19.-20. Juni 2008

Prekäre Kollektive: Masse – Klasse – Volk

Workshop im Rahmen des Exzellenzclusters 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Tagungsraum Wessenberg, Zollernstr. 31, Hinterhaus
 

Prekäre Kollektive: Masse – Klasse – Volk
Einige hinführende Bemerkungen

Warum „Masse – Klasse – Volk“?
In theoretischen, politischen und literarischen Selbstbeobachtungen der Moderne nehmen die Begriffe Masse, Klasse und Volk eine zentrale Stellung ein. Sie stellen Figuren der Integration dar, die gegen jenen Desintegrationsprozess aufgeboten werden, als der die Moderne zugleich konstruiert wird. Die Konzeption des Workshops geht von der Hypothese aus, dass Masse, Klasse und Volk Begriffe sind, die sich in einen wesentlichen Sinn gegenseitig erläutern; jeder der Begriffe ist schon in seiner theoretischen Konstitution darauf angewiesen, sich auf mindestens einen der beiden andern Begriff zu beziehen oder sich von mindestens einem der anderen abzugrenzen. Die Begriffe Masse, Klasse und Volk finden ihre spezifische Kontur jeweils nur vor einem Hintergrund, der durch die anderen Begriffe bezeichnet wird.
Diese zunächst abstrakte Annahme kann nur historisch konkretisiert werden – und dies soll unter anderem im Workshop geschehen. Ein erster Blick in die Begriffsgeschichte von Masse, Klasse und Volk zeigt, dass alle drei Begriffe in der Französischen Revolution (oder deren Nachwehen) in Umlauf gebracht werden. Die Begriffe gehören damit einer historischen Konstellation an, in der „die Gesellschaft“ – ein anderes „prekäres Kollektiv“ – um ihre grundsätzlich Revolutionierbarkeit weiß; einer Konstellation, in der fortwährend die unhintergehbare Grundlosigkeit dessen, was man „die Gesellschaft“ nennen wird, verhandelt wird.
Zur Hinführung an die Begriffe Masse, Klasse und Volk und an ihre spezifische Konstellation soll hier, in einem Sprung, deren Begriffsgeschichten nicht vom Anfang, sondern von ihrem (vorläufigen, gerade aktuellen) Ende her beleuchtet werden. Antonio Negri eröffnet seine „ontologische Definition der Multitude“ mit der Behauptung, die Multitude – die „Menge“ als „Ensemble von Singularitäten“ – bezeichne jene „Realität, die übrig bleibt, sobald das Konzept ‚Volk’ seine Transzendenz verliert“. Die Moderne hatte, so Negri, in ihrer hegemonialen Tradition dem Immanenzbegriff der Multitude eine transzendente Versicherung unterschoben, die aus dem offenen Ensemble der Menge die geschlossene „Form“ des „Volkes“ erstehen ließ. Aus den Singularitäten aber, die das immanente Element der Multitude bilden, wurde – in analoger Bewegung – eine „Masse von Individuen“ gemacht, die ebenso unteilbar und unhintergehbar sein sollen wie der Souverän, der dem „Volk“ gegenüber- oder als der das „Volk“ auftritt. Gleichzeitig, so fährt Negri fort, sei die Multitude ein „Klassenbegriff“: sie sei durch Produktion und Ausbeutung charakterisiert. Aber auch die Qualifizierung der Multitude als Klasse bedarf einer Einschränkung (oder präziser: einer Entgrenzung). Denn die Multitude sei nicht identisch mit der Arbeiterklasse, deren Begriff in der Moderne die Produktion auf die industrielle Lohnarbeit verengt habe und die Ausbeutung nur als die des individuellen Arbeiters habe erscheinen lassen, nicht aber als Ausbeutung der Kooperation. Klasse (verstanden als Arbeiterklasse) fungiert in der Moderne, so wird deutlich, in ähnlicher Weise als Transzendenzbegriff wie Volk und Masse. Der produktiven Kooperation der Menge wird die Transzendenz der Arbeit, der individuellen Arbeit, unterschoben, um die geschlossene (und ausschließende) Form der (Arbeiter)Klasse erstehen zu lassen.
Volk, Masse und Klasse firmieren in Negris Konstruktion als das Außen dessen, was als Multitude heute in ungeschiedener „Gesamtheit“ in Erscheinung treten soll. Sie spalten vom „Leben“ der Multitude all das ab, was im Sinne einer gesellschaftlichen Formierung nutzbar gemacht werden kann. Sie führen Transzendenzen dort ein, wo es gälte, eine Immanenz zu denken (und ins Werk zu setzen), die sich in unbegrenzter Potentialität selbst genügt.
Was immer man von Negris Konstruktion halten mag – auch dies kann auf dem Workshop Gegenstand der Debatte sein –, sie kann in jeden Fall dazu dienen, die Ausgangshypothese des Workshops zu präzisieren: Mit Negri gehen wir davon aus, dass Masse, Klasse und Volk als Form-Begriffe gedacht werden müssen. Sie sind nirgends einfach da, sondern müssen „in Form gesetzt“ werden. Als Formen aber setzen sie gleichzeitig jeweils einen Hintergrund, ein Umfeld oder ein Milieu (voraus), das als formlos, als Unform oder Deformation gedacht wird: Masse, Klasse und Volk sind Formen – und operieren damit nach zwei Seiten hin. Anders als Negri aber gehen wir davon aus, dass die Spaltungen, die von den Transzendenzbegriffen Masse, Klasse und Volk bewirkt werden sollen, schon im Innern dieser Begriffe selbst am Werk sind. Masse, Klasse und Volk sind gleichzeitig Begriffe der Transzendenz und der Immanenz, sie sind Einheits- und Vielheitsbegriffe; als gespaltene tragen die Begriffe jeweils schon in sich ein Spiel von Formierung und Entgrenzung aus. Die Multitude arbeitet in Masse, Klasse und Volk – und alle drei Begriffe arbeiten formierend gegen diese Multitude(s), die sie in sich tragen.
Die These, dass Masse, Klasse und Volk nicht nur Spaltungen beschreiben und bewirken, sondern selbst als gespaltene zu konzipieren sind, ist nun nicht schon Ergebnis, sondern definiert erst das Problem. Denn über die strukturelle Homologie hinaus, die Masse, Klasse und Volk charakterisiert, sollen deren Differenzen bestimmt werden: Jedem Kollektiv seine eigenen Spaltungen...


Was ist „prekär“ an Masse – Klasse – Volk?
Masse, Klasse und Volk besitzen weder eine theoretisch konstruierbare Substanz, die in den Begriffen ausgedrückt würde, noch lässt sich ihnen jeweils eine eindeutig bestimmbare empirische Referenz zuweisen; die Begriffe sind aber auch nicht als rein dezisionistische politische Setzungen zu verstehen. Wann immer die Begriffe Masse, Klasse und Volk zum Einsatz kommen, bringen sie sowohl eine theoretische Konstruktion als auch eine empirische Referenz und eine politische Aktivierung ins Spiel.
Um zu verstehen, wie die Begriffe trotz dieser Widersprüchlichkeit oder Ambiguität ihre Funktionalität und Wirkmacht erhalten, schlagen wir vor – und hier liegt unser Einsatz als LiteraturwissenschaftlerInnen –, Masse, Klasse und Volk als Figuren zu begreifen. Schon in ihrer begrifflichen Konstitution sind Masse, Klasse und Volk auf figurative Verfahrensweisen verwiesen; diese ermöglichen es, das „sowohl – als auch“ zu prozessieren, das jeden der drei Leitbegriffe kennzeichnet.
Mit dem Begriff der Figur rückt die Ebene der Darstellung (oder Darstellbarkeit) in den Fokus der Aufmerksamkeit. Diese Ebene ist dabei nicht nur für ästhetische Entwürfe und theoretische Rekonstruktionen von Belang; die Frage der Darstellung war und ist auch in der politischen Geschichte von Masse, Klasse und Volk als Problem der Repräsentation virulent: Wer vertritt die Masse (die Klasse/das Volk)? Wer kann sie vertreten? Und: Muss sie überhaupt vertreten werden?
Prekär sind Masse, Klasse und Volk in dem Sinn, dass ihre Darstellbarkeit und Repräsentation nie als gesicherte vorausgesetzt werden kann, sondern in jedem Einsatz der Begriffe jeweils neu in Frage gestellt und zur Verhandlung gebracht wird. Wenn die Begriffe von Masse, Klasse und Volk in ihrer figurativen Verfasstheit ihre Funktionalität und Plausibilität einer – jeweils genau zu rekonstruierenden – Unschärfe und fortgesetzten Ambiguität verdanken, dann können sie diese aber auch nie ganz abschütteln. Jeder theoretische oder praktisch-politische Versuch, endlich die wahre Gestalt der Klasse (der Masse/des Volks) zu ermitteln und ins Werk zu setzen, muss mit dieser Schwierigkeit rechnen. Es gehört zur Geschichte von Masse, Klasse und Volk, dass die Begriffe dieser Konstellation wechselseitig dafür einstehen, die Prekarität der jeweils anderen auf den Punkt zu bringen und zu benennen: die Einheit und Reinheit der Klasse wird heimgesucht von der Masse, die sich nicht disziplinieren lässt; das Volk wird die Spaltung in Klassen nicht los, über die es sich erheben soll; die Masse schließlich, die als Grenzfigur die Möglichkeit einer Auflösung des Sozialen überhaupt zur Disposition stellt, wird totalitär formiert zur Darstellung des Volkes als Volksgemeinschaft.


 

Programm:

Donnerstag, 19. Juni

14.30    

Begrüßung und Einführung

Susanne Lüdemann (Konstanz/Chicago): Masse als soziale Grenzfigur

Maud Meyzaud (Konstanz): Amphibologie des Volkes
Patrick Eiden (Konstanz): Klassen-Spaltung: Klasse als Figur prekärer Einheit


16h       Pause


16.30   

Stephan Gregory (Weimar): Ordnung der Menschen. Über die Geburt der Klasse aus dem Geist der Klassifikatio

Iris Därmann (Lüneburg): Die Geburt der Gesellschaft aus dem Taumel der Ekstase. Zum rituellen Opfer bei Durkheim


18h      

Kaffeepause


18.30   

Diskussion „Der arme Spielmann“ (Moderation Eva Horn)


19.30    

Ende


 

Freitag, 20. Juni

10h

Sidonie Kellerer (Toulouse): Todesgemeinschaften I: Heidegger
Marcus Twellmann (Bonn): Todesgemeinschaften II: Nancy und Blanchot
 

11.30 Pause
 

12h

Clemens Pornschlegel (München): Avantgarde-Kommunen, Mönche, Anachoreten (Hugo Ball)
Jörn Etzold (Gießen): Das neue Proletariat. Zur Theorie der Situationisten
 

13.30 Pause
 

14h

Oliver Marchart (Luzern): Einsatz und Politisierung des Begriffs „Prekariat“
Abschlussdiskussion
 

15.30 Ende