fündig. In den Wipfeln der Bäume, die die Rasenfläche umstehen, entdeckt man ein, zwei, schließlich drei dunkle, satyrähnliche Wesen, die sich anschicken, mit kräftig ausholdendem Arm leuchtende Äpfel in Richtung Korb werfen. Im Zentrum der wie zufällig angeordneten Früchte gibt sich das geflochtene Gefäß als Ziel eines Wurfspiels zu erkennen, das die Werfenden häufiger verfehlt als getroffen haben. Kabakov hat ihre Oberkörper langen, an die Baumstämme montierten Stangen aufgesetzt. So scheinen die Figuren in den Baumkronen zu stehen. Ueber ihrer Stirn wellen sich die lockigen Haare zu Teufelshörnern.

Gesprengte Installation
Hier in Singen hat der Künstler, wie er bei einem öffentlichen Gespräch verriet, ein lang gehegtes Konzept zum ersten Mal realisiert: die "gesprengte Installation". Gemeint ist ein kalkuliertes Gefüge von zwei räumlich weit voneinander abgesetzten Teilen, die vom Betrachter zunächst einzeln wahrgenommen werden müssen und die erst im aktiven Akt des Zusammensehens ihren Sinn erhalten. Hier sind es: der Korb mit den am Boden verstreut liegenden Äpfeln einerseits, die drei Kobolde hoch in den Wipfeln der Bäume andererseits.(Abb. B) Es ist unmöglich, beide Figurengruppen gleichzeitig in den Blick zu bekommen, man bringt sie erst im Kopf zusammen.

Der Winkel im Singener Stadtpark erschien Kabakov bei seinem ersten Besuch wie das Paradies auf Erden. Dies ist der Grund, weshalb die "gesprengte Installation" von ihm zu einer Geschichte um Äpfel, zu einer Variation über den biblischen Sündenfall ausgestaltet wurde. In der Bibel ist es eine Geschichte der Verführung, an deren Ende der Verlust der Unschuld und die Erkenntnis von Gut und Böse steht. Eine Geschichte mit Moral also. Dies trifft auch für die antiken Mythen vom Goldenen Zeitalter und dem fernen Paradiesgarten des Hesperidenlandes zu, in denen goldene, ewige Jugend verheißende Äpfel eine Rolle spielen und an die ein klassisch Gebildeter sich zusätzlich erinnert fühlen kann. Vielleicht aber werden von dem aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Künstler damit auch die alten Glücksverheissungen des Kommunismus ironisch kommentiert.

Glanz der Oberfläche
Die aquarellierte Zeichnung, ein attraktives Virtuosenstück, die Kabakov für die Auswahlkommission und die Sponsoren angefertigt hatte, um ihnen eine präzise Vorstellung vom abgeschlossenen Werk zu vermitteln, hat sich jetzt, in zahllosen Reproduktionen vervielfältigt, wie ein Kommentar des Künstlers dem Werk hinzugesellt. (Abb. C) Sie legt nahe, dass Kabakovs Variation über die Geschichte vom Sündenfall auch als eine Geschichte vom Sehen verstanden werden muss. Der Entwurf zeigt neben den plastischen Elementen, die die künstlerische Intervention ausmachen, Benutzer des Parks. Sie sind notwendiger Teil der Installation. Vorne rechts steht die Gruppe einer Kernfamilie: Der kleine Bub zeigt auf die leuchtenden Äpfel, nach denen er greifen will. Doch der Vater hält ihn streng zurück, und die Mutter weist mit ausgestrecktem Arm nach oben in Richtung der finsteren Gesellen in den Kronen. Mahnender Hinweis offenbar an das Kind – auch an das Kind in uns -, nicht gleich dem oberflächlichen Glanz der Dinge zu verfallen, sondern sich zu fragen, wo die verführerischen Früchte denn herstammen könnten. Die Moral, vom Künstler selbst im Gespräch und in Texten vertreten, erscheint etwas platt. Sie wird raffiniert, wenn man sie zum Anlaß einer Reflexion über die künstlerische Erfahrung – über Verführung und Erkenntnis durch Kunst – nimmt und nicht zuletzt auf Kabakovs eigene Arbeit zurückbezieht. Der Künstler breitet ein betörend verführerisches Stilleben auf dem grünen, blütenbestandenen Wiesengrund aus, auf dem die goldenen Apfelkugeln wie überdimensionale Tautropfen in der Sonne leuchten. Hat man die dubiosen Urheber dieser Pracht wahrgenommen, vollzieht man den Sündenfall gleichsam noch einmal selbst neu, indem man die Ursache des zunächst naiv genossenen Arrangements erkennt – ohne allerdings, wie schon die Ureltern, den Sinn des Spiels wirklich zu verstehen. Ist es dann noch Zufall, wenn die verschmitzt blickenden Köpfe der Satyrn an die Gesichtszüge des Künstlers erinnern?

Ein Werk für alle
Kabakovs Arbeit ist gefällig – und, die bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass sie allgemein gefällt. Ist dies eine Schwäche? Nicht unbedingt. Im Vergleich zu den übrigen Installationen Kabakovs – vor allem jenen, die für einen Museums- oder Ausstellungskontext entstanden sind – erscheinen die "Golden Apples" als eine Art von Divertimento, eine Arbeit, die von jedermann, Jung und Alt, genossen werden kann, und gleichzeitig einigen Betrachtern Anlass zur Reflexion über das erzählerische Kalkül zu geben vermag, das dieser Verführungsgeschichte mit visuellen Mitteln zugrunde liegt.

Im Kontext der westlichen Gegenwartskunst wirkt Kabakovs Arbeit gerade aufgrund seines populären Appeals fremd. Sie scheint die Lebenserfahrung eines Künstlers vorauszusetzen, der während der Sowjetzeit öffentlich als hoch geschätzter Illustrator von Kinderbüchern, im geheimen als Avantgardekünstler wirkte. In der Singener Installation scheinen die beiden früheren Wirkungskreise des Meisters zusammengeführt. Man kann es als Kabakovs Größe betrachten, dass er fähig ist, zu allen zu sprechen. Das stilistische Gewand der Figuren – eine Art von Neorokoko passend zu einem Garten der Gründerzeit –, auch die Wahl der Materialien – die falsche Patina des Korbes, der etwas zu helle Glanz der goldenen Äpfel – sprechen für einen präzis kalkulierten Einsatz der Mittel in der Schwebe zwischen volkstümlicher Direktheit und dem Bewusstsein um geschichtliche Brüche.

Es ist bisweilen schade, wenn man die Auflösung einer Geschichte erfährt, bevor man sie sich selbst vornehmen konnte. Wer nach dieser Beschreibung von Kabakovs "Goldenen Äpfeln" so empfindet, dem sei geraten, zum Trost an einem sonnigen Tag nach Singen zu fahren, sich in der Nähe der Installation auf den Rasen zu setzen und die Reaktion von Besuchern zu studieren, die noch nichts über die Arbeit des Russen gelesen haben. Es ist spannend nachzuprüfen, ob das Verführungsspiel von Ilya Kabakov bei den Besuchern tatsächlich gemäss seinem in der Entwurfszeichnung dargelegten Kalkül funktioniert. Es ist, dies sei verraten, überraschend häufig der Fall. Ein weiterer Beleg für die Größe eines Künstlers, der über seine Mittel souverän verfügt.

Kurzbiographie – Ilya Kabakov
Ilya Kabakov (geb. 1933) ist der bekannteste Künstler aus der ehemaligen Sowjetunion. Schon im Alter von zehn Jahren begann er, aufgrund des Krieges nach Samarkand evakuiert, eine Ausbildung an der ebenfalls dorthin übergesiedelten Leningrader Akademie der Bildenden Künste. Nachdem er nach Kriegsende in Moskau Graphik studiert hatte, verdient er sich in den nächsten Jahrzehnten seinen Lebensunterhalt als geschätzter Illustrator von Kinderbüchern. Seine "ernsthafte" künstlerische Arbeit verläuft zunächst noch in den traditionellen Bahnen einer von Cézanne inspirierten Landschaftsmalerei. Seit den sechziger Jahren entwickelt sich Kabakov jedoch zu einer der zentralen Figuren der im Verborgenen arbeitenden, vom KGB kritisch beäugten Avantgarde des "Moskauer Konzeptualismus". Seine subversiven Objekte und Installationen, die sich der Doktrin des "Sozialistischen Realismus" widersetzen, begleitet er durch theoretische Reflexion. Ausländischen Besuchern der Sowjetunion jener Jahre ist er als einer der anregendsten intellektuellen Figuren der Metropole der UDSSR in Erinnerung. Im Westen wird Kabakov 1985 mit einer durch den Schweizer Diplomaten Paul R. Jolles vermittelten Ausstellung in Bern bekannt. Trotz Glasnost und Perestroika siedelten Emilia und Ilya Kabakov 1989 nach New York über. Seit den achtziger Jahren war Kabakov auf allen großen internationalen Kunstaustellungen vertreten, so bei der Documenta in Kassel, der Biennale von Venedig und den Skulpturprojekten in Münster.
In letzter Zeit signiert er seine Projekte zusammen mit seiner Frau Emilia.
Bis zum 25. Juni 2000 zeigt Ilya Kabakov im Kunstmuseum Bern unter dem Titel "50 Installationen" eine Retrospektive seiner bisherigen Raumarbeiten, die selbst wieder eine große Installation ist.

 

Die "totale Installation"
"Installation ist das neue Kunstgenre nach Ikone, Fresko und Tafelbild, das am Anfang seiner Entwicklung steht." – Der Anspruch, den Ilya Kabakov mit seinen "totalen Installationen" verbindet, ist hoch. Gemeint sind meist in sich abgeschlossene Innenräume, die Elemente von Architektur und Kunst, aber auch Literatur und Musik zu Gesamtkunstwerken vereinen. Der Betrachter ist aber nicht nur als "Opfer" in den Installationen gefangen, die zumeist die lastende Atmosphäre des Sozialismus eindringlich verkörpern, sondern zugleich ein aktiver "Täter" (Kabakov), der den Raum durchschreitet und mit seinen Assoziationen füllt. Kabakov zufolge ist den Besuchern von Kunstausstellungen "die Zeit durch die Menge der Exponate verlorengegangen." In seinen Installationen soll der Betrachter auf die individuelle Erfahrung seiner eigenen Zeitlichkeit zurückverwiesen werden. Dies gilt auch für Kabakovs Singener Arbeit – eine der wenigen Installationen im Außenraum, die den vorgegebenen Ort ebenso in sich integriert, wie sie sich diesem einfügt.





Impressum
Dieser Beitrag ist in der Wochenendausgabe des Südkuriers vom 17. Juni 2000 erschienen.

Fotos: Felix Thürlemann (A), Singener Kunstprojekt (B und C)

Foto A: Emilia und Ilya Kabakov, "The Golden Apples", Landesgartenschau, Historischer Stadtgarten
Foto B: Emilia und Ilya Kabakov, "The Golden Apples", Aquarellierte Entwurfszeichnung, Singen
Foto C: Emilia und Ilya Kabakov, "The Golden Apples", Aquarellierte Entwurfszeichnung, Singen

Die Installation von Emilia und Ilya Kabakov bleibt über die Dauer der Ausstellung hinaus erhalten.

Die bereits erschienenen Beiträge können im Internet abgerufen werden: http://www.uni-konstanz.de/UniinSingen/


Südkurier Homepage: http://www.suedkurier.de
Landesgartenschau Singen Homepage: http://www.landesgartenschau-singen.de
Kunstwissenschaft Homepage: http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/Litwiss/KunstWiss/ (unter 'Aktuelles')