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PROGRAMM

GESCHÄFTSORDNUNG

 

 

Profil des Graduiertenkollegs:

Der Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 löste – neben anderen, weit gra­vierenderen Folgen – in Kreisen westlicher Intellektuellen eine bestürzte Nachdenklichkeit dar­über aus, ob man es mit der postmodernen Rede, die Realität habe sich in massenmedialer Simu­la­tion aufgelöst, nicht zu weit getrieben habe. Der Schock von 9/11 ließ „die konstruktivistischen Medie­theorien“ im Rückblick als „fahrlässiges Manöver“ einer Spaßgesellschaft erscheinen, und unter Sozialwissenschaftlern kam es zu einem „reawakening to the recalcitrance of facts“. Ungeachtet der Tatsache, dass man sich nicht erst durch die Zerstörung der New Yorker Bürotürme daran hätte erinnern lassen müssen, dass es reale Gewalt in der Welt gibt, bewirkte die Terrorattacke so etwas wie eine spontane Massenkonversion im Feld der Theorie, wobei den avancierten Theorierichtungen der Postmoderne, Konstruktivismus und Dekonstruktion, unterstellt wurde, als Handreichungen zum Wirklichkeitsverlust fungiert zu haben. Eine ähnliche Reaktion, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen, stellte sich nach dem Finanzcrash des Jahres 2008 ein. Hier waren es allerdings nicht die Vordenker der Postmoderne, die angeblich der Wirklichkeit den Boden unter den Füßen wegspekuliert hatten, sondern eine Gruppe von weltweit vernetzten Finanzmarktakteuren. Beiden Krisenmomenten folgte derselbe kulturelle Reflex: der Appell zu einem erneuerten Realismus, zu einer Rückbesinnung auf das unzweifelhaft Wirkliche, sowohl im kognitiven wie im normativ-moralischen Sinn.

Solche Justierungen des gesellschaftlichen Wirklichkeitssinnes werfen Licht auf einen allgemeineren Sachverhalt. Sie deuten darauf hin, dass sich die Moderne generell ihrer Wirklichkeit nicht recht sicher ist. Im Gegenteil, trotz des erreichten, historisch einmaligen Niveaus an Naturbeherrschung und technischer Realisationsmacht erzählt die Moderne in ihren kulturellen Selbstrepräsentationen immer wieder von sich als einer Epoche, die ihren Zugang zum Realen verloren hat.

Die Ungewissheit des Realen in der Moderne manifestiert sich auf unterschiedlichen Niveaus. Wenn plötzlich eintretende, zumal katastrophische Ereignisse realer wirken als alltägliche Beg­benheiten, die innerhalb kognitiver Routinen zu verarbeiten sind, so mag das einem generellen psychologischen Mechanismus entsprechen. Komplizierter verhält es sich mit dem Eindruck von Unwirklichkeit, der sich häufig einstellt, wenn moderne Gesellschaften der Komplexität und Abstraktheit ihrer Funktionsbedingungen innewerden. In bestimmten Umbruchperioden, wie sie durch die Epoche der Avantgarden und aktuell durch Folgen der digitalen Revolution markiert sind, führt dies zu einem grundstürzenden Wandel der kulturellen Apperzeption von Wirklichkeit. Als ästhetische Herausforderung ist das Reale aber in allen Etappen der Moderne präsent. Dabei wird es durch die tiefe strukturelle Paradoxie gekennzeichnet, zu zeichenhafter Darstellung zu drängen, sich jedoch niemals in solchen Darstellungen bannen zu lassen. So bildet es einen permanenten Unruheherd der gesellschaftlichen Semiose, der zugleich immer neue literarisch-künstlerische Gestaltungen stimuliert. Die konstitutive Nicht-Feststellbarkeit des Realen macht es überdies zu einem virulenten erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problem. Sie gibt nicht erst im Postmodernismus Anlass zu philosophischer Skepsis in Bezug auf die Frage, ob und wie von einem ‚eigentlich Wirklichen‘ jenseits der mentalen Prädispositionen des Menschen, außerhalb der Hülle ihrer Sprachlichkeit und Kultur die Rede sein kann – einer Frage, die sich bis auf die philosophische Grundlegung der Moderne durch Kant zurückführen und seither nicht mehr stillstellen lässt.

Im Curriculum der ersten Förderperiode standen erkenntniskritisch-ästhetische Dramatisierungen der Frage des Realen im Vordergrund, wie sie sich in kollektiv wirkmächtigen Metaphern des Einbruchs und der Überwältigung einerseits, des Entzugs und der Leere andererseits niederschlagen. Für die zweite Förderperiode soll die Plastizität der Kategorie des Realen der Ausgangsbefund sein, um noch stärker als bisher auf die praxeologische Dimension der Kollegthematik zu achten, auch und gerade mit Blick auf eher undramatische Gestaltungsweisen und phänomenologisch-lebensweltliche Prozesse. Auf diese Weise wird sich genauer bestimmen lassen, wann und in welchen Settings die Frage danach, was wirklich ist und wie dieses Wirkliche zur Artikulation gebracht werden kann, überhaupt krisenhaft-grundsätzliche Züge erhält. Zudem erhoffen wir uns weiteren Aufschluss darüber, wie in solchen konkreten ‚Arrangements‘ mit dem Realen epistemologische, wissen(schaft)skulturelle und literarisch-ästhetische Faktoren ineinander verschränkt sind.

Bewährt hat sich die Ansiedlung eines Graduiertenkollegs mit dieser thematischen Ausrichtung im Fachbereich Literaturwissenschaft, der in Konstanz traditionell das Spektrum zwischen den Fachphilologien und der Mikroanalyse von Texten einerseits, einer auf kulturtheoretische Fragestellungen hin angelegten Allgemeinen Literaturwissenschaft andererseits umgreift. Der Fachbereich ist durch vier Erstantragsteller (Germanistik, Anglistik/Amerikanistik und Slavistik) sowie neuerdings durch Kirsten Mahlke (Romanistik/Lateinamerikanistik) im Trägerkreis des Kollegs vertreten. Die beteiligten Literaturwissenschaftler bringen zusätzlich unterschiedliche thematische Schwerpunkte ein: Trauma und Gedächtnis (Aleida Assmann), Medienkulturen im (post)sowjetischen Raum (Jurij Murašov), Geschichte der Photographie (Bernd Stiegler), literarische und theatrale Praktiken (Juliane Vogel) und Erzähltheorie (Albrecht Koschorke). Einen weiteren Zuwachs hat das Kolleg von filmwissenschaftlicher Seite durch Ursula v. Keitz erhalten, die Spezialistin für den Dokumentarfilm ist. Bernhard Kleeberg vertritt weiterhin den Bereich der Wissenschaftsgeschichte und ihrer Modellbildungen – ein Bereich, der extern durch Arbeitsbeziehungen zum Zentrum ‚Geschichte des Wissens‘ der ETH sowie durch eine vereinbarte Kooperation mit Peter Geimer (Kollegforscher­gruppe Bild-Evidenz, FU Berlin) ergänzt wird. Von Seiten der Philosophie konnte nach einem Wechsel im Fach Dina Emundts (Wissenschaftstheorie, Philosophie der Sprache) gewonnen wer­den. Zudem wird weiterhin Dieter Thomä (St. Gallen) mitwirken und den Bereich der philosophischen Ästhetik betreuen. Wegen eines personellen Umbruchs im Fach ist die Konstanzer Soziologie in dieser Phase nicht im Trägerkreis vertreten; dieser Mangel wird aber kompensiert durch die Mitwirkung des Ethnologen Thomas Kirsch. Die Einrichtung des Faches Ethnologie in Konstanz gibt dem Graduiertenkolleg einen wichtigen neuen Akzent, insofern dessen Konzentration auf Phänomene der europäisch-westlichen Moderne nun in einen globalen Kontext gerückt und vor allem mit Blick auf divergente Sozialontologien relativiert werden kann.

Zu diesem engeren Betreuerkreis gesellen sich hochkarätige Kooperationspartner im Ausland. Mit dem IFK in Wien, das einen Themenschwerpunkt zum Problem der Evidenz hat, werden regelmäßige Veranstaltungen abgehalten. Das German Department der University of Chicago ist seit vielen Jahren eine Art Schwester­department der Konstanzer Germanistik mit vielfältigen Koope­ra­tio­nen auf allen Ebenen. Auch die Zusammenarbeit mit Yale wird weitergeführt. Neu sind Beziehungen zu Berkeley, die einen religionsgeschichtlichen Aspekt in die Kolleg-Agenda einbringen.

Der Kern des Qualifizierungskonzepts besteht demgemäß in wissenschaftlicher Internationalisierung auf höchstem Niveau. Die Kollegiaten werden wie bisher Gelegenheit zu Forschungsaufenthalten an den Partnerinstitutionen erhalten und ihrerseits Gäste von dort in ihren Kreis aufnehmen. Diese Verflechtungen werden dadurch verstärkt, dass die Mitglieder des Kollegs ausdrücklich zu Eigeninitiativen aller Art (Austausch, Workshops, Einladungen von Gast­wissenschaftlern) ermuntert werden, dadurch allerdings auch entsprechende Verbindlichkei­ten eingehen. So soll eine in Konstanz inzwischen äußerst erfolgreiche Praxis ‚gelebter Internationalität’ schon auf der Ebene von Nachwuchswissenschaftlern fortgesetzt werden. Dies alles findet in einer für den Bereich der Kulturwissenschaften in Deutschland fast einzigartigen institutionellen, durch ein hohes Maß an Interdisziplinarität geprägten Um­ge­bung statt. Das Exzellenzcluster ‚Kulturelle Grundlagen von Integration’, das Doktoranden­kolleg ‚Europa in der globalisierten Welt’, das aus dem stark international ausgerichteten M.A.-Studiengang ‚Kulturelle Grundlagen Europas’ hervorwuchs, sowie das aus der dritten Förderlinie finanzierte ‚Zukunftskolleg’ bilden ein dichtes und anregungsreiches Milieu junger Wissenschaftler. Die Kollegiaten profitieren von einer Vielzahl thematisch relevanter Veranstaltungen, aber vor allem von einer hohen Begegnungs- und Ideendichte, zumal alle diese Einrichtungen im selben Gebäudetrakt untergebracht sind.

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Klaus R. Scherpe/Thomas Weitin, Prospekt, in: dies. (Hg.), Eskalationen. Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik, Tübingen Basel 2003. S. X. – Yiannis Gabriel, The Narrative Veil: Truth and Untruths in Storytelling, in: ders. (Hg.), Myths, Stories, and Organizations. Premodern Narratives for Our Times, Oxford u.a. 2004, S. 17-31, dort S. 26. Dies nur als zwei Beispiele von vielen.