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Wolfgang Heinz: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 2001
(Stand: Berichtsjahr 2001) Version: 6/2003

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II. Beschreibung und Analyse der Sanktionierungspraxis anhand der amtlichen Rechtspflegestatistiken

1. Die amtlichen Rechtspflegestatistiken als Datenquellen

Grundlage für die folgende Darstellung der Sanktionierungspraxis von Staatsanwaltschaft und Gericht sind die amtlichen Rechtspflegestatistiken.

Für die Zeit vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 kommt als Datenquelle lediglich die 'Kriminalstatistik für das Deutsche Reich' in Betracht, deren Ergebnisse für die Berichtsjahre 1882 bis 1939 veröffentlicht worden sind.

Für die Bundesrepublik Deutschland stehen in Form koordinierter Länderstatistiken zur Verfügung:

Bei Abschluss des Manuskripts standen folgende Rechtspflegestatistiken für die Auswertung zur Verfügung:

Die Ergebnisse der StA-Statistik für 2001. 1998 war in Hamburg und Schleswig-Holstein die Aufbereitung der StA-Statistik ausgesetzt, weshalb für diese beiden Länder die Ergebnisse für 1997 als Näherungswerte zugrunde gelegt wurden. Wegen Aufbereitungsproblemen liegen in Schleswig-Holstein auch für die Folgejahre keine aktuelleren Ergebnisse vor als jene aus 1997; seit 1997 werden deswegen jeweils erneut die Ergebnisse für dieses Berichtsjahr als Näherungswert verwendet. In Sachsen-Anhalt konnten für das vollständige Kalenderjahr 1999 keine Geschäftsergebnisse erstellt werden, die Ergebnisse für 1999 beziehen sich auf den Zeitraum vom 1.7.1999 bis zum 30.6.2000.

Die Ergebnisse der StVStat liegen für das Berichtsjahr 2001 vor. In den Jahren zuvor kam es in einigen Ländern aufgrund arbeitsorganisatorischer Massnahmen in Gerichten und Staatsanwaltschaften teilweise zu verspätet abgegebenen Meldungen zur Strafverfolgungsstatistik mit der Folge, dass Fälle aus dem aktuellen Berichtsjahr (Kriterium: Rechtskraft der Entscheidung) erst im Folgejahr nachgewiesen werden konnten. Dieser zeitliche Zuordnungsfehler verteilt sich nach Kenntnis des Statistischen Bundesamtes auf die Berichtsjahre 2000, 2001 und 2002. Auf Bundesebene dürften nach Einschätzung des Statistischen Bundesamtes die absoluten Zahlen über Abgeurteilte und Verurteilte sowie die Veränderungsraten im Wesentlichen zutreffend sein.

Die Ergebnisse der BewH-Statistik wurden zuletzt für das Berichtsjahr 1997 (seit 1992 ohne Hamburg) veröffentlicht; Eckdaten für 1998 wurden vom Statistischen Bundesamt in Reihe 1 – Ausführliche Ergebnisse – veröffentlicht. Die vollständigen Daten wurden für Zwecke der vorliegenden Auswertung vom Statistischen Bundesamt dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt.

Die StVollz-Statistik lag für das Berichtsjahr 2001 (Anstalten, Bestand und Bewegung) bzw. zum Stichtag 31.3.2000 (demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen) vor.

In regionaler Hinsicht lagen Ergebnisse aus folgenden Statistikbereichen vor:

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2. Aussagemöglichkeiten und Aussagegrenzen der amtlichen Rechtspflegestatistiken Den Möglichkeiten der Deskription der Sanktionierungspraxis werden durch diese Informationsinstrumente - die Rechtspflegestatistiken - Grenzen gesetzt. Zum einen sind die statistischen Daten aus den verschiedenen Statistikbereichen nur begrenzt aufeinander beziehbar und untereinander vergleichbar. Zum anderen werden Aussagemöglichkeiten und -grenzen vor allem dadurch bestimmt, welche Daten erhoben und wie diese Daten für Zwecke der Veröffentlichung aufbereitet werden. Speziell für Zeitreihenanalysen ergeben sich weitere Grenzen der Aussagemöglichkeiten aus dem Wechsel von Erhebungs- bzw. Aufbereitungskategorien sowie aus dem - in regionaler und/oder zeitlicher Hinsicht - Fehlen statistischer Daten. Bezogen auf die beiden, der folgenden Darstellung vor allem zugrunde liegenden Statistiken - StA-Statistik, StVStat - heisst dies:

2.1 Probleme der Vergleichbarkeit der Ergebnisse von StA-Statistik und StVStat

  1. Die Erhebungseinheiten beider Statistiken stimmen nicht überein. In der StA-Statistik sind Erhebungseinheiten Ermittlungsverfahren, in der StVStat dagegen Personen. Die hieraus resultierenden Unterschiede - von einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren sind im Schnitt 1,2 Personen (Beschuldigte) betroffen (2001 kamen auf 5.412.125 Beschuldigte 4.555.675 Ermittlungsverfahren) - können durch entsprechende Umrechnungen nur ungefähr ausgeglichen werden. Wie die erstmals für das Berichtsjahr 1999 auch für die StA-Statistik erhobenen personenbezogenen Daten zeigen (vgl. Anhang, Tabelle 1 und 2), wurde durch das bisher vom Verf. verwendete Umrechnungsverfahren die Zahl der Personen, deren Ermittlungsverfahren gem. § 45 JGG eingestellt worden war, im Schnitt der alten Bundesländer um gut 10% (bezogen auf die Einstellungen gem. § 45 JGG) unterschätzt, die Zahl der nach JGG (informell oder formell) Sanktionierten um rd. 6%. Die Zahl der nach allgemeinen Vorschriften - §§ 153, 153a, 153b StPO - informell Sanktionierten ist in geringerem Masse unterschätzt (rd. 3%). Der in den Schaubildern sichtbare Anstieg der Diversionsraten von 1997 auf 1998 ist deshalb, und zwar sowohl im allgemeinen Strafrecht als auch im Jugendstrafrecht, ein nur scheinbarer; er beruht auf der Umstellung von den bisherigen "umgerechneten" Ergebnissen auf die nunmehr vorliegenden "echten" personenbezogenen Daten (vgl. Anhang 2, Tabellen 3 und 4). Bei Verwendung des bisherigen Umrechnungsverfahrens wäre die Diversionsraten 1998 gegenüber 1997 praktisch unverändert. Entsprechendes gilt dann, wenn die Zahl der zu freiheitsentziehenden Sanktionen Verurteilten bezogen wird auf die Zahl der (informell oder formell) Sanktionierten. Ab 1998 werden der Auswertung die personenbezogenen Daten der StA-Statistik zugrunde gelegt, lediglich für Schleswig-Holstein liegen nur die verfahrensbezogenen Ergebnisse aus 1997 vor, die, wie bisher, "umgerechnet" werden.
  2. Die Daten dieser beiden Statistiken werden zu verschiedenen Zeitpunkten erhoben, nämlich mit der jeweiligen Verfahrenserledigung. Bei Bezugnahmen - z.B. Anteil der Verurteilten an allen (informell und formell) Sanktionierten - kann sich deshalb eine - nicht vermeidbare - Verzerrung ergeben, weil die beiden Gruppen aus z.T. unterschiedlichen Grundgesamtheiten stammen.
2.2 Grenzen der Aussagemöglichkeiten aufgrund der Datenlage
  1. Staatsanwaltschafts-Statistik
  2. Strafverfolgungsstatistik

  3. Im Vergleich zur StA-Statistik sind die für die StVStat erhobenen Angaben für Zwecke der Beschreibung der Sanktionierungspraxis informativer und differenzierter. Erhoben und nachgewiesen werden Angaben zu Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit der Abgeurteilten bzw. Verurteilten, zu Art und (teilweise auch zu) Höhe der Sanktion sowie zu dem der Verurteilung zugrunde liegenden schwersten Straftatbestand. Allerdings bestehen auch hier einige bedeutsame Einschränkungen:
  4. Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen

  5. Die mit den informellen Erledigungsmöglichkeiten verbundenen Auflagen/Weisungen werden, soweit es sich um Einstellungsentscheidungen des Gerichts handelt, in der Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen erfasst, ausgenommen bei den (allerdings zahlenmässig geringen) Entscheidungen der Oberlandesgerichte in der Rechtsmittelinstanz. Grenzen der Aussagemöglichkeiten bestehen, auch insoweit weitgehend mit jenen der StA-Statistik vergleichbar, aufgrund der fehlenden Differenzierung nach Delikt, nach Alter und Geschlecht der Beschuldigten.
     
  6. Bewährungshilfestatistik

  7. Aus dem grossen Bereich der Strafvollstreckung wird lediglich die bedingte Freiheitsstrafe erfasst, und auch hiervon nur ein Ausschnitt, nämlich jener der Unterstellung unter einen hauptamtlichen Bewährungshelfer. Hinsichtlich der Vollstreckung der weit überwiegenden Zahl der Sanktionen, nämlich der ambulanten Sanktionen (Geldstrafe im allgemeinen Strafrecht; Erziehungsmassregeln, Verwarnung, Auflagen im Jugendstrafrecht), fehlen dagegen statistische Angaben. Entsprechendes gilt für die Vollstreckung von Massregeln der Besserung und Sicherung. Infolge des Fehlens von strafvollstreckungsstatistischen Informationen ist z.B. die Rate der eine Geldstrafe in Form einer Ersatzfreiheitsstrafe verbüssenden Personen nicht genau ermittelbar. Näherungsweise lässt sich diese Rate allerdings durch Gegenüberstellung der Zahl der zu Geldstrafe Verurteilten mit den zur Verbüssung einer Ersatzfreiheitsstrafe in die Strafvollzugsanstalt aufgenommenen Personen bestimmen. Wegen der unterschiedlichen Erfassungszeiträume von Strafverfolgungs- und Strafvollzugsstatistik ist eine exakte Bestimmung nicht möglich.
     
  8. Strafvollzugsstatistik
    5.1 Anordnung und Vollzug von Untersuchungshaft:
    Über die Zahl der Untersuchungshaftanordnungen, der Untersuchungsgefangenen und über die Dauer der Untersuchungshaft fehlen vollständige statistische Nachweise. Für die Strafverfolgungsstatistik werden zwar seit 1975 die Abgeurteilten mit Untersuchungshaft erfasst. Nicht erfasst ist hierbei die – mutmasslich kleine - Zahl von Untersuchungsgefangenen, die überhaupt nicht angeklagt wurden, d.h., es fehlen Nachweise über Untersuchungsgefangene, bei denen das Verfahren gem. §§ 170 II, 153 ff. StPO, § 45 JGG vor Eröffnung des Hauptverfahrens eingestellt wurde. Nicht erfasst sind ferner Haftanordnungen, die nach Rechtskraft der das Verfahren abschliessenden Entscheidung ergehen, also insbesondere Fälle des Sicherungshaftbefehls nach § 453c StPO.
    Die StVollz-Statistik informiert lediglich über die Zahl der am Stichtag (1.1. eines jeden Jahres) inhaftierten Untersuchungsgefangenen. Stichtagszahlen sind aber kein Mass für die Zahl inhaftierter Personen, sondern ein Mass für auf Personen bezogene Inhaftierungszeiten, d.h., sie sind eine Funktion der Zahl der Inhaftierten und der Haftdauer. Je kürzer die Inhaftierungszeit ist, desto geringer ist der Ausschnitt der am Stichtag erfassten Zahl der Inhaftierten. Deshalb ist die zum Stichtag erfasste Zahl der inhaftierten Untersuchungsgefangenen wesentlich niedriger als die Zahl der insgesamt in einem Jahr inhaftierten Untersuchungsgefangenen, was wiederum erklärt, weshalb die entsprechenden Zahlen von StVollz-Statistik und StVStat erheblich voneinander abweichen.

    5.2. Strafvollzug
    Über die Gesamtzahl der in einem Jahr Strafhaft verbüssenden Gefangenen informiert die Strafvollzugsstatistik nur unvollständig. Nachgewiesen werden zum einen demographische Daten der zum Stichtag – 31.3. – erfassten Gefangenen, zum anderen Bestands- und Bewegungsdaten, die, wie zuvor bereits erwähnt, kein brauchbares Mass für die Zahl inhaftierter Personen sind. Die Bewegungsdaten – Zugangs- bzw. Abgangszahlen – sind nicht aussagekräftig für eine Zählung von Personen, weil jede Verlegung von Anstalt zu Anstalt sowie Verlegungen innerhalb einer Anstalt gezählt werden. Aber auch die jeweils zum Ende eines jeden Monats ermittelten Bestandszahlen geben die Zahl der insgesamt Inhaftierten nicht korrekt wider, weil zum einen Gefangene mit einer Vollzugsdauer von unter 12 Monaten unterrepräsentiert sind, zum anderen weil Bestandszahlen „empfindlich“ sind für anstaltsorganisatorische und vollzugliche Massnahmen, wie sie etwa die sog. „Weihnachtsamnestien“ aber auch Lockerungen darstellen.


2.3 Grenzen der Aussagemöglichkeiten für Zeitreihenanalysen aufgrund (in zeitlicher oder regionaler Hinsicht) fehlender Daten

Die StA-Statistik wird erst seit 1981 auf Bundesebene veröffentlicht, erst seit dem Berichtsjahr 1989 liegt sie für sämtliche (alten) Bundesländer und erst seit 1995 auch für alle neuen Bundesländer vor. Diese zeitlichen und regionalen Beschränkungen begrenzen die Auswertungsmöglichkeiten, insbesondere hinsichtlich der informellen Sanktionierung. "Bundesergebnisse" der StA-Statistik für die Zeit zwischen 1981 und 1989 sind mit den Unsicherheiten von "Hochrechnungen" behaftet. Da Angaben fehlten für Berlin (1981-1984), Hessen (1981-1987) und Schleswig-Holstein (1981-1988), wurden für die folgende Auswertung die Daten über Einstellungen aus Opportunitäts-bzw. Subsidiaritätsgründen vom Verf. auf der Grundlage der Bevölkerungszahlen und entsprechend dem Durchschnittswert der anderen Länder geschätzt und so Zahlen für das Bundesgebiet "hochgerechnet".

Grenzen der Aussagemöglichkeiten ergeben sich des Weiteren daraus, dass sich die veröffentlichten Daten der StVStat auf die alten Bundesländer einschliesslich Berlin-West (seit 1995 einschliesslich Gesamtberlin) beschränken. Deshalb ist eine auf diese veröffentlichten Daten gestützte Beschreibung der Sanktionspraxis nur hinsichtlich der alten Bundesländer möglich.

Wegen der zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgenden Einbeziehung von Ost-Berlin in die StA-Statistik (1993) und in die StVStat (1995) ist für diese Jahre eine geringfügige Überschätzung der informellen Sanktionen unvermeidbar.

2.4 Folgerungen für die Zeitreihenanalyse

Trotz dieser nicht unerheblichen Einschränkung der Aussagemöglichkeiten im Detail besitzen die Rechtspflegestatistiken gegenüber Primärdatenerhebungen oder Aktenanalysen den unbestreitbaren Vorteil, dass sie es erlauben, die langfristige Entwicklung der Sanktionspraxis seit 1882 hinsichtlich aller Sanktionsarten (wenngleich nicht immer nach deren Inhalt bzw. Mass) und in regionaler Differenzierung zumindest in groben Zügen beschreiben zu können. Seit 1981 ist es ferner möglich, auch die sog. "informellen Sanktionen" von Staatsanwaltschaft und Gericht in ihren Grössenordnungen im zeitlichen Längsschnitt und im regionalen Querschnitt zu beschreiben und zu analysieren. Primärdatenerhebungen oder Aktenanalysen leiden demgegenüber unter dem regelmässig nicht ausräumbaren Nachteil der zeitlichen oder lokalen Beschränkung, die einer Verallgemeinerung der Befunde entgegenstehen.

3. Sanktionierungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland - räumlicher Bezug der Beschreibung

Wegen der regional begrenzten Verfügbarkeit der Ergebnisse insbesondere der StVStat beziehen sich die im Folgenden mitgeteilten Ergebnisse bis 1960 auf die alten Bundesländer (ohne Saarland und Berlin-West), ab 1961 auf die alten Bundesländer einschliesslich Berlin-West, ab 1995 auf die alten Bundesländer einschliesslich Gesamtberlin. Länderspezifische Auswertungen werden nur ausnahmsweise vorgenommen und dargestellt.


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zuletzt bearbeitet am 21.7.2003 [sanks01b.htm]