Workshop

Literarische Grenzfiguren und soziale Transformationen

Veranstalter:
Thomas Bäumler/Benjamin Bühler (SFB 485 Norm und Symbol, Teilprojekt A 12: Grenzbedingungen des Sozialen)
Susanne Lüdemann/Ingrid Wurst (Universität Konstanz)
In Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären

Termin:
24. - 25. NOV 2006

Ort:
Universität Konstanz

Kontakt:
Thomas Bäumler

Benjamin Bühler

Ingrid Wurst
 

Exposé:

Spätestens seit dem 17. Jahrhundert wird die Kontingenz sozialer Ordnung in Europa als solche benennbar. Die soziale Wirklichkeit verliert den Charakter einer durch Gottesbürgschaft garantierten Realität und wird wahrgenommen im Hinblick auf ihr mögliches Anderssein. Denn wenn traditionelle Erklärungsmuster versagen, wird sowohl die herrschende Ordnung strittig als auch die Modelle und Normen, nach denen soziale Ordnung überhaupt gedacht werden kann und soll. Damit rücken Grenzbedingungen des Sozialen in den Blick, etablierte Leitunterscheidungen wie Vernunft/Wahnsinn, Recht/Unrecht, Kultur/Natur werden auf das von ihnen jeweils Ausgeschlossene hin transparent. Gilt hierbei die jeweils nicht-privilegierte Seite solcher Unterscheidungen als Bedrohung sozialer Ordnung, stellen literarische Texte doch immer wie¬der diese Seite, den Wahnsinn, die Masse, das Animalische oder das Chaos in ihr Zentrum – und thematisieren damit Szenarien der Gründung und Praktiken der Stabilisierung sozialer Ordnung wie Prozesse sozialer Transformationen.


Die historische Perspektive ist hierbei zu ergänzen um eine systematische Perspektive. So rückt hinsichtlich der Grenzbedingungen sozialer Ordnung im Anschluß an Theoretiker wie Foucault, Derrida, Butler, Lefort, Luhmann oder Agamben die Figur eines konstitutiven Ausschlusses in den Blick, anders gesagt: Jede Gründung sozialer Form bzw. Ordnung konstituiert sich durch bestimmte Ausschlußme¬chanismen. Dabei sind die Mechanismen der Exklusion und Inklusion keineswegs einfache Operationen, vielmehr erzeugen sie Paradoxien: Wenn sich soziale Normierung so vollzieht, daß sich die jeweils privilegierte Seite einer Unterscheidung (Vernunft, Recht, Ordnung usw.) konstituiert, indem sie ihr Anderes aus sich ausschließt, so entdeckt die Beobachtung solcher Operationen, daß es unmöglich ist, einen der Werte zu bezeichnen, ohne zugleich den anderen mitzubezeichnen. Jede der genannten Unterscheidungen ist inhärent paradox, weil die beiden Seiten, die sie bilden, sich in Form eines Chiasmus gegenseitig implizieren: Die jeweilige „Außenseite“ der Unterscheidung kehrt in Form einer einschließenden Ausschließung oder ausschließenden Einschließung auf der „Innenseite“ wieder. In den dadurch entstehenden „Zonen der Unentscheidbarkeit“ (Agamben) beginnt der Beobachter, zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung zu oszillieren, und es wird unmöglich, die Beobachtung als einfache Unterscheidung weiterzuführen.


Wenn Figuren wie das Tier, der Verbrecher oder die Masse zu Faszinationsgegenständen werden, rückt Literatur gerade diese Ausschlußmechanismen und das Ausgeschlossene in den Vordergrund, das soziale Ordnung konstituiert und vor dem sich die Gesellschaft durch Operationen der Normierung schützen zu müssen glaubt. Was auf der einen Seite als Bedrohung sozialer Ordnung überhaupt erscheint, wird auf der anderen Seite zur Projektionsfläche literarischer und theoretischer Transgressionsphantasien, die Gesellschaft progressiv oder regressiv auf ein Jenseits ihrer Ordnungs- und Normierungsdiskurse hin entwerfen. Damit leistet Literatur jedoch nicht nur eine Beobachtung und Reflexion von komplexen Ausschlußmechanismen, vielmehr ist das Offenhalten von „Zonen der Ununterscheidbarkeit“ notwendig, um den Zusammenbruch von Symbolsystemen zu vermeiden – Identität, Recht und Ordnung können nur bestehen, wenn sie Nicht-Identität, Unrecht und Unordnung nicht externalisieren, sondern als ihre internen Grenzbedingungen bewußt halten und mitthematisieren. Die literarischen Strategien der strukturierten Destrukturierung exklusiver Leitunterscheidungen tragen damit auch zu jenem Prozeß permanenter Horizontstiftung und Horizontveränderung bei, der die Voraussetzung für soziale Transformationen ist.


Unser workshop möchte vor diesem Hintergrund den spezifischen Beitrag von Literatur zum Denken sozialer Form und sozialer Transformation diskutieren – und zwar sowohl in Hinsicht auf literarische Weisen der Thematisie¬rung sozialer Form und sozialen Wandels als auch in Hinsicht darauf, daß literarische Privilegierungen des ausgeschlossenen ‚Anderen‘ eine Voraussetzung für soziale Transformationen darstellen. Inwieweit lei¬sten literarische Texte mit dieser Privilegierung eine Kritik an bzw. Reflexion von Prozessen sozialer Formgebung, inwieweit unterstützen sie sozialen Wandel, indem sie die Anfangsparadoxien entsprechender Leitunterscheidungen offen halten?


In dem workshop soll in diesem Sinne die spezifisch literarische Logik bestimmter Aus¬schlußfiguren zur Diskussion ge¬stellt werden. In einer ersten Sektion werden wir grundlegende theoretische Texte diskutieren, die beiden anderen Sektionen widmen sich zum einen singulären Grenzfiguren wie dem Narr, dem Verbrecher oder dem Irren, zum anderen kollektiven Grenzfiguren wie dem Volk, der Masse oder dem Schwarm.
 


Programm:

 

Freitag 24. November 2006

9.15-9.30 Uhr
Begrüßung und Einführung

1. Sektion: Theoretische Texte

9.30-10.15
Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion
(Referat: Matthias Schöning)

10.15-10.45 Kaffeepause

11.00-11.45
David E. Wellbery: Mediale Bedingungen der Kontingenzsemantik
Joseph Vogl: Medien-Werden. Galileis Fernrohr
(Referat: Eva Wiebel)


11.45-12.30
Marie Theres Fögen: Römische Rechtsgeschichten
Jacques Rancière: Die Namen der Geschichte
(Referat: Thomas Bäumler)

12.30-14.00 Mittagspause

14.00-14.45
Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
(Referat: Tina Heizmann)

14.45-15.30
Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft
(Referat: Maud Meyzaud)

15.30-16.00 Kaffeepause

2. Sektion: Singuläre Grenzfiguren

16.00-16.45
Der Narr:
Grimmelshausen: Simplicissimus / Lever: Zepter und Narrenkappe
(Referat: Benjamin Bühler)

16.45-17.30
Der Leser
Wilhelm Bölsche: Vorworte aus: Vom Bazillus zum Affenmenschen; Das Liebesleben in der Natur; Von Sonnen und Sonnenstäubchen
(Referat: Safia Azzouni)

17.30-18.15
Das Kind
Hildegard Hetzer: Seelische Hygiene, lebenstüchtige Kinder
(Referate: Miriam Gebhard)
 

Samstag 25. November 2006

9.15-10.00 Uhr
Der Verbrecher:
Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre
(Referat: Susanne Lüdemann)

10.00-10.45
Giftmischerinnen
Feuerbach, Darstellung merkwürdiger Verbrechen / Der neue Pitaval. Hg. J.E. Hitzig und W. Häring / Adelbert von Chamisso: Die Giftmischerin
(Referat: Michael Niehaus)

10.45-11.15 Kaffeepause

3. Sektion: Kollektive Grenzfiguren

11.15-12.00
Die Nation
Heinrich von Kleist: Die Hermannsschlacht
(Referat: Alexander Schmitz)

12.00-12.45
Der Strom
Karl Albert Scherner: Das Leben des Traums
(Referat: Ingrid Wurst)

12.45-13.45 Mittagspause

13.45-14.30
Kollektive Körper
Bachtin: Rabelais und seine Welt
Ryklin: Ekstasis des Terrors
(Referat: Natalia Borissova)

14.30-15.15
Terror/11.09.
Susan Neiman Das Böse Denken. Eine andere Geschichte der Philosophie
(Referat: Valentin Rauer)

15.15-15.45 Kaffeepause

15.45-16.30
Die Masse
Elias Canetti: Die Blendung
(Referat: Susanne Lüdemann)

16.30-17.15
Schwärme
Eugene Thacker: Networks, Swarms, Multitudes
Antonio Negri: Eine ontologische Definition der Multitude
(Referat: Eva Horn)

17.15-17.30
Abschlußdiskussion
 

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