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Wolfgang Heinz: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 2001
(Stand: Berichtsjahr 2001) Version: 6/2003
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III. Entwicklung der Sanktionierungspraxis in Deutschland (1882-2001)

3. Entwicklung und Stand der Sanktionierungspraxis im Jugendstrafrecht

3.1 Durch Jugendgerichte verurteilte Jugendliche und Heranwachsende

Die absolute Zahl der verurteilten Jugendlichen und (der nach allgemeinem oder nach Jugendstrafrecht verurteilten) Heranwachsenden hatte 1982 den bisherigen Höhepunkt mit 194.296 Verurteilten erreicht. Bis 1992 ging die Zahl der Verurteilten auf die Hälfte zurück (1992: 96.451), seitdem steigen die Verurteiltenzahlen wieder an (2001: 124.977). (Schaubild 21). Eine vergleichbare Entwicklung zeigt sich auch, wenn die nach allgemeinem Strafrecht verurteilten Heranwachsenden ausgeklammert werden. 1982 wurden 149.760 Jugendliche und Heranwachsende nach Jugendstrafrecht verurteilt, 1992 lediglich noch 71.839, 2001 waren es 96.675. Durch den zunehmenden Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten konnte dieser Anstieg nur gedämpft, aber nicht völlig aufgefangen werden. Denn auch die absoluten Zahlen der nach Jugendstrafrecht (gem. §§ 45, 47 JGG informell und der formell) Sanktionierten nehmen seit 1991 wieder zu (Schaubild 22).


Schaubild 21 (kissb21)


Schaubild 22 (kissb22)

Die durch das Jugendgerichtsgesetz von 1953 erfolgte partielle Einbeziehung der Heranwachsenden wurde seinerzeit als Ausnahme und als Experiment verstanden: Die Praxis sollte mit der neuen Lösung Erfahrungen sammeln, um beurteilen zu können, ob die gefundene Lösung durch Erweiterung oder Einengung korrigiert werden müsse. Die als Ausnahme gedachte Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht ist inzwischen die Regel: 1955 wurden lediglich 22,2% aller Heranwachsenden nach Jugendstrafrecht verurteilt, 2001 waren es dagegen 62,3% (Schaubild 23). Der vorläufige Höhepunkt war 1988 mit 65,0% erreicht, danach gingen die Raten zurück bis auf 57,7% (1994), seitdem bewegen sich die Raten zwischen 59 und 62%. Dieser Rückgang ist nur bei vordergründiger Betrachtung Ausdruck einer zurückhaltenderen Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende. Die genauere Analyse zeigt nämlich, dass Grund hierfür eine seit Ende der 80er Jahre zu beobachtende zunehmende Anwendung von allgemeinem Strafrecht auf nichtdeutsche Heranwachsende ist. Die Rate der nach Jugendstrafrecht verurteilten deutschen Heranwachsenden stieg dagegen bis 1983 auf etwas mehr als 60%; dieses hohe Niveau blieb seitdem - bei nur minimalen Schwankungen (1988: 64,7%; 1994 61,7%; 2001 63,4 %) - erhalten.


Schaubild 23 (kissb23)

Die deliktsspezifische Analyse zeigt, dass die Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht nach anderen Kriterien als denen des § 105 JGG erfolgt. Die Anwendung von Jugendstrafrecht nimmt, jedenfalls in der Tendenz, mit der Schwere der Straftat zu. Deliktsspezifische Ausfilterungseffekte durch unterschiedlichen Gebrauch der Diversionsmöglichkeiten sind eher bei leichterer und mittelschwerer Kriminalität zu erwarten; sie erklären jedenfalls nicht das Ausmass der Unterschiede in der Anwendung von Jugendstrafrecht. Auf Delikte, die keine schweren Rechtsfolgen nach sich ziehen und in einem summarischen Verfahren behandelt werden können, findet eher allgemeines Strafrecht Anwendung. Dies gilt insbesondere für Verkehrsdelikte (Schaubild 24).


Schaubild 24 (kissb24)

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3.2 Informelle Sanktionen

Entsprechend der Zielsetzung des JGG macht die Praxis von den Einstellungsmöglichkeiten der §§ 45, 47 JGG in noch stärkerem Masse als im allgemeinen Strafrecht Gebrauch. Allein zwischen 1981 und 2001 dürfte sich die Diversionsrate von 44% auf 69% erhöht haben (Schaubild 25). Der aus Schaubild 25 ersichtliche Anstieg 1997/1998 ist, wie in Tabelle 3 (im Anhang) gezeigt, ein nur scheinbarer, weil die Werte für die Vorjahre unterschätzt waren. Wie die seitherigen Ergebnisse zeigen, ist der Wert von 69% Einstellung stabil geblieben. Demnach ist die Einstellung des Verfahrens die Regel, die Verurteilung ist die Ausnahme. Im Unterschied zum allgemeinen Strafrecht, wo der vermehrte Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten dazu geführt hat, dass die Verurteiltenzahlen trotz des Anstiegs der Zahl der sanktionierbaren Personen in etwa konstant geblieben ist, wurde im Jugendstrafrecht trotz (bis 1991) sinkender Fallzahlen vermehrt eingestellt (Schaubild 22). Diversion dient hier nicht nur, wie vornehmlich im allgemeinen Strafrecht, der Verfahrensentlastung, vielmehr wird das spezialpräventive Konzept des Gesetzgebers, der eine Verfahrenseinstellung kriminalpolitisch für aussichtsreich und verantwortbar hält (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vom 27.11.1989, BT-Drs. 11/5829, S. 1, 13), von der Praxis umzusetzen versucht.


Schaubild 25 (kissb25)

Erwartungsgemäss ist die Diversionsrate im Jugendstrafrecht bei "Ersttätern", definiert über den ersten Eintrag im Bundeszentralregister (BZR), noch höher und dürfte deutlich zugenommen haben: Wie eine Auswertung der Eintragungen im BZR für die beiden Geburtsjahrgänge 1961 und 1967 gezeigt hat, wurden von sämtlichen erstmals im Jugendalter im BZR registrierten männlichen Jugendlichen des Geburtsjahrgangs 1961 53,5% informell sanktioniert; beim Geburtsjahrgang 1967 waren es schon 65,0% (Heinz, Wolfgang/ Spiess, Gerhard/Storz, Renate: Prävalenz und Inzidenz strafrechtlicher Sanktionierung im Jugendalter, in: Kaiser/Kury/Albrecht [Hrsg.]: Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, Freiburg i.Br. 1988, S. 655, Tab. 9). Der erste Kontakt mit der Justiz endete also schon in der zweiten Hälfte der 70er und in der ersten Hälfte der 80er Jahre für den männlichen jugendlichen "Ersttäter" im Regelfall ohne Verurteilung. Inzwischen dürfte die Einstellungsrate für "Ersttäter" noch höher liegen.

Zu diesem Anstieg hat entscheidend die Jugendstaatsanwaltschaft beigetragen (Schaubild 25). Denn es hat, gemessen an relativen Zahlen, vor allem das Absehen von der Verfolgung nach § 45 JGG zugenommen, insbesondere die Einstellung ohne Einschaltung des Richters (§ 45 Abs. 1 und Abs. 2 JGG, d.h. § 45 Abs. 2 JGG a.F.; 1981: 13,1%, 2001: 53,1%). Die Staatsanwälte haben hierbei ihre "Sanktionskompetenz" nicht nur zu Lasten von Anklagen ausgebaut, sondern auch zu Lasten der Beteiligung des Jugendrichters nach § 45 Abs. 3 (§ 45 Abs. 1 a.F.) JGG und § 47 JGG.

Der Anteil der Verurteilten an allen (informell und formell) Sanktionierten ging dementsprechend zwischen 1981 und 2001 um 25 Prozentpunkte zurück, was überwiegend auf einem Rückgang der Verhängung von Erziehungsmassregeln und ambulanten Zuchtmitteln (1981-2001: -17%) beruhte, aber auch, wenngleich in deutlich geringerem Masse, von Jugendarrest (1981-2001: -6%) und Jugendstrafe (1981-2001: -2%) (Schaubild 26).


Schaubild 26 (kissb26)

Zu den rechtsstaatlichen Defiziten zählt, dass die Einstellungsmöglichkeiten des JGG in regional extrem unterschiedlichem Masse genutzt werden. Die Unterschiede im Gebrauch der §§ 45, 47 JGG übersteigen jene beim Gebrauch der Einstellungsmöglichkeiten der §§ 153, 153a, 153b StPO bei weitem (Schaubild 27). Die Diversionsrate betrug z.B. 2001 im Saarland 49,5%, in Hamburg dagegen 84,8% (Schaubild 28).

Unterschiede bestehen nicht nur hinsichtlich des Ausmasses, in dem von §§ 45, 47 JGG Gebrauch gemacht wird. Höchst unterschiedlich ist vor allem das Mass, in dem von richterlicher Diversion (§ 47 JGG) bzw. von der Einschaltung des Jugendrichters (§ 45 Abs. 3 JGG) Gebrauch gemacht wird. 2001 wurde in Baden-Württemberg (84,9%), Nordrhein-Westfalen (84,3), Rheinland-Pfalz (94,2%) und in Niedersachsen (80,9%) bei über 80% aller informell Sanktionierten das Verfahren gem. § 45 Abs. 1, 2 JGG eingestellt; in Bayern (57,6%) und in Bremen (58,9%) dagegen bei weniger als 60%. Eine weitere Ungleichbehandlungscheint auch hinsichtlich des Gebrauchs der Anklage zu bestehen. Von sämtlichen informellen Sanktionen wurden 2001 in Rheinland-Pfalz nur 5,6% und im Saarland 10,9% und in Baden-Württemberg 12,4% gem. § 47 JGG, also nach Anklage, eingestellt, in Berlin dagegen 33,8% und in Bremen 37,7% (alte Länder insg. 17,8%). Auch hierdurch ergibt sich eine ungleiche Belastung, wird doch im Falle des § 47 JGG Anklage erhoben, wo in vergleichbaren Fällen in anderen Ländern das Verfahren ohne Anklage eingestellt wird. Der Kilometerstein des Tatortes entscheidet somit in nicht unerheblichem Masse nicht nur darüber, ob das Verfahren eingestellt oder mit einer Verurteilung abgeschlossen wird, sondern entscheidet auch darüber, ob folgenlos oder in unterschiedlicher Weise belastend (intervenierend) eingestellt wird.

Diese Diskrepanzen beruhen in diesem Ausmass nicht auf einer unterschiedlichen Kriminalitätsstruktur oder auf Abweichungen in den Merkmalen der Täter in den einzelnen Ländern, denn beim Vergleich homogener Tat- und Tätergruppen gehen diese Unterschiede nicht zurück. Eine Auswertung der Eintragungen im Bundeszentralregister für die Jugendlichen des Geburtsjahrganges 1961 ergab z.B., dass bei einer ersten Auffälligkeit wegen "einfachen Diebstahls" (§§ 242, 247, 248a StGB) in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg über 80% aller Verfahren nach §§ 45, 47 JGG eingestellt worden waren; in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz war dies lediglich bei rd. 43% der Fall. Vergleichbare Unterschiede wurden festgestellt bei einer ersten Auffälligkeit wegen "Fahren ohne Fahrerlaubnis" (§ 21 StVG), einem sog. Taxendelikt, bei dem typischerweise nach objektiven Kriterien routinemässig entschieden wird (vgl. Storz, Renate: Jugendstrafrechtliche Reaktionen und Legalbewährung, in: Heinz/Storz: Diversion im Jugendstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992, S. 155 Tab. 11).


Schaubild 27 (kissb27)


Schaubild 28 (kissb28)

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3.3 Formelle Sanktionen

3.3.1 Bedeutungsgewinn ambulanter Massnahmen

Innerhalb der formellen, d.h. der durch Urteil verhängten Sanktionen kam es zu einer Zurückdrängung stationärer Sanktionen zugunsten solcher ambulanter, also den Freiheitsentzug vermeidender Massnahmen. 1955 entfielen lediglich 50,4% auf ambulante Sanktionen als schwerste Massnahme, 2001 waren es dagegen 75,6% (Schaubild 29).


Schaubild 29 (kissb29)

Unter den ambulanten Sanktionen - als schwerster Massnahme - haben insbesondere die ambulanten Erziehungsmassregeln und die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung zunehmend an Bedeutung gewonnen (Schaubild 30). Der in der zweiten Hälfte der 80er Jahre erfolgte Bedeutungsgewinn der ambulanten Erziehungsmassregeln, genauer: der Weisungen, ging im Gefolge des 1. JGGÄndG allerdings wieder verloren zugunsten der ambulanten Zuchtmittel, namentlich zugunsten der 1990 eingeführten Arbeitsauflage, wobei es sich hierbei um einen Austausch zwischen Arbeitsweisung und Arbeitsauflage gehandelt haben dürfte. Dementsprechend ist der Anteil der ambulanten Zuchtmittel, und zwar insbesondere in Form von Verwarnung und Auflage, wieder deutlich gestiegen auf zuletzt (2001) 75,5% aller ambulanten Sanktionen.


Schaubild 30 (kissb30)

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3.3.2 Die formellen Sanktionen im einzelnen

3.3.2.1 Erziehungsmassregeln

Unter den Erziehungsmassregeln dominieren die Weisungen (Schaubild 31). Wie die Fürsorgeerziehung und Erziehungsbeistandschaft nach altem Recht, so sind auch die an deren Stelle getretenen Hilfen zur Erziehung (§ 12 JGG i.V.m. KJGH) quantitativ bedeutungslos.


Schaubild 31 (kissb31)

In der StVStat werden die verhängten formellen Sanktionen im wesentlichen nur der Art nach ausgewiesen. Die Inhalte der Massnahmen, also z.B. die Art der erteilten Weisung, die Höhe der Geldauflage, die Stunden der angeordneten Arbeitsauflage, werden, abgesehen von dem Nachweis der Dauer der bedingten und unbedingten Jugendstrafe, nicht erhoben. Aussagen über die Art der Weisungen sind deshalb anhand der StVStat nicht möglich.

Erprobt und institutionalisiert wurden in den letzten Jahrzehnten insbesondere die sog. "neuen ambulanten Massnahmen nach dem JGG", d.h. Betreuungsweisungen, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich und Arbeitsweisungen. Dem Jugendlichen und Heranwachsenden sollen hierdurch stützende, helfende, chancenverbessernde und integrierende Massnahmen angeboten werden. Dem Jugendstaatsanwalt und dem Jugendrichter werden zusätzliche ambulante sozialpädagogische Alternativen zu stationären Sanktionen eröffnet. In jüngster Zeit werden zunehmend die Schadenswiedergutmachung und der Täter-Opfer-Ausgleich favorisiert. Beim jugendlichen Straftäter soll hierdurch die Wahrnehmung von Opferschäden gefördert, soziale Verantwortung aktiviert und die Chance einer privatautonomen Lösung genutzt werden. Über den Umfang, in dem von diesen "neuen ambulanten Massnahmen" Gebrauch gemacht wird, liegen keine statistischen Angaben für die Bundesrepublik vor. Aus Umfrageergebnissen lässt sich jedoch auf einen deutlich zunehmenden Gebrauch schliessen; wenngleich insgesamt gesehen die absoluten Zahlen noch relativ niedrig sind.

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3.3.2.2 Zuchtmittel

Innerhalb der Zuchtmittel fand eine Verschiebung statt, und zwar von Jugendarrest zugunsten vor allem von Auflagen (Schaubild 32). Unter den Auflagen dominiert die Auflage, einen Geldbetrag zu zahlen; erst im Gefolge des 1. JGGÄndG hat die Arbeitsauflage - zu Lasten der Erziehungsmassregeln und zu Lasten der Zahlung eines Geldbetrages - deutlich an Bedeutung gewonnen (Schaubild 33). Die weiteren Auflagen sind quantitativ bedeutungslos.


Schaubild 32 (kissb32)


Schaubild 33 (kissb33)

71,9% aller stationären Sanktionen entfallen derzeit (2001) auf durch Urteil verhängten Jugendarrest (Schaubild 29), und zwar zu etwa gleichen Teilen auf Dauer- und auf Freizeitarrest (Schaubild 34). Kurzarrest war und ist weitgehend bedeutungslos.


Schaubild 34 (kissb34)

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3.3.2.3 Jugendstrafe

3.3.2.3.1 Jugendstrafe insgesamt

Die - durch das 1. JGGÄndG aufgehobene - Jugendstrafe von (relativ) unbestimmter Dauer hatte schon Ende der 50er Jahre zugunsten der Jugendstrafen von mehr als einem Jahr kontinuierlich und drastisch an Bedeutung verloren (Schaubild 35).


Schaubild 35 (kissb35)

Der Anteil der insgesamt zu Jugendstrafe Verurteilten an allen Verurteilten war seit Beginn der 60er Jahre und bis 1990 (1990: 15,7%) im wesentlichen konstant (Schaubild 29). In den letzten Jahren stieg diese Rate jedoch deutlich an auf ihren bisherigen Höchststand von 19,5% (1994); 2001 beträgt diese Rate 18,3%. Dies geht vor allem zurück auf Anstiege bei mittel- (1 Jahr bis 2 Jahre) und bei langfristigen (über 2 Jahre) Jugendstrafen.

Wegen des hohen und zunehmenden Anteils der gem. §§ 45, 47 JGG eingestellten, also nicht zur Verurteilung führenden Verfahren ist jedoch eine derartige, lediglich auf die Anteile an den Verurteilten abstellende Betrachtungsweise irreführend. Denn durch Einstellungen gelangen - empirisch gesehen - die leichteren Fälle nicht mehr zur Verurteilung, weshalb sich unter den Verurteilungen der relative Anteil der "schweren" Fälle, für die - ebenfalls empirisch betrachtet - eher freiheitsentziehende Sanktionen als "erforderlich" erachtet werden, deutlich erhöht. Notwendig ist deshalb eine Bezugnahme auf die "Sanktionierten", d.h. die Gesamtzahl der Personen, die entweder verurteilt worden sind oder bei denen das Verfahren eingestellt worden ist (Schaubild 36, der Rückgang 1998 vs. 1997 ist ein nur scheinbarer, weil, wie gezeigt [vgl. Tabelle 3 im Anhang], die Bezugsgrösse [Sanktionierte insg.] in den Vorjahren unterschätzt war). Dabei zeigt sich, jedenfalls für den Zeitraum ab 1981, für den statistische Daten vorliegen, ein leichter Rückgang der insgesamt verhängten Jugendstrafen. Dieser Rückgang beruht auf der Entwicklung bei Jugendstrafen bis 12 Monate. Der Anteil der Jugendstrafen zwischen 12 Monaten und 2 Jahren ist indes leicht gestiegen.


Schaubild 36 (kissb36)

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3.3.2.3.2 Zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe

Zwischen ausgesetzter und unbedingt verhängter Jugendstrafe fand ein Austausch statt. 2001 wurden 63,0% aller Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt (70,6% der aussetzungsfähigen Jugendstrafen), 1955 waren es lediglich 32,4%. Die Aussetzungsquoten sind umso höher, je kürzer die verhängten Jugendstrafen sind, aber selbst bei Jugendstrafen zwischen einem Jahr und zwei Jahren wurden 2001 57,3% der Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt (Schaubild 37).


Schaubild 37 (kissb37)

Wie im allgemeinen Strafrecht, so wurde auch im Jugendstrafrecht vermehrt eine nach "klassischen" prognostischen Kriterien "schwierige" Klientel in die Strafaussetzung zur Bewährung einbezogen. Wie dort, so ging auch hier die Ausdehnung der Strafaussetzung nicht nur einher mit einer deutlichen Erhöhung des Anteils der besonders risikobelasteten Probandengruppe (Schaubild 38), sondern auch mit einem deutlichen Anstieg der Straferlassquote, namentlich bei den als besonders risikobelastet geltenden Gruppen (Schaubild 39); in den letzten Jahren gehen, wie im allgemeinen Strafrecht, die Erlassquoten indes wieder zurück. Wie der Vergleich der Erlassquoten für unterschiedlich vorbelastete Gruppen zeigt, liegen die Bewährungsquoten der vorbelasteten Probanden unter der prognostisch günstigsten Gruppe der erstmals Verurteilten; in der positiven Entwicklung bleiben sowohl die Gruppe der bereits zuvor verurteilten als auch die Untergruppe der bereits zuvor unter Bewährungsaufsicht gestellten Probanden nicht hinter derjenigen der erstmals verurteilten Probanden zurück.


Schaubild 38 (kissb38)


Schaubild 39 (kissb39)

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3.4 Untersuchungshaft

Mit der Untersuchungshaft werden sämtliche Nachteile der kurzfristigen Jugendstrafe beibehalten, wenn nicht gar noch verschärft. Von einer erzieherischen Gestaltung und Wirkung des Untersuchungshaftvollzugs kann in der Regel nicht gesprochen werden. Der Gesetzgeber hat deshalb in § 72 JGG die Subsidiarität der Untersuchungshaft festgelegt; durch das 1. JGGÄndG von 1990 wurde dieses Subsidiaritätsgebot verstärkt. Erwartet wurde, die in § 72 Abs. 1 S. 2 JGG ausdrücklich vorgesehene Pflicht zur Prüfung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes dürfte ebenso wie der Begründungszwang nicht ohne Einfluss auf die Fallzahlen bleiben. Eingeschränkt werden sollte die Untersuchungshaft ferner durch die Erleichterung der Unterbringung in einem Erziehungsheim, durch Einbeziehung einer Haftentscheidungshilfe sowie durch die Einschränkung der Untersuchungshaft gegen 14- und 15jährige.

Dennoch sind, wie die seit 1975 verfügbaren Daten der StVStat zeigen, die Untersuchungshaftraten im Jugendstrafrecht nicht, wie angesichts des jugendstrafrechtlichen Subsidiaritätsgebots zu erwarten war, wesentlich niedriger als im allgemeinen Strafrecht; seit 1988 sind sie sogar deutlich höher und stärker angestiegen (Schaubild 19). In der ersten Hälfte der 90er Jahre war die U-Haftrate im statistisch überblickbaren Zeitraum höher als je zuvor; erst seit 1994 gehen die Raten deutlich zurück. Dies dürfte mit eine Folge der Entwicklung im Bereich der Ausländerkriminalität sein.

Die altersspezifische Differenzierung ergibt, dass die Untersuchungshaftraten bei den Heranwachsenden deutlich über, die entsprechenden Raten der Jugendlichen dagegen deutlich unter jenen der Erwachsenen liegen. Wie Jehle bei seiner Analyse der Individualdatensätze der StVStat (Jehle, Jörg-Martin: Entwicklung der Untersuchungshaft bei Jugendlichen und Heranwachsenden vor und nach der Wiedervereinigung, Bonn 1995, S. 50 ff) zeigen konnte, sind die Haftraten vor allem bei der Gruppe der Nichtdeutschen angestiegen, die weder aus "Gastarbeiterländern" noch aus EU-Ländern stammt. Die Reaktion auf Zuwandererkriminalität führt auch zu Unterschieden in der Haftanordnung: Diese Gruppe wird "überwiegend wegen weniger schwerer Delikte sowie für kürzere Zeit verhaftet und erhält geringere Strafen" (Jehle aaO., S. 66). Aber auch bei Berücksichtigung der Probleme der Zuwandererkriminalität bleibt die Haftpraxis hinter den gesetzlichen Intentionen zurück: "So erscheinen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit die immer noch hohen Anteile von Vermögensdelikten im weiteren Sinne, von kurzer Haftdauer und von ambulanten Sanktionen bei jugendlichen Abgeurteilten mit Untersuchungshaft problematisch. Dass bei der Anordnungspraxis durchaus Spielräume bestehen, darauf weisen die erheblichen regionalen Unterschiede hin. ... Der Befund, dass Jugendliche wegen weniger schwerer Delikte und kürzer inhaftiert sowie seltener mit vollstreckbaren Freiheitsentziehungen sanktioniert werden als Erwachsene, kann auch so gedeutet werden, dass hier neben strafrechtlichen Kriterien die soziale und persönliche Situation der Verhafteten eine verstärkte Rolle spielt. Insoweit werden offenbar die vom Gesetzgeber vorgesehenen Instrumente, insbesondere Einschaltung der Jugendgerichtshilfe und die Bereitstellung alternativer Heimplätze, in der Praxis nicht im intendierten Mass wirksam." (Jehle aaO., S. 9).

Untersuchungshaft darf gem. § 112 Abs. 1 S. 2 StPO "nicht angeordnet werden, wenn sie ... zu der zu erwartenden Strafe ... ausser Verhältnis steht". Sonst würde die angeordnete - und regelmässig auch vollzogene - Untersuchungshaft stärker in das Freiheitsrecht des als unschuldig Geltenden eingreifen als die Reaktion, die aus der Verurteilung des als schuldig Erkannten folgt. Wegen dieser Abhängigkeit der Untersuchungshaftanordnung von der Sanktionsprognose ist deshalb zu erwarten, dass weitaus mehr Untersuchungsgefangene zu stationären als zu ambulanten Sanktionen verurteilt werden. Erwartungswidrig wird aber nur knapp jeder zweite (2001: 48,4%) nach Jugendstrafrecht verurteilte Untersuchungsgefangene zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe verurteilt. Wie im allgemeinen Strafrecht, so erlebt auch im Jugendstrafrecht ein ganz erheblicher Teil der Verurteilten deshalb den Freiheitsentzug nur in seiner resozialisierungsfeindlichsten Form, nämlich in der der Untersuchungshaft (Schaubild 40).


Schaubild 40 (kissb40)

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4. Freiheitsentziehende Sanktionen nach allgemeinem Strafrecht und nach Jugendstrafrecht im Vergleich

Wie der Vergleich der freiheitsentziehenden Sanktionen nach allgemeinem und nach Jugendstrafrecht zeigt, werden, und zwar auch bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Diversionsraten, im Jugendstrafrecht mehr freiheitsentziehende Sanktionen angeordnet als im allgemeinen Strafrecht (Schaubild 41; Schaubild 42). Der Unterschied wird, bei Kontrolle des Umrechnungsverfahrens für die informell Sanktionierten (vgl. Tabellen 3 und 4 im Anhang), für 1998 eher noch grösser.


Schaubild 41 (kissb41)


Schaubild 42 (kissb42)

Im Jugendstrafrecht werden im statistisch überblickbaren Zeitraum ab 1981, bezogen auf alle Sanktionierten, deutlich mehr freiheitsentziehende Sanktionen mit einer Dauer zwischen 12 und 24 Monaten verhängt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, trifft dies auch zu bei Sanktionen mit einer Dauer von mehr als 24 Monaten (Schaubild 43). Im allgemeinen Strafrecht werden dementsprechend etwas häufiger Strafen zwischen 6 und 12 Monaten verhängt. Die Freiheitsstrafen unter 6 Monaten des allgemeinen Strafrechts haben im Jugendstrafrecht wegen der Mindestdauer der Jugendstrafe von 6 Monaten keine Entsprechung. Auffallend ist indes, dass Jugendarrest weitaus häufiger verhängt wird als die kurze Freiheitsstrafe nach allgemeinem Strafrecht.


Schaubild 43 (kissb43)

Offenbar vertrauen Jugendrichter in höherem Masse auf die - empirisch allerdings nicht gestützte - Annahme einer rückfallmindernden Wirkung freiheitsentziehender Sanktionen. Durch Art und Schwere der Kriminalität dürfte dieser Unterschied jedenfalls kaum erklärbar sein, ist doch Jugendkriminalität im Schnitt weniger schwer als die Kriminalität von Erwachsenen.

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5. Europäischer pönologischer Vergleich

Trotz des an der StVStat ablesbaren Befunds der nachhaltigen Zurückdrängung der verhängten, vollstreckbaren Freiheitsstrafe nimmt die Bundesrepublik im europäischen pönologischen Vergleich keinen der vorderen Plätze ein. Dem am häufigsten verwendeten Indikator zufolge, der Gefangenenrate, d.h. der Zahl der Vollzugsinsassen pro 100.000 der jeweiligen Wohnbevölkerung, weist die Bundesrepublik Deutschland eine relativ hohe Gefangenenrate auf (Schaubild 44). Dies ist vor allem eine Folge des Gebrauchs von mittel- und langfristigen Freiheitsstrafen. Im europäischen Vergleich zählt Deutschland zu jenen Ländern, die eher von Strafen mit vergleichsweise langer Dauer Gebrauch machen.


Schaubild 44 (kissb44)

 
 
IV. Entwicklung der Massregelpraxis in Deutschland
1. Freiheitsentziehende Massregeln der Besserung und Sicherung
Der Anteil der Abgeurteilten, gegen die freiheitsentziehende Massregeln der Besserung und Sicherung (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in einer Entziehungsanstalt, in Sicherungsverwahrung) angeordnet wurden, ist insgesamt sehr gering, in den letzten zwei Jahrzehnten jedoch deutlich gestiegen (vgl. Tabelle 4). 1976 kamen auf 100 Abgeurteilte 0,10 mit freiheitsentziehenden Massregeln, 2001 0,25. Dieser Anstieg geht vor allem zurück auf die zunehmend häufiger angeordnete Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Sicherungsverwahrung wird immer noch relativ zurückhaltend angeordnet, wenngleich mit leicht steigender Tendenz.
Die Anordnung von freiheitsentziehenden Massregeln der Besserung und Sicherung, insbesondere die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, ist – insgesamt gesehen – eine seltene Ausnahme. Wie die deliktsspezifische Analyse zeigt, sind die Anteile deutlich höher bei Straftaten gegen das Leben (ohne Straftaten im Strassenverkehr) (vgl. Tabelle 5a/5b). 2001 wurden bei 10% der wegen Tötungsdelikten Angeklagten eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, darunter überwiegend - 73% - bei Schuldunfähigen. Die Unterbringungsquoten bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung  sind demgegenüber geringer, liegen aber immer noch deutlich über dem Durchschnitt. Die Schuldunfähigkeit steht bei dieser Deliktskategorie nicht im Vordergrund.

Entsprechend der gesetzlichen Regelung wird bei abgeurteilten Schuldunfähigen überwiegend eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt angeordnet. 2001 war dies bei drei von vier Abgeurteilten (73%) der Fall (vgl. Tabelle 6a). In Fällen der Schwerkriminalität ist der Anteil der abgeurteilten Schuldunfähigen, bei denen eine Unterbringung angeordnet wurde, mit 90% oder mehr deutlich höher. Die Unterbringungsraten beliefen sich 2001 bei Delikten gegen das Leben oder ein Delikt gegen die sexuelle Selbstbestimmung auf 98%, bei Raub, räuberische Erpressung auf 97% und bei Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit immerhin noch auf 90%.

Im Unterschied zur Schuldunfähigkeit führt die Feststellung verminderter Schuldfähigkeit zwar regelmässig zu einer Strafmilderung, nicht aber zu einer Unterbringung, und zwar selbst bei schweren Straftaten (vgl. Tabelle 6b). So erfolgte 2001 z.B. keine Unterbringung bei 70% der im Zusammenhang mit Delikten gegen das Leben Abgeurteilten, bei denen eine verminderte Schuldfähigkeit festgestellt wurde.

2. Ambulante Massregeln der Besserung und Sicherung

Unter den nicht-freiheitsentziehenden Massregeln der Besserung und Sicherung (Führungsaufsicht, Berufsverbot, Entziehung der Fahrerlaubnis) dominiert die Fahrerlaubnisentziehung (Tabelle 7). Sie wird dann angeordnet, wenn jemand bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers eine rechtswidrige Tat begangen hat, z.B. eine fahrlässige Körperverletzung im Strassenverkehr oder eine Trunkenheitsfahrt. Mit der Fahrerlaubnisentziehung wird eine Sperre für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis verbunden. Alternativ kann als Denkzettelstrafe gegen Kraftfahrzeugfahrer neben einer Freiheits- oder Geldstrafe eine Fahrverbot verhängt werden (§ 44 StGB). Im Unterschied zur Fahrerlaubnisentziehung bleibt der Verurteilte bei dieser Nebenstrafe Inhaber der Fahrerlaubnis, er darf von ihr nur für die im Urteil bestimmte Dauer (ein bis drei Monate) keinen Gebrauch machen.

2001 wurden im früheren Bundesgebiet (einschliesslich Berlin) insgesamt 54% der wegen Straftaten im Strassenverkehr Abgeurteilten die Fahrerlaubnis entzogen und weiteren 12% ein Fahrverbot erteilt. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde von diesen Reaktionsmöglichkeiten zunehmend Gebrauch gemacht. Seit Mitte der 70er Jahre stieg der Anteil der mit einer Fahrerlaubnisentziehung oder einem Fahrverbot belegten Abgeurteilten von 52% (1976) auf 66% (2001) an. Mit einem Anteil zwischen 82% und 89% an allen Fahrerlaubnisentziehungen/Fahrverboten dominiert die Fahrerlaubnisentziehung.
 
 
Tabellen zu IV: Entwicklung der Massregelpraxis in Deutschland 
Tabelle 4: Abgeurteilte mit freiheitsentziehenden Massregeln der Besserung und Sicherung 1976 bis 2001
Tabelle 5a: Wegen Verbrechen oder Vergehen Abgeurteilte mit freiheitsentziehenden Massregeln der Besserung und Sicherung, nach Deliktsart (absolute Zahlen)
Tabelle 5b: Wegen Verbrechen oder Vergehen Abgeurteilte mit freiheitsentziehenden Massregeln der Besserung und Sicherung, nach Deliktsart. (in % der Abgeurteilten)
Tabelle 6a: Schuldunfähige Abgeurteilte mit freiheitsentziehenden Massregeln der Besserung und Sicherung, nach Deliktsart. 
Tabelle 6b: Vermindert schuldfähige Verurteilte mit freiheitsentziehenden Massregeln der Besserung und Sicherung, nach Deliktsart. 
Tabelle 7: Entziehung der Fahrerlaubnis (Sperre) und Fahrverbot. 


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zuletzt geändert am 30.6.2003 [sanks01d.htm]