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Wolfgang Heinz: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 2001
(Stand: Berichtsjahr 2001) Version: 6/2003

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V. Zusammenfassung

1. Die Neubestimmungdes Verhältnisses zwischen Bürger und Staat als Folge der Betonung verfassungsrechtlicher und menschenrechtlicher Grenzen des Strafrechts hat nicht nur zu einem Wandel der traditionellen Auffassungen von Strafrecht und Kriminalität geführt, sondern auch zu einer tiefgreifenden Veränderung des Sanktionensystems. Entkriminalisierung, insbesondere auf verfahrensrechtlichem Weg, und der Umbau des klassischen Vergeltungsstrafrechts zu einem präventiv orientierten Strafrecht sind hierfür kennzeichnend.

2. Die Entwicklung der Sanktionierungspraxis in Deutschland ist gekennzeichnet durch die nachhaltige Zurückdrängung der vollstreckbaren, freiheitsentziehenden Sanktionen. 1882 betrug der Anteil der unbedingten freiheitsentziehenden Sanktionen 76,8%, 2001 nur noch 8,9% aller nach Jugend- und Erwachsenenstrafrecht verhängten Sanktionen. Werden auch die Einstellungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG berücksichtigt, dann dürften 2001 lediglich noch 4,0% aller sanktionierbaren Personen zu einer unmittelbar mit Freiheitsentziehung verbundenen Sanktion verurteilt worden sein.

3. Das kriminalpolitische Konzept der Diversion hat sich durchgesetzt, wie der zunehmende Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG zeigt. Nur noch jeder zweite Beschuldigte, bei dem Staatsanwaltschaft oder Gericht hinreichenden Tatverdacht bejahen, wird auch tatsächlich verurteilt.

Im allgemeinen Strafrecht wird der Anstieg der Fallzahlen vor allem durch vermehrten Gebrauch der folgenlosen Einstellung gem. §§ 153, 153b StPO aufgefangen.

Defizite, wie insbesondere die regional extrem unterschiedliche Handhabung der §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG, die sowohl im allgemeinen Strafrecht als auch - und vor allem - im Jugendstrafrecht bestehen, konnten bislang nicht ausgeräumt werden. Es hängt weitgehend vom Wohnort ab, ob das Verfahren eingestellt oder ob angeklagt und verurteilt wird.

4. Innerhalb der formellen Sanktionen ist die Entwicklung gekennzeichnet

Gegenüber den weitaus praktikableren Opportunitätsvorschriften, namentlich des § 153a StPO, konnten sich neue Rechtsinstitute, wie die Verwarnung unter Strafvorbehalt, nicht durchsetzen.

Die praktische Bedeutung von Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung entspricht nicht der straftheoretischen Bedeutung dieser Institute. Soweit die verfügbaren Informationen dies erkennen lassen, ist die quantitative Bedeutung immer noch (zu) gering.

5. Die Geldstrafe ist die Hauptstrafe der Gegenwart. Etwas mehr als 80% aller Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht lauten auf Geldstrafe. Diesen hohen Anteil konnte die Geldstrafe halten trotz des zunehmenden Gebrauchs der §§ 153 ff. StPO.

Die gesetzlichen Möglichkeiten der Geldstrafe werden von der Praxis nur unzulänglich ausgeschöpft; die Mehrzahl aller verhängten Geldstrafen übersteigt 30 Tagessätze nicht. Entsprechendes gilt für die Höhe der Tagessätze, und zwar sowohl für die obere wie die untere Höhe. Der hohe und in den letzten Jahren steigende Anteil der Ersatzfreiheitsstrafe sowie die hinter den Erwartungen zurückbleibende Entlastungswirkung der gemeinnützigen Arbeit signalisieren, dass hier eines der ungelösten Probleme liegt.

6. Die kurze Freiheitsstrafe wurde zwar deutlich zurückgedrängt, zur seltenen "Ausnahme" ist sie indes immer noch nicht geworden. 36,7% aller verhängten Freiheitsstrafen waren 2001 kürzer als 6 Monate. Ebenfalls nicht zur Ausnahme geworden sind die unbedingt verhängten kurzen Freiheitsstrafen; jede vierte (28,0%) nicht ausgesetzte Freiheitsstrafe war 2000 kürzer als 6 Monate. Erst recht nicht zur Ausnahme geworden sind vollstreckte kurze Freiheitsstrafen. Zu den unbedingt verhängten kurzen Freiheitsstrafen kommen noch Ersatzfreiheitsstrafen hinzu, widerrufene ausgesetzte kurze Freiheitsstrafen sowie Freiheitsstrafen, deren Vollstreckungsdauer wegen bedingter Entlassung oder Anrechnung von Untersuchungshaft verkürzt ist.

Die "Krise präventiven Strafdenkens" hat zu keiner Reduzierung der mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen geführt. Der Anteil der Freiheitsstrafen von 12 Monaten und mehr ist, auch bei Bezugnahme auf alle (informell oder formell) Sanktionierten, in den letzten Jahren leicht gestiegen.

7. Neben der Geldstrafe ist die Strafaussetzung zur Bewährung zur bedeutsamen Alternative zur vollstreckten Freiheitsstrafe geworden. Der Anteil der Strafaussetzungen gem. § 56 StGB an den Freiheitsstrafen hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt. Die Aussetzung ist bei Freiheitsstrafen bis zwei Jahre die Regel; die Praxis macht nicht nur bei Freiheitsstrafen bis 12 Monate, sondern zunehmend auch bei Strafen zwischen 12 und 24 Monaten von der Strafaussetzung zur Bewährung Gebrauch.

Das gesetzgeberische Experiment der Anhebung der Obergrenze der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe und das Experiment der Praxis, vermehrt vom Institut der Straf- und der Strafrestaussetzung Gebrauch zu machen, ist erfolgreich. Die Ausdehnung der Strafaussetzung ging einher mit einer deutlichen Erhöhung des Anteils der besonders risikobelasteten Probandengruppe und mit einem deutlichen Anstieg der Straferlassquote, namentlich bei den als besonders risikobelastet geltenden Gruppen.

8. Wie das allgemeine Strafrecht, so ist auch das Jugendstrafrecht gekennzeichnet durch einen Bedeutungsgewinn ambulanter Massnahmen, insbesondere der Weisungen bzw. der Auflagen. Allerdings weist die Zahl der erzieherischen Massnahmen seit Anfang der 90er Jahre eine deutlich rückläufige Entwicklung auf zugunsten punitiver Reaktionen, insbesondere zugunsten der Arbeitsauflagen. Auch wenn es sich hierbei um einen Austausch zwischen Arbeitsweisungen und Arbeitsauflagen handeln dürfte, so bleibt die Tatsache, dass sowohl Weisungen, namentlich Betreuungsweisungen, soziale Trainingskurse und Täter-Opfer-Ausgleich, als auch die Auflage der Schadenswiedergutmachung innerhalb der verhängten Sanktionen die seltene Ausnahme sind.

9. Der Rückgang stationärer Sanktionen im Jugendstrafrecht beruht vor allem auf dem nachhaltigen Rückgang des durch Urteil verhängten Jugendarrestes, ferner auf der vermehrten Strafaussetzung zur Bewährung. Der Anteil der zu Jugendstrafe insgesamt Verurteilten ging, bezogen auf die (informell oder formell) Sanktionierten, leicht zurück, allerdings nur im Bereich der Jugendstrafe unter 12 Monaten. Der Anteil der Jugendstrafen zwischen  12 Monaten und 2 Jahren ist indes leicht gestiegen.

Im Jugendstrafrecht werden - auch bei Berücksichtigung der höheren Diversionsrate im Jugendstrafrecht als im allgemeinen Strafrecht - häufiger freiheitsentziehende Sanktionen verhängt als im allgemeinen Strafrecht.Offenbar vertrauen Jugendrichter in höherem Masse auf die - empirisch allerdings nicht gestützte - Annahme einer rückfallmindernden Wirkung freiheitsentziehender Sanktionen. Durch Art und Schwere der Kriminalität dürfte dieser Unterschied jedenfalls kaum erklärbar sein, ist doch Jugendkriminalität im Schnitt weniger schwer als die Kriminalität von Erwachsenen.

10. Die Untersuchungshaftpraxis ist dysfunktional zu den spezialpräventiven Konzeptionen des Reformgesetzgebers. Dies betrifft sowohl die Häufigkeit der Anordnung von Untersuchungshaft als auch die Anordnung in Verfahren, die mit Verurteilung zu einer ambulanten Sanktion abgeschlossen werden. Jeder zweite nach allgemeinem Strafrecht verurteilte Untersuchungsgefangene erlebt den Freiheitsentzug nur in seiner resozialisierungsfeindlichsten Form, nämlich als Untersuchungshaft.

11. Im europäischen pönologischen Vergleich nimmt Deutschland, gemessen an Gefangenenraten, nur einen Mittelplatz ein. Das eigentliche Ziel der Strafrechtsreform, die nachhaltige Entlastung des Strafvollzugs, ist demnach nicht erreicht worden. Dies beruht auf einem Anstieg der registrierten Kriminalität. Dies beruht ferner darauf, dass die Erwartung, auch die Verhängung mittel- und langfristiger Freiheitsstrafen würde zurückgehen, sich nicht erfüllt hat; Deutschland zählt im europäischen Vergleich zu jenen Ländern, die eher von Strafen mit langer Dauer Gebrauch machen. Dies beruht schliesslich auf einem "Vollzug durch die Hintertür", insbesondere durch Untersuchungshaft, Ersatzfreiheitsstrafe und Widerrufe von Straf- und Strafrestaussetzungen.

Dementsprechend steht im Mittelpunkt der kriminalpolitischen Diskussion, dem internationalen Trend folgend, die Fortentwicklung des strafrechtlichen Sanktionensystems, insbesondere der weitere Ausbau von Alternativen zu stationären Sanktionen. "Das Nachdenken über die Alternativen zur Freiheitsstrafe beherrscht auch deshalb in verstärktem Masse die internationale Diskussion, weil der Strafvollzug die in ihn gesetzten Erwartungen offenbar nicht erfüllt. Rückfallquoten von mehr als 60 Prozent bescheinigen ihm Versagen; Haftschäden und Stigmatisierungswirkungen lassen ihn im Hinblick auf das Ziel der Resozialisierung geradezu als kontraindiziert erscheinen. Kosten-Nutzen-Analysen belegen das krasse Missverhältnis von Aufwand und Erfolg. Selbst der Behandlungsvollzug lässt sich mit dem Anspruch, derartige Mängel zu vermeiden, nur selten verwirklichen und schon gar nicht breitenwirksam anwenden. Es bestehen deshalb Zweifel, ob der Strafvollzug den an ihn gerichteten Anspruch überhaupt erfüllen kann. Ansätze, welche die Institution des Gefängnisses in Frage stellen, haben dort ihren Ausgangspunkt" (Kaiser, Günther: Kriminologie - ein Lehrbuch, 3. Aufl., Heidelberg 1996, S. 1032.)

12. Eine rationale Kriminalpolitik, die die tatsächlichen Grundlagen, die Wirkungen und die (etwaigen) Zielabweichungen rechtlicher Regelungen beobachten will (und muss), ist auf statistische Daten als Grundlage folgenorientierten Handelns angewiesen. Dem genügen, wie der Beitrag gezeigt hat, die gegenwärtigen Rechtspflegestatistiken nur begrenzt. Sie erlauben lediglich, die ungefähren Grössenordnungen und die Grobstrukturen der Sanktionierungspraxis von Staatsanwaltschaft und Gericht zu beschreiben. Über die Umsetzung moderner kriminalpolitischer Strömungen, wie Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) oder Diversion, lassen sich den Rechtspflegestatistiken entweder nur die Grössenordnungen (Diversion) oder, wie hinsichtlich des TOA, noch nicht einmal diese entnehmen. Die Täter- bzw. Tatengruppen, auf die diese Sanktionen angewendet werden, bleiben zur Gänze in einem statistischen Dunkelfeld.

Differenzierte Aussagen zur Sanktionsschwere sind im zeitlichen Längsschnitt nur hinsichtlich der Freiheitsstrafe und der Geldstrafe (seit 1975) möglich. In der StA-Statistik wird bei § 153a StPO nur die Art der Auflage, nicht aber deren Inhalt ausgewiesen, bei § 45 JGG fehlt jeglicher inhaltliche Nachweis. In der StVStat wird nur das Ob der Bewährungsauflage oder -weisung nachgewiesen. Derzeit verbleibt - vorsichtig formuliert - der grösste Teil der Sanktionierungspraxis in einem statistischen Graufeld.

Dringend geboten ist deshalb der Ausbau und die Verfeinerung des Systems der Rechtspflegestatistiken als Planungs- und Kontrollinstrument; dazu gehören vorrangig der Ausbau solcher Statistiken, in denen die "informellen" Sanktionen nachgewiesen werden, sowie der Auf- und Ausbau von Vollstreckungs- und Vollzugsstatistiken .

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Zitierhinweis: Heinz, Wolfgang: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 2001
(Stand: Berichtsjahr 2001) Internet-Publikation: <www.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks01.htm> Version 6/2003

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