Kunst im Rahmen der Landesgartenschau Singen 2000
"HIER DA UND DORT"
Ein Projekt der Arbeitsgruppe Kunstwissenschaft der Universität Konstanz




From Outer Space
Gerold Millers Reanimation der Pop-Ästhetik in Singen

Plan 2
Das Vorhaben des Künstlers ähnelt dem der Außerirdischen in Edward D. Woods Kultfilm "Plan 9 from Outer Space". Was hat es mit Plan 9 auf sich? Im Film wird er folgendermaßen beschrieben: "Plan 9 ... Ah ja ... Plan 9 befaßt sich mit der Auferstehung der Toten. (...) Habt ihr schon versucht, diesen Plan in die Tat umzusetzen?" Gerold Miller unternimmt es, wenn auch leicht variiert, mit seinem Beitrag zum Singener Kunstprojekt "Hier Da Und Dort": Sein "Plan" ist es, nicht nur die Toten – die Prinzipien der psychedelischen Konsumästhetik der 70er Jahre – zum Leben zu erwecken, sondern vielleicht auch die Lebenden zu Tode zu erschrecken. Was aber genau ist Millers Plan 2?

Sternenblitze
Plan 2 ist ein Werk der "Neuen Geometrie", das den architektonischen Sünden der 70er Jahre, an denen es Singen nicht gerade mangelt, neuen Charme verleiht. An einer städtebaulichen Schnittstelle, der Kreuzung von Erzbergerstraße und Freiheitsstraße, hat Gerold Miller seine Fassadenarbeit installiert. Zehn mal zehn Hochrechtecke formieren sich, seriell gereiht, zu einer großen geschlossenen Fläche von gleicher Proportion wie die einzelnen Elemente (Abb. B). Wer sich in sie vertieft, wird eine Fülle unerwarteter Erscheinungen wahrnehmen. So werden die rot-orangefarbigen Aluminiumplatten von jeweils zwei weißen Diagonalen durchzogen, deren Helligkeit sich in der Mitte steigert. Auf den einzelnen im Siebdruck hergestellten Alucubondflächen entstehen "Sternenblitze" (Renate Wiehager) vor leuchtendem Rot-Orange. Die sternförmige Wirkung eines jeden Elements resultiert aus zwei Bewegungsrichtungen: Dem von außen nach innen abnehmenden Buntwert des Rot und dem von der Mitte zu den Ecken ausstrahlenden Weiß. Die dadurch entstehenden Diagonalen bilden Rauten, die je vier Einzelflächen optisch zusammenfügen.

Die Platten können als flache Bilder, aber auch als dreidimensionale plastische Körper wahrgenommen werden. Wenn man den Mittelpunkt vor der Bildfläche liegend sieht, entsteht der Eindruck einer Aufsicht auf eine Pyramide mit rechteckigem Grundriß. Man kann die einzelnen Felder aber auch gegensätzlich wahrnehmen: als viereckige, nach hinten führende Trichter. Da beim Betrachten von "Plan 2" die statische Fläche aufgrund dieser visuellen Irritation in Bewegung versetzt scheint, lassen sich durchaus Parallelen zu der seit den sechziger Jahren praktizierten Op-Art (Optical Art) ziehen.

Schock auf der Herrentoilette
Den Anstoß zu seiner Arbeit erhielt Miller auf einer Busfahrt durch das polnische Piotrków Trybunalski, bei der ihm eine Plakatwand ins Auge fiel. Das beschriebene geometrische Motiv diente dort als Platzhalter für zeitweilige Leerfelder zwischen Werbeplakaten. Miller reanimierte dieses Muster erstmals an einer stark frequentierten Allee im Zentrum von Berlin. Daraufhin hielt es Einzug in einige Galerien und schockierte in Grellpink auf den Kacheln der Herrentoilette des Esslinger Museums Villa Merkel den Kunstliebhaber. Dieses neue Kleid wurde dem WC im Rahmen der Ausstellung "The Space Here Is Everywhere" 1991 verpaßt ("Plan 1"). Schließlich erfuhr das polnische Fundstück in Singen eine neuerliche Reaktivierung und avancierte somit zu "Plan 2" (Abb. B). Doch ist diese Neuauflage keine simple Wiederholung, denn erst die innovative Veränderung durch den Künstler – hier beispielsweise die Modifikation der ursprünglich blassen Farbe zu knalligem Rot-Orange – verleiht dem Ready-made signalhafte Präsenz.

Lebendige Monotonie
Ihre Bedeutung erhält die Armada der Sternenblitze letztendlich durch den Ort ihres Erscheinens. Und dieser Ort ist eine monströse semantische Leerstelle, deren leuchtend orangefarbene Markierung in der Konfrontation mit dem Umfeld Bedeutung erhält. Millers Werk greift gezielt in die Umgebung ein, wodurch "Plan 2" über bloße Dekoration hinausgeht. Dieser Eingriff in das gegebene Areal ist auch ein Angriff auf die rein funktionale Architektur der 70er Jahre. Doch gemäß der Hippie-Maxime von "Peace and Harmony" scheinen das Muster und das geradezu elektrisierende Rot-orange von Millers Werk mit der Video-Leuchtschriftreklame in zufriedenem Einklang zu stehen. Die Arbeit greift auch die Serialität des Skelettbaus auf, an dem sie angebracht ist. In der Fassade des Stahlbetongebäudes wechseln sich Fensteröffnungen und Wandflächen regelmäßig ab. Dieses rhythmische Gleichmaß findet sich in "Plan 2" wieder, wodurch Bild und Bauwerk miteinander in Korrespondenz treten. Während allerdings das Gebäude in monotoner Langeweile erstarrt, lebt Millers Installation gerade von der Wiederholung seiner Elemente, der sich die visuellen Effekte verdanken. Dies ist konkrete Kunst, die standortbezogen ist. Denn Miller wird dem Anspruch von Kunst im öffentlichen Raum insofern gerecht, als das künstlerische Objekt einerseits durch seine Umgebung mitbestimmt wird, andererseits auf diese einwirkt (Abb. A).

Angriff der Killertapeten
Zwei Faktoren lösen die Grenzen der Fassadenarbeit auf: die serielle Wiederholung des Motivs sowie der Zusammenhang von Werk und Umgebung. Vom Mittelpunkt eines jeden Sternenblitzes geht eine Bewegung aus, die zuerst die Grenzen der einzelnen Elemente, dann die der gesamten Installation überschreitet. Die Straßenzeile mit ihren authentischen Versatzstücken der 70er Jahre wird zum Bild, der reale Raum zur quasi-musealen Konserve der Dekade von "Clockwork Orange" und Discokugel.

Die Titel "Plan 1" und "Plan 2" kündigen das Vorhaben des Künstlers an, seine jüngst begonnene Projektreihe fortzusetzen, die sich explizit auf bereits vorhandene Architekturen und den öffentlichen Raum bezieht, in dem die Eingriffe permanent verbleiben sollen. So werden auch in Singen immer wieder arglose Passanten auf ein geradezu paralysierendes Werk moderner Kunst treffen, das im gewohnten Stadtbild befremdlich wirkt. Denn die Arbeit erinnert an Tapeten aus den 70ern, die sich heute kaum jemand mehr an die Wand kleben würde – oder doch? Sind wir nicht alle irgendwie neo-nostalgisch, dem Retro-Kult verfallen? Jedenfalls müssen wir uns darauf gefaßt machen, auch in Zukunft "hier, da und dort" auf Millers geplante spacige Attacken zu stoßen.


Gerold Miller
Gerold Miller wurde 1961 in Altshausen bei Ravensburg geboren. Er studierte Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart. 1991 schloß er sich mit Erwin Herbst und Andreas Opiolka zur Künstlergruppe L zusammen, die sich in die Tradition der Konkreten Kunst stellt. Miller widmet sich seit rund 15 Jahren der Frage von "Bildlichkeit" im Grenzbereich von Skulptur, Objekt und Relief. Häufig arbeitet er mit alltäglichen Materialien und verknüpft diese mit bereits vorhandenen bildnerischen Konzepten. Wegweisend für seine gegenwärtige künstlerische Position war die Ausstellung "Widerstand -heute!?" im Frühjahr 1994 in der Esslinger Altstadt. Bereits damals beschäftigte sich Miller mit dem Konzept von Raumbildern und ihrem Bezug zum öffentlichen Umfeld. Beliebige Lokalitäten sollen sich durch gezielte Eingriffe in Orte verwandeln, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Diese werden dadurch zum Bild, das auch die Umgebung integriert. Das hier formulierte Konzept eines öffentlichen, dynamischen Raumbildes führte Miller 1997 in Sydney und Brisbane weiter. Der Eingriff in Brisbane, mit dem Titel "It΄s Michael and me", besteht aus zwei Aluminiumleisten, die an der weißen Eingangsfassade des Institute of Modern Art auf mittlerer Höhe und in scheinbar gleichem Abstand zur Eingangsfront angebracht sind. Tatsächlich differieren die Höhenmaße der Leisten um 3cm und stellen damit die Ordnung der gesamten Konstruktion in Frage. Die Maße der Leisten beziehen sich auf die Körpergröße des Direktors und die des Künstlers und sollen der anonymen Fassade eine private und subjektive Dimension verleihen.

Neo Geo – Neue Geometrie
Die Neue Geometrie ist eine relativ junge Ausformung der Konkreten Kunst und besonders der Farbfeldmalerei. In der Konkreten Kunst wird das Werk aus Farben und Formen gestaltet, die nur aus sich selbst wirken und keine Anlehnung an die Natur enthalten. Während die klassische Konkrete Kunst mit dem Pathos des Neuen und noch gänzlich Ungesagten auftrat, ist sie heute kaum mehr ohne die Erinnerung an frühere Positionen der gegenstandslosen Kunst wahrnehmbar. Anfangs wurde die Präsenz von Farbe und Form so absolut gesetzt, daß jegliche Repräsentation von schon Vorhandenem als Sakrileg erschien. Mittlerweile ist die kritische Neureflexion der Konkreten Kunst, die mit dem Wiedererkennungswert von Klassikern wie Piet Mondrian und Barnett Newman spielt, ein zentrales Thema. Im Gegensatz zum Reduktionismus der Minimal-Art ist die Neue Geometrie komplex und vielfältig. Wiederholen bedeutet hier nicht Kapitulation, sondern eine kreative Aneignung von Positionen der klassischen Avantgarde, wobei ältere Kompositionsprinzipien als strukturierendes Mittel verwendet werden. Neo-Geo impliziert stets den Hang zu Symmetrie und geometrischer Musterbildung.


Impressum

Dieser Beitrag ist in der Wochenendausgabe des Südkuriers vom 7. Oktober 2000 erschienen.

Fotos: Kunstprojekt Singen

Foto A: Gesamtaufnahme
Foto B: Detail

Mit dem vorliegenden Beitrag ist die zehnteilige Serie zu ausgewählten Arbeiten des Singener Kunstprojektes "Hier Da Und Dort" abgeschlossen.

Alle bereits erschienenen Beiträge können im Internet abgerufen werden: http://www.uni-konstanz.de/UniinSingen/


Südkurier Homepage: http://www.suedkurier.de
Landesgartenschau Singen Homepage: http://www.landesgartenschau-singen.de
Kunstwissenschaft Homepage: http://www.uni-konstanz.de/FuF/Philo/Litwiss/KunstWiss/ (unter 'Aktuelles')