Unter kulturgeschichtlichen
Aspekten eröffnet die Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik einen sehr viel direkteren Zugang zu bestimmten Themen: In der Musik werden Einflüsse anderer Kulturen ablesbar, neue Musikstile generieren neue Tänze, Musik wird präsent an neuen Aufführungsorten und findet in neuen Aufführungszusammenhängen statt.
Seit dem 20. Jahrhundert scheint der persönlich bevorzugte Musikstil einen wichtigen Stellenwert für die individuelle Lebensdefinition eingenommen zu haben. Populärmusik steht mehr denn je im direkten Zusammenhang mit
Kleidung und Habitus und unterliegt als Teil der Modewelt ständigem Wandel. Hier ist es Pierre Bourdieu
gelungen, die begriffe „Geschmack“ und „Habitus“ auf solide wissenschaftliche Basis zu stellen: Jeder sozialen Klasse entspricht ein charakteristischer kultureller Habitus, dieser sorgt für stilistische Affinität und konstituiert den Geschmack als Mittel der Abgrenzung gegenüber anderen Lebensstilen.
Das kulturgeschichtliche Interpretationspotential hat sich durch die Popularisierung textierter Musik erheblich erweitert, die Entwicklung vom Volkslied zum Schlager hat eine neue Dimension von Zeitkolorit
in der Musik geschaffen.
So kann es durchaus Sinn machen, anhand von Schlagermusik und Schlagertexten Sozialgeschichte wenn nicht zu rekonstruieren, so doch zumindest zu kommentieren
Tagebuchaufzeichnungen
und Briefe, Illustrierte und Karikaturen sind im höchsten Maße aufschlussreich, wenn es um das geistige Momentbild einer bestimmten Zeit geht. Hier können gerade Schlager, seine Texte und seine Musik, eine Quelle der besonderen Art
darstellen, wie der „Zeitgeistforscher“ Joachim Schoeps bereits 1959 aufzeigt: „Zwischen ‘Puppchen, du bist mein Augenstern’ von 1906 [sic], dem Inflationsschlager von 1922 ‘Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen’, ‘Das kann
doch einen Seemann nicht erschüttern’ von 1939 bis ‘Die Fahrt zum Mond hat sich gelohnt’ von 1956 liegt jeweils der Abstand ganzer Welten.”1
Zu vermeiden ist jedoch eine allzu naive Herangehensweise, die politische
Geschichte und vermeintlich passende Schlagertitel einfach konstruierend gegenüberstellt. Populäre Musik bietet immer ein Angebot von Assoziationen, die jedoch je nach Disposition und Situation des Rezipienten individuell ausfallen
kann. Um ein Erfolg zu werden, muss der Schlager latente oder offene Bedürfnislagen des Publikums treffen, Bedürfnisse, die der Schlager nach Adorno mit Ersatzbefriedigung für das real Versagte befriedige.
Der Schlager
gibt nicht nur seiner Zeit Ausdruck, er prägt sie so selbst in stabilisierendem Sinne mit: Seine vagen Botschaften bieten eine breite Projektionsfläche für Wünsche, Träume, Sehnsüchte. Nach allen Seiten offen präsentiert sich der
Schlager als wertfrei, tendenzlos und unpolitisch und übt die hohe Schule der Anpassung, ohne seine Bedeutung als Zeitzeuge zu verlieren.
"Der deutsche Schlager war immer dann am besten, wenn er in bewegten Zeiten
kulturelle, politische und musikalische Neuerungen übernahm. Sein 'goldenes Zeitalter' in den vom amerikanischen Jazz und der Einführung von Rundfunk und Tonfilm geprägten zwanziger Jahren und seine zweite Blüte während des
politischen Aufbruchs der sechziger und der gesellschaftlichen Demokratisierung der siebziger Jahre sind bis heute einsame Höhen des ökonomischen und künstlerischen Ausdrucks."2